Kapitel 46
Ungeduldig lief Kolka auf dem KPI-Flur hin und her. Zu gerne würde sie wissen, was sich in dem verschlossenen Vernehmungszimmer abspielte. Kurzzeitig hatte sie das Ohr an die Tür gelehnt, aber mehr als das Fluchen des LKA-Beamten hatte sie nicht vernommen.
Seltsam. Sonst war es immer Erik, der lautstark lospolterte. In diesem Fall schien man ihn unter Kontrolle zu haben.
Erik und Gabriel Rammler in einem Raum!
Verdammt, Erik, die schmeißen dich raus! Daran besteht kein Zweifel. Aus der Sache könnte dir nicht einmal der Leumund von Jesus helfen.
Obwohl sie versucht hatte, Erik zu vergessen, bedauerte sie ihn. In der Tiefe seines Herzens wollte er alles richtig machen, aber er griff ständig zu den falschen Mitteln. Den einsamen Wolf, der seinen Weg abseits von Normen und Regeln suchte, gab es nur in Geschichten.
Genervt von der Warterei schaute sie auf ihr Handgelenk. Auf der Uhr las sie 05:08 Uhr. Vor zwei Stunden hatte Stark sie aus den Federn geklingelt.
Diesen Beruf bezahlt man mit Lebenszeit. Jede Minute, die ich früher als sonst aufstehen muss, zieht mir der Sensenmann am Ende von meiner Lebensuhr ab.
In den Räumen der Soko liefen die Telefone heiß. Dezernatsleiter Totner hatte sich vergeblich beim Leitungsdienst und der Polizeipräsidentin beschwert und dagegen gewehrt, dass das LKA und das BKA Donner zuerst befragen durften. Die Entscheidung hatte der Bereitschaftsdienst vom Staatsministerium getroffen. Offenkundig besaßen die Typen, die Donner gerade in die Mangel nahmen, die einflussreicheren Fürsprecher.
Nach fast einer Stunde Wartezeit ging die Tür auf.
Zu ihrer Verwunderung war es Rammler, der zuerst heraustrat. Schweißgeruch, gefolgt von gereizter Stille, wehten mit ihm aus dem Zimmer. Im Kontrast dazu machte sein Auftreten den Eindruck, als wäre er von ihrem Erscheinen kaum überrascht. Postwendend fasste er sie am Arm und zog sie beiseite. Unerwartet grob. Als wäre sie sein Eigentum.
»Wir müssen reden.«
Das war alles. Diese drei Worte reichten, damit sie sich willenlos abführen ließ. Selbst um diese Uhrzeit wirkte der Mann wie einem Jungbrunnen entsprungen. Der Anzug saß straff über den Schultern und knitterfrei am Rücken. Trotzdem schaute er deprimiert. Zumindest glaubte sie etwas in seinen blauen Augen zu entdecken, das nach Hilfe schrie.
»Wohin gehen wir?«
»Frühstücken.«
»Jetzt? Meine Leute …«
»Ihre Leute kommen gut ohne Ihre Hilfe klar.«
Sie riss sich los. »Erst will ich mit Erik sprechen!«
»Hören Sie auf, sich wie die Schutzgöttin persönlich zu verhalten.« Etwas Zorniges funkelte plötzlich in seinen Augen. Mit ausgestrecktem Zeigefinger fuchtelte er Richtung Zimmertür. »Der Typ da drin ist überhaupt nicht fähig zu einer Beziehung!«
»Komischerweise hat er mich ins Bett gekriegt.«
»Ich muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass Sie das nicht befriedigt.«
Sie trat einen Schritt zurück, weil sie dieses Thema nicht weiterführen wollte. Anscheinend dachte er genauso. Er seufzte schwer und rieb sich die Augen. Offenbar gingen die Überstunden doch nicht so spurlos an dem Kerl vorüber, wie er tat. Den wahren Zustand überspielte er mit einem infernalischen Schleier des Euphorikums.
»Okay, was nehmen Sie?«, fragte sie frei heraus.
»Was?«
Sie verschränkte die Arme. »Kommen Sie schon, ich war mal fast mit einem Junkie verheiratet. Von ihm ist mir ein fünfzehnjähriges Andenken geblieben. Also, was werfen Sie ein?«
Er fasste sich an die Nase. »Ich weiß wirklich nicht …«
»Koks? Meth? Speed? Reden Sie frei, ich weiß, wie man drauf ist, wenn man genug davon gezogen hat!«
»Falls Sie denken, ich würde mich auf ein solch lächerliches Gespräch einlassen, haben Sie sich geirrt. Und ich habe mich in Ihnen geirrt. Dann sind Sie mir nicht mehr von Nutzen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich versuche Erik Donner zu helfen, aber das schaffe ich nur mit Ihrer Unterstützung. Also vertrauen Sie mir?«
»Höchstens so weit, wie ich Sie werfen kann! Ich erkenne einen Drogenjunkie, wenn er vor mir steht. In Ihnen sehe ich einen schleimigen, kleinen Wichtigtuer, der mit seinem BKA-Ausweis herumwedelt und denkt, die Welt kreise um ihn!«
Rammler nickte enttäuscht und ging zwei Schritte rückwärts. »Das akzeptiere ich. Wenn Sie gesehen hätten, was ich in meiner Laufbahn alles erlebt habe, würden Sie mich nicht verurteilen.«
Kolka überlegte, wie sie parieren könnte.
In dem Moment betrat Erik den Flur.
»Anne!«
So inbrünstig, wie er ihren Namen betonte, fühlte sie sich augenblicklich zu ihm hingezogen. Krumm in dem alten Mantel stehend, sah er irgendwie verletzlich aus. Sie verspürte den Drang, das Monster, für das ihn alle hielten, beschützen zu müssen. Eingepfercht zwischen beiden Männern versagten ihr jedoch die Füße den Dienst. Rammler hatte einen Wesenszug an sich, der ihr gefiel. Eine gewisse Anziehung konnte sie ihm unmöglich absprechen. Er verströmte ein verführerisches Fluidum, das sie einschüchterte und gleichzeitig betörte. Seine Nähe barg eine ähnliche Gefahr wie die von Erik. Am Ende verfiel sie immer Typen, die ein Geheimnis hüteten – denen, die sich den Regeln widersetzten.
»Warum stehst du bei ihm?«, fragte Erik und kam auf sie zu.
»Bleib, wo du bist!«, sagte sie entschieden.
Er gehorchte wie eine Marionette, deren Fäden sie in der Hand hielt.
»Sie finden mich im Bahnhofscafé«, unterbrach Rammler und ging.
»Warten Sie!«, rief Kolka und eilte ihm nach.
»Lauf ihm nicht hinterher! Der Typ verarscht dich bloß.«
Eriks Appell klang jämmerlich. Sie hörte ihm nicht mehr zu. Letzte Nacht hätte sie das getan, aber nicht heute Morgen.
»Was können Sie mir an Informationen zu den Entführungsfällen geben?«
Rammler wartete, wobei er sich die eigene Wange streichelte. Erst nach einiger Zeit des Anstarrens sagte er: »Ich würde sagen, ich bezahle den Kaffee.«