Kapitel 2
Auf dem Gelände des ehemaligen Kühlhauses fand man immer brauchbare Dinge. Vorwiegend Metall. Das Kilo verkaufte Luis Reich für ein paar Cent an einen Schrotthändler, der keine Fragen stellte. Die Nähe zum Einkaufscenter Sachsenallee und einem Fast-Food-Restaurant machte die Lage der Ruine ideal für einen Obdachlosen wie ihn.
Es beruhigte ihn, dass die Leute ihren Hausrat und Abfall illegal auf dem verwahrlosten Grundstück entsorgten. Hausrat und Abfall stellten für Reich oftmals noch einen Wert dar. Besonders dann, wenn sich etwas Essbares oder kleine Schätze darunter befanden. Einmal hatte er in einem gelben Plastiksack sogar eine tadellos erhaltene CD von U2 aus dem Jahr 1987 gefunden. Seine Frau Emma hatte das Fundstück als wertlosen Trödel bezeichnet, woraufhin er geantwortet hatte: »Manche würden für dieses Album töten.«
Inzwischen bewahrte Emma das Juwel in einem Koffer auf, zusammen mit den wichtigsten Habseligkeiten des Ehepaars. Leider besaßen sie keinen CD-Spieler. Dafür hatte ihm bisher einfach das Finderglück gefehlt. Und wenn, woher hätten sie Strom nehmen sollen? Die Batterien, die er sich hin und wieder leistete, brauchte er für die Taschenlampe.
Der Mond versteckte sich hinter einer bizarren grauen Wolke. Das Himmelsschauspiel brachte keine Erkenntnis, ob das Wetter sich zum Besseren oder Schlechteren veränderte. Feiner Nieselregen traf Reich im Gesicht. Der Wind zerrte fordernd an seinem Polyester-Mantel. Obwohl er den Kragen nach oben geklappt hatte und einen Schal trug, zog es am Hals.
Geübt schlüpfte er durch ein Loch im Zaun. Die Stiefel fanden auf dem durchnässten Grund kaum Halt. Er klopfte sich den Schlamm von den Sohlen. Wie froh war er, als er die versiegelten Flächen des Grundstücks erreichte. Solide Pflastersteine! Material, das noch die nächsten Jahrzehnte überdauern sollte.
Zügig lief er an der Gebäudefront vorbei in den hinteren Teil des Geländes, wo er vor einer Woche bereits an einer Fensterfront ein paar der Eisenstreben abmontiert hatte. Beim letzten Beutezug war er gerade einmal auf drei Kilo Altmetall gekommen.
Er klopfte auf seine Umhängetasche, in der das Werkzeug steckte. Vier Schraubendreher, zwei Zangen, ein Hammer und ein Nageleisen. Das Nageleisen vorzugsweise, um sich vor Halbstarken zu wehren, die in ihm ein leichtes Opfer sahen.
Über Schuttberge und Unkraut hinweg huschte er hinter eine Gebäudeecke, wo ihn niemand bemerkte. Er musste aufpassen, wohin er trat. Neben unzähligem Unrat und losen Steinen gab es Senken und Gruben, wo man sich ein Bein brechen oder schlimmstenfalls tief stürzen konnte. Weil er hier viele Stunden verbracht hatte, kannte er das Grundstück wie seine Westentasche. Bei dem Gedanken schmunzelte er, denn eine Weste besaß er beileibe nicht.
Die Äste der noch kahlen Bäume knarrten. Der Frühlingssturm rüttelte am maroden Dach. Sobald der Wind kurzeitig abflachte, herrschte eine unheimliche Stille an dem verlassenen Ort. Er schaltete die Taschenlampe ein und dimmte den Strahl auf minimale Stärke. Gerade als er eine der Zangen aus der Tasche nehmen wollte, hörte er den Jammerlaut eines Tieres. Zuerst dachte er, dass er dem Windgeheul auf dem Leim gegangen war, aber dann vernahm er das Rufen erneut.
Es klang wie das bitterliche Miauen einer Katze. Und Katzen gab es hier weiß Gott genügend. Mehr als einmal hatte er sich vor einem der Tiere erschreckt.
Kurzzeitig verstummten die Laute, um darauf heftiger einzusetzen. Nein, es waren nicht einfach Laute, es klang wie ein Wimmern. Er ließ die Zange, wo sie war, strich über seine Tasche und packte die Taschenlampe fester. Dann folgte er den Rufen.
Fünfzehn Schritte.
Ein echoartiges Weinen drang aus einem Schacht, dessen oberer Teil einen halben Meter senkrecht aus der Erde ragte. Reich zielte mit dem Lichtkegel darauf. Eine Eisenplatte verdeckte die Öffnung. Er zögerte, dann trat er näher und rief leise: »Miez, miez.«
Das Weinen brach ab. Er klemmte die Lampe zwischen die Beine und wuchtete die Metallplatte beiseite. Anschließend leuchtete er in den Schacht. Nichts. In etwa vier Meter Tiefe schimmerte der Boden feucht. Schlamm und Unrat.
»Miez, miez«, versuchte er es erneut.
Keine Antwort.
Gerade als er sich abwenden wollte, meinte er, ein Gesicht wahrgenommen zu haben. Er erschrak so heftig, dass er fast ausrutschte.
»Großer Gott!«
Um auf Nummer sicher zu gehen, leuchtete er abermals hinein. Tatsächlich! Im Halbdunkel erkannte er das Gesicht eines Kindes. Vermutlich eines Mädchens von sechs bis neun Jahren. Es hockte zitternd in dem Schacht.
»Geht es dir gut?« Sogleich bereute er die dumme Frage.
Ratlos griff er sich an den Kopf. Er musste Hilfe holen. Seine Schultern waren zu breit, um in den Schacht klettern zu können. Und selbst wenn, fehlten ihm die Mittel, um hinabzusteigen und wieder hinaufzukommen. Die Feuerwehr hatte die notwendige Technik.
Leider besaß er kein Handy.
»Hilfe!«, rief er in seiner Verzweiflung. Und um das Kind zu beruhigen, sagte er hinterher: »Hab keine Angst! Ich hole meine Frau, dann retten wir dich.«
Das Kind antwortete nicht, sah vielmehr mit weit aufgerissenen Augen ins Licht.
»Bin sofort zurück!«
Kopflos stürzte er davon. Er musste zur Straße, vielleicht hatte er Glück und er traf jemanden mit einem Mobiltelefon. Fluchend und wie benebelt rannte er über das Grundstück, vorbei am alten Kühlhausgebäude. Der Taschenlampenstrahl zappelte unkontrolliert über Schutt- und Mauerreste.
Auf einmal schälte sich aus der Dunkelheit eine Gestalt. Fast wäre Reich mit dem Mann zusammengerannt. Stumm bewegte Reich seine Lippen. Aus seiner Kehle drang kein Laut.
»Ich habe Sie rufen gehört«, sagte der Mann.
Überfordert von der Situation, stammelte Reich: »Da hinten ist ein Kind in einem Schacht.«
»Ein Kind?«, fragte der Unbekannte.
»Ja, wir müssen Hilfe holen!« Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Reich, woher der Mann so plötzlich aufgetaucht war. Schließlich besann er sich. »Haben Sie ein Handy einstecken?«
Der Mann nickte schwach und kramte mit einer Hand in seiner Jackentasche. »Wo ist die Stelle? Zeigen Sie sie mir.«
Reich winkte, damit der Mann ihm folgte. Gemeinsam rannten sie zurück zu der Stelle, wo der Schacht an die Oberfläche ragte.
»Hier drin!« Reich beugte sich über die Schachtöffnung. Mit dem Taschenlampenstrahl suchte er das Kind.
Es war fort.
Unvermittelt raubte ihm ein heftiger Stich in der Nierengegend die Luft. Er hörte den Schrei aus seiner eigenen Kehle.
Das Letzte, woran er dachte, war eine Zeile aus dem U2-Lied I Still Haven’t Found What I’m Looking For.