Kapitel 67
Der Mann, den eine Reihe Menschen unter dem Namen Lunov, manche unter dem Namen Anton Below und wieder einige unter einem völlig anderen Namen kannten, wischte den Schnee von den fünf Grabsteinen. Das Gewehr hielt er geladen in der Armbeuge. In den letzten Tagen hatte sich das fortschreitende Alter deutlicher als sonst bemerkbar gemacht. Während der Reise nach Russland hatte er öfter eine Pause machen müssen, nicht nur, um die Blase zu entleeren, sondern um die verletzten Unterarme zu versorgen und die Krämpfe aus den Waden zu schütteln. Außerdem hatte das Geschaukel des Lasters seinen Magen kräftig durcheinandergebracht.
Viehtransporte, hatte auf den gefälschten Papieren gestanden.
Welch sinnbildhafte Umschreibung, dachte sich der Mann, als er den nackten Brandner und den ebenso entblößten Brecht beobachtete.
Fröstelnd und wie Bettler standen die beiden einstigen Unternehmer vor den Gräbern. Der Mann hatte sie wie Vieh hergetrieben. Er vermied es, den Begriff Beute zu benutzen. Für sein Vaterland hatte er Menschen umgebracht, aber niemals auf so verachtenswerte Weise. Und niemals Kinder.
Heute beendete er den letzten Auftrag für seine Regierung …
Auf den fünften Grabstein klopfte er mit den Fingerknöcheln, als könnte er dadurch den Geist von Jegor Tarassow wecken, dessen Gebeine unter der gefrorenen Erde im Niemandsland von Oblast Wologda ruhten.
»Es hat ein wenig länger gedauert«, flüsterte der Mann in Richtung des Grabes. »Trotzdem habe ich mein Versprechen gehalten: Hier ist das Fell des Weißen Wolfes. Deine Familie wurde gerächt.«
Keiner der Tarassows konnte antworten. Lediglich der Wind heulte, wie er es seit jeher tat. Schwächer als sonst. Der Weiße Wolf hatte seinen Schrecken verloren. Die Menschen der Region würden Geschichten erzählen. Aber fortan würden es nur noch Legenden sein.
Der Telefonanschluss zu S65 war für immer abgeschaltet. Dafür hatte der Mann gesorgt. Er hatte die Gruppe aufgespürt und alle Mitglieder umgebracht. Zukünftig würde niemand mehr minderbegüterte Familien überfallen, verschleppen und bei einer perversen Jagd töten.
Zufrieden mit sich stapfte er auf die zwei zitternden Männer zu. Aus Brandners Augen sprühte ihm Hass entgegen und aus denen von Brecht so etwas wie Reue. Beide wussten, vor wessen Gräbern sie da standen.
Er trat hinter sie und bohrte ihnen mit dem Gewehrlauf in die Rücken. »Es reicht, wenn ihr euch hinkniet. Eure Entschuldigungen dürft ihr euch sparen, sie sind für mich wertlos.«
Die beiden Angesprochenen reagierten nicht.
Der Mann nickte zu sich selbst, weil seine gefühllose Ader mit Widerstand gerechnet hatte. »Oh, ich weiß, dass es schwer ist. Keine Sorge, die Nadeln entferne ich später aus euren Hoden.« Er holte aus und rammte Brandner den Gewehrknauf gegen die Wirbelsäule. Keuchend sackte der Getroffene zusammen, wo er winselnd den Schnee küsste. Sofort ließ sich Brecht fallen. Die Nadeln, die seine Eingeweide durchbohrten, beschworen Gewimmer herauf.
Der Mann hauchte warmen Atem in die eigenen Hände, klatschte und rieb sie. »Nun denn! Zählen wir gemeinsam bis drei?«
Damit legte er das Gewehr an. Das Echo von zwei Gewehrschüssen verklang über den Hügeln. Ein alter Wolf heulte. Die Natur nahm sich, was sie wollte. Der Mann hatte sein Versprechen eingelöst und wurde nie wieder gesehen. Die Familie Tarassow blieb auf ewig vereint.
In Deutschland erwachte Donner von einem bösen Traum.