Kapitel 61
»Bereit?«, fragte Igor.
Nein! Donner war keinesfalls bereit dafür. Doch was konnte er jetzt noch tun?
Während von Belows Lippen der Speichel in dicken Fäden tropfte, schloss Donner die Augen und begann zu beten.
Gott, wenn du irgendwo da oben bist, dann schick Jesus mit einer Schrottflinte! Verdammt, rette meinen Arsch!
Plötzlich ließ der Druck auf seinen Körper nach. Hastige Schuhabsätze hallten im Raum. Donner spürte, wie sich Igors Hand ruckartig von seinem Gesäß löste und stattdessen der Russe anfing, in seiner Muttersprache zu fluchen. Einer der Helfer schrie erstaunt.
Vier Schüsse folgten in extrem schneller Abfolge. Ein Schalldämpfer unterdrückte den Knall. Igor brach als Erster zusammen. Zwei Sekunden lang teilten seine Helfer das gleiche Schicksal. Dumpf fielen die getroffenen Körper zu Boden. Reglos blieben sie liegen. Igor jammerte als Einziger. Das Schwein hatte überlebt. Wenn auch verletzt.
Befreit von den Griffen fuhr Donner herum. Seine Nacktheit vergaß er, es zählte nur der Mann, der mit ausdrucksloser Miene im Türrahmen wartete und die Pistole auf Donners Kopf richtete.
Donners Finger bogen sich um die Tischkante. Er erwartete, dass sich jeden Augenblick ein fünfter Schuss löste und ihm wie den drei Toten ein drittes Auge verpasste. Er hatte den Typen, der nun vor ihm stand, unterschätzt. Mehr verzweifelt als mutig sagte er: »Ich wusste die ganze Zeit, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt.«
Zu Donners Verwunderung nahm Rammler die Pistole runter. Der Kerl machte zwei schnelle Schritte auf ihn zu, wechselte dann aber die Richtung, um Igor unvermittelt einen brachialen Fausthieb gegen das Kinn zu versetzen. Der Bär brach auf der Stelle zusammen und keuchte laut. Er hielt sich das Knie noch fester, welches ihm die Kugel zertrümmert hatte.
»Eine unnütze Erkenntnis«, antwortete Rammler. »Selbst der größte Dummkopf bemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt.«
»Wer sind Sie, James Bond?« Donner beobachtete, wie der BKA-Mann ein paar mitgebrachte Bänder ausrollte. Als hätte er die Szene einstudiert, testete Rammler ein letztes Mal die Reißfestigkeit der Stricke und fesselte anschließend Igor, wobei er dessen Mund zuerst mit Klebeband versiegelte. Die Flüche des Russen erstarben und machten wildem Genuschel Platz.
»James Bond darf mir gern einen Wodka-Martini bringen. Geschüttelt oder gerührt, ist mir egal.«
Ich schüttle und rühre dich auch gleich.
»Worauf warten Sie?«, fragte Rammler, als er abschließend Igors Fußgelenke mit einem Strick umwickelte. »Wollen Sie sich nicht anziehen?« Er putzte sich die Hände ab und stierte auf Donners Penis.
Da staunst du, was? Dafür hast du ja ne hübsche Knarre.
Donner identifizierte die Waffe als Glock 17. Jedenfalls war es nicht das Standardmodell des BKA aus dem Hause SIG Sauer.
Während Rammlers Blick ihn von oben bis unten studierte, weigerte sich Donner, seine Männlichkeit zu bedecken. »Erst will ich wissen, was hier los ist!«
Rammler breitete die Arme aus. »Sie geben ja doch keine Ruhe, dabei dachte ich, Sie wären endlich dahinter gekommen.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf Below, der langsam wieder klarer dreinschaute. Anscheinend hatten ihn die Schüsse ein Stück zur Besinnung gebracht. »Sie und Ihre neugierige Kollegin Kolka haben mich auf die Spur eines internationalen Killers geführt: Anton Below! Oder sollte ich Sie lieber mit Genosse Lunov ansprechen?« Er wandte sich an Below, der eine närrisch-böse Grimasse schnitt. Rammler konterte, indem er sich seinen Maßanzug glatt strich, als freute er sich auf das Wiedersehen mit einem alten Schulkameraden.
Es schien, als versuchte Rammler, die gefährliche Situation zu überspielen. Drei Menschen binnen Sekunden zu erschießen, konnte ihn unmöglich kaltlassen. Selbst Donner würde Zeit brauchen, um das Geschehene zu verarbeiten.
Rammler war und blieb ein Blender.
Trotzdem sprach der BKA-Mann beneidenswert relaxt weiter. »Außerdem haben Sie uns Igor geliefert, eine Untergrundgröße, wie man sie nur selten zu fassen bekommt. Jackpot nenne ich das. Der Präsident des LKA wird ein fettes Entschuldigungsschreiben für Sie aufsetzen müssen.«
Donner drehte Rammler zu sich, um ihm frontal in die Augen blicken zu können. »Diese Erklärung ist mir zu billig. Dafür bin ich zu lange dabei. Hier stimmt doch irgendwas nicht. Erst reden Sie mir ein, ich hätte Halluzinationen, dann lassen Sie mich ins offene Messer laufen, direkt in die Arme von Igor und seinen Schlägern, und jetzt wollen Sie mir einen Orden verkaufen? Verschaukeln können Sie Ihre Groupies! Ich fühle mich von Ihnen benutzt.«
»Ja, ich habe Sie benutzt – ohne den Hauch eines schlechten Gewissens.«
»Sie …!«
»Ach, hören Sie auf! Wenn Gott zu Ihnen gesagt hätte, Sie sollen nicht vom Baum der Erkenntnis essen, wären Sie noch am selben Abend mit ordentlichen Bauchschmerzen aus dem Paradies gekickt worden. Sie sind doch gar nicht fähig, ein Verbot zu befolgen!«
Diesen Vorwurf schluckte Donner hinunter und forderte im Gegenzug: »Ich will alles wissen!«
»Die Einzelheiten erkläre ich Ihnen, wenn Sie mir helfen, die beiden zu meinem Wagen zu bringen. Allein schaffe ich es nicht.«
»Wer ist da draußen? Raus mit der Sprache!«
Rammler strich sich seitlich am Haar entlang und lächelte. »Na gut, einem nackten Mann möchte ich ungern einen Wunsch abschlagen. Aber eigentlich dachte ich, Sie wüssten die Antwort auf diese Frage bereits.«
In Rammlers geröteten Augen versuchte Donner zu erkennen, ob der BKA-Mann ihn erneut reinlegen wollte. Schließlich nahm er es vorweg: »Dort sind Klemens Brecht und Felix Brandner, habe ich recht?«
»Klemens Brecht ist längst tot.«
»Und Felix Brandner?«
Darauf antwortete Rammler nicht, sondern verhärtete die Gesichtsmuskeln.
»Wen jagt er?«
»Zwei Mädchen.«
Donner wirbelte herum. Die Antwort hatte Below gegeben.
»Es sind die Mädchen seines einstigen Partners«, fuhr Below fort. »Von jenem Mann, dessen Leiche mittlerweile im Pfandhaus liegt.«
Lilly und Emma!
Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Brandner hat sich an seinem Geschäftspartner und allen anderen gerächt – wegen eines Seitensprungs! Und anscheinend sind nur noch die Mädchen übrig.
Während Donner diese Erkenntnis verdaute, trat Rammler an ihm vorbei und beugte sich über den Tisch.
»So, alter Mann, nun zu Ihnen. Geben Sie mir Ihre Hände!«
Zitternd und mit einem müden Stöhnen gelang es Below, beide Mittelfinger zu strecken.
»Fein, mit Griffen geht es besser.«
»Nein, tun Sie das nicht!«, flehte Below. »Es wird höllisch wehtun!«
»Sie sind ein böser Mann, Sie haben es verdient!« Ohne mit der Wimper zu zucken, umkrallte Rammler die blutverschmierten Finger. Die Knöchel knackten dabei.
Donner wollte das nicht mit ansehen. Sein Blick schweifte vom zornig blickenden Igor zu den drei Toten. Mit dem Auge maß er deren Kleidergrößen und entschied sich, die Jacke und die Hose von Pavel zu nehmen. Leicht widerstrebend löste er die Gürtelschnalle, dann riss er die Jackenärmel von den leblosen Armen.
Unterdessen schrie Below.
Mitten in den Schrei hinein drang ein Knall, der die Gegend erzittern ließ. Reflexartig duckte sich Donner, doch der Lärm kam von außen.
»Anne!«, rief er und kroch in die Jacke. Er lauschte dem Echo des Schusses. Doch dessen Wucht stammte niemals von Annes P7. Jemand hatte ein Großkaliber abgefeuert.
Umständlich streifte Donner die fremde Hose über und schlüpfte in seine Schuhe.
»Ich muss zu ihr!«
»Nein, warten Sie!«, rief Rammler. »Sie können mich nicht mit den beiden allein lassen!«
»Sie finden bestimmt eine Lösung. Denken Sie nach: Was würde James Bond an Ihrer Stelle tun?«
Damit ließ er ihn stehen. Die Todesangst trieb ihn fort. Noch eine Frau zu verlieren, würde er nicht ertragen.