Kapitel 59
Damals (Sechs Jahre zuvor)
Der, den einige Lunov nannten, wusste, dass er versuchte, einen sterbenskranken Mann zu retten. Der Fluss hatte seinen Tribut gefordert. Jeden Augenblick würde die Kälte Jegor Tarassow besinnungslos machen. Zitternd und brabbelnd hockte der Frierende auf dem Beifahrersitz, ein Bein angewinkelt, das andere wie erfroren in den Fußraum gestreckt. Die tiefblaue Färbung der Zehen verriet Lunov, dass es schlecht um Tarassow stand. Selbst die Wolldecke über dem nackten Körper des Familienvaters und die Heizung im Wagen konnten den Schüttelfrost nicht austreiben.
Sicherheitshalber prüfte Lunov den Regler der Heizungsanlage, ob sich noch ein halber Grad herausholen ließ. Keine Reserven. Der Schalter für die Temperatur stand bereits am Anschlag.
Seit einer gefühlten Ewigkeit fuhren sie über die schneebedeckte Ebene. Im letzten Sonnenlicht glänzte die Oberfläche wie Zuckerguss. Das Panorama mit seinen göttergleichen Bäumen und den daran hängenden armstarken glitzernden Eiszapfen täuschte über das blutige Drama hinweg, welches hinter ihnen lag.
Lunov gab Gas, der Wagen schlingerte, ehe er sich fing. Der Motor trieb die Räder durch die verharschte Schneedecke. Es war ein gutes Fahrzeug. Hier in Russland nannte man es Patriot. Im Export hatte man ihm dämliche Modenamen gegeben.
Bei jedem Schaltvorgang lobte Lunov das Fünf-Gang-Getriebe. Dass der Motor Toyota-Technik enthielt, ignorierte er. Hauptsache, der Antrieb lief. Und das tat er tadellos. Von Tarassows Herz konnte man das nicht behaupten.
Lunov legte die Hand an die Stirn des kranken Mannes und verfluchte das Schicksal. Irgendein einfältiges russisches Sprichwort besagt, dass sich das Schicksal letztlich immer auf die Seite des Mächtigsten schlug. Wo er selbst stand, wusste er nicht. Er entschloss sich, nicht auf einen Wink der Fügung zu warten, sondern weiterhin stur den Auftrag zu erfüllen.
»Ich kann dir nicht mehr helfen«, redete er laut auf Tarassow ein. »Aber ich kann dafür sorgen, dass man es den Männern, die deiner Familie das angetan haben, mit gleicher Münze zurückzahlt. Dazu brauche ich deine Hilfe.«
»Hilfe …«, brabbelte Tarassow, als wäre er längst nicht mehr Herr seiner Sinne.
»Jaja …« Lunov verschwieg ihm, dass bis zur Unterkunft mehr als zwei Stunden Fahrzeit blieben. Und dort wartete nur ein karges Zelt. Das nächste Krankenhaus lag viele Kilometer in südlicher Richtung. Nicht mal einen Wundheiler gab es in der Gegend. Dort, wo beide hinfuhren, warteten nur ein Notbett, ein Campingkocher und ein Radio mit gebrochener Antenne. »Ich habe Verbandszeug und Schmerzmittel. Du musst noch eine kleine Weile durchhalten. Kennst du Namen?«
Tarassow schwenkte den Kopf wie im Fieberwahn hin und her.
»Erzähl mir, was du weißt, jedes Detail. Um den Rest kümmere ich mich.«
»Deutsche … Zwei Deutsche!«
»Sehr gut.«
»Nagelneue Gewehre. Erkenne gutes Gewehr … jage selbst.«
Dazu fiel Lunov ein Witz ein, den er sich verkniff. Er wollte einem Sterbenden nicht die letzte Ehre rauben. Vor allem nicht einem Sterbenden, der zugesehen hatte, als man seine Familie wie Vieh niederstreckte.
»Zeichen auf den Gewehren.« Mit zittrigen Fingern malte Tarassow sie in die Luft. Sie ergaben die deutschen Buchstaben C und X.
Lunov prägte sie sich ein. Später würde er sie als die Initialen von CORWEX entschlüsseln.
»Und weiter?«
Daraufhin – mit schwerer, sterbender Zunge – gab Tarassow alles preis, was er wusste. Er beschrieb jeden einzelnen Mann so genau, wie er es konnte. Und Lunov merkte sich jedes Detail, ohne einmal Stift und Papier zu benutzen. Er würde die Informationen die nächsten sechs Jahre mit sich herumtragen. Abgespeichert wie auf einer Festplatte – oder besser einem Mikrochip. Während des Kalten Krieges hatte jeder beim KGB das Wort Mikrochip geliebt.
Als Tarassow alles gesagt hatte, verstummte er. Eine Zeit lang glaubte Lunov, sein Beifahrer wäre in den ewigen Schlaf abgeglitten. Er hielt das Lenkrad fest und betrachtete dabei das Abzeichen des Weißen Wolfs in der freien Hand. Es prangte auf dem Stück Stoff, welches Tarassow seinem Gegner von der Brust abgerissen und mit sich in die Fluten genommen hatte.
Lunov würde es brauchen.
Plötzlich keuchte Tarassow schwer. Seine Augen traten weit hervor und sein Brustkorb blähte sich auf, als sammelte er die letzten Luftreserven, bevor er das Atmen einstellte. Der Überlebenskampf im Inneren von Tarassows Körper ging seinem Ende entgegen. Ein Sterbender sah nie friedlich aus. Dazu gab es auch so ein Sprichwort, das nicht stimmte.
Während des Fahrens entschied sich Lunov, die rechte Hand auf das Gesicht des Beifahrers zu legen, um den Todeskampf zu beenden. Eine Zeit lang kämpfte Tarassow dagegen an, dann erschlafften seine Brust- und Armbewegungen.
Als Lunov die Hand vorzeitig wegnahm, rollte Tarassow den Kopf auf die linke Seite.
»Bitte … bitte!« Die Worte kamen so leise, als hätte Lunov sich diese nur eingebildet. »Fünf Gräber … Andenken … Familie. Ohne Grabstein … nie gelebt. Bitte!«
Eine lange Zeit stierte Lunov nur in den Schneenebel, der links und rechts vom Fahrzeug aufgeworfen wurde. Dann antwortete er: »Nein, ich verspreche dir etwas anderes.«
Augenblicklich sackte Tarassow zusammen, als hätte ihm die Antwort die verbliebene Kraft geraubt. Und als Lunov an seinem Zelt ankam, war der Lebensgeist von Tarassow gewichen.
Während der Tote die Nacht über im Fahrzeug lag, fing Lunov an, Pläne zu schmieden für die Reise nach Deutschland.