Stendal, DDR
Zwei Uhr früh. Trotz aller seiner Einwände sollte der Angriff in vier Stunden beginnen. Alexejew starrte auf die Karte mit den Symbolen, die die eigenen Einheiten und die vermuteten feindlichen Verbände darstellten.
»Kopf hoch, Pascha!« sagte der OB West. »Ich weiß, daß wir ihrer Meinung nach zuviel Treibstoff verbrauchen. Aber der Angriff wird auch die restlichen Kriegsvorräte des Feindes aufbrauchen.«
»Er kann ebensogut wie wir Nachschub heranführen.«
»Unsinn. Wie wir von unserem Nachrichtendienst erfahren, haben seine Geleitzüge schwere Verluste erlitten. Im Augenblick ist ein riesiger Konvoi unterwegs, aber unsere Marine wirft ihm alles Verfügbare entgegen. Und es wird ohnehin zu spät eintreffen.«
Der Chef hat recht, sagte sich Alexejew. Immerhin hat er sich seinen Rang ehrlich verdient. Trotzdem...
»Wo werde ich gebraucht?«
»Im Befehlsstand der OMG. Und keinen Schrittt näher an der Front.«
Bei der OMG, dachte Pawel ironisch. Erst hatte die 20. Garde-Panzerdivision eine Operative Mobile Gruppe sein sollen, dann eine aus zwei und schließlich eine aus drei Divisionen bestehende Formation. Jedesmal aber war das Durchbruchsmanöver vereitelt worden, bis selbst der Begriff »Operative Mobile Gruppe« wie ein absurder Witz klang. Sein Pessimismus kehrte zurück. Die für die Ausnutzung des Angriffserfolges zurückgehaltenen Reserveformationen standen weit hinter der Front, um sich sofort zum vielversprechendsten Einbruch in die Nato-Linien in Bewegung setzen zu können. Die Nato hatte die bemerkenswerte Fähigkeit bewiesen, für jähe Durchbrüche Kompensation zu schaffen. Wie so viele andere Gedanken verwarf Alexejew auch diesen, verließ den Befehlsstand, holte Sergetow und ließ sich aufs neue mit dem Hubschrauber nach Westen bringen, wie üblich mit Jägerschutz.
Eine Jägereskorte für einen einzigen Hubschrauber war den Luftüberwachungsoffizieren der Nato nicht zum ersten Mal aufgefallen, aber es hatten bisher nur die Mittel gefehlt, etwas zu unternehmen. Diesmal war das anders. Ein AWACS überm Rhein beobachtete den Start des von drei MiG bewachten Hubschraubers. Der Abschnittcontroller leitete zwei von einer Mission südlich von Berlin zurückkehrende F-4 Phantom nach Norden um. Die Jäger flogen in Baumwipfelhöhe mit abgeschaltetem Radar auf einer Flugschneise, die die Russen für die eigenen Bewegungen freihielten.
Alexejew und Sergetow saßen allein hinten in dem Kampfhubschrauber Mi-24. Da der Raum Platz für acht Infanteristen mit Kampfausrüstung bot, konnten sich beide ausstrecken, und Sergetow nutzte die Gelegenheit zu einem Nickerchen. Über ihnen kreisten die MiG und hielten nach tieffliegenden Nato-Maschinen Ausschau.
»Noch sechs Meilen«, kam der Spruch vom AWACS.
Ein Phantom ging in den Steigflug, illuminierte zwei MiG mit seinem Radar und schoß zwei Sparrow-Luftkampfraketen ab. Der zweite ließ zwei Sidewinder auf den Hubschrauber los.
Die Piloten der MiG schauten in die falsche Richtung, als ihre Warngeräte reagierten. Einer ging in den Sturzflug und entkam. Die Maschine des anderen explodierte in der Luft. Sein Flügelmann funkte eine Warnung. Alexejew blinzelte verblüfft in den jähen Lichtblitz von oben und klammerte sich dann an den Gurt, als der Hubschrauber hart nach links abdrehte und wie ein Stein abstürzte. Er hatte schon fast die Bäume erreicht, als die Sidewinder den Heckrotor abriß. Sergetow erwachte und schrie vor Überraschung und Entsetzen auf. Der Mi-24 wirbelte herum und kollidierte mit den Bäumen. Der Hauptrotor wurde zerfetzt, seine Fragmente flogen in alle Richtungen, die linke Seitentür platzte weg. Alexejew sprang sofort hinaus und zerrte Sergetow mit sich. Wieder hatte ihm sein Instinkt das Leben gerettet. Die beiden Offiziere waren gerade zwanzig Meter entfernt, als die Treibstofftanks explodierten. Die Phantom, die nach Westen und in Sicherheit flog, hörten und sahen sie nicht.
»Sind Sie verletzt, Wanja?« fragte der General.
»Hab mir noch nicht mal die Hosen naßgemacht. Bin wohl wirklich ein kampfgehärteter Veteran.« Die Stimme des jungen Mannes zitterte wie seine Hände. »Wo sind wir?«
»Gute Frage.« Alexejew schaute sich um. Er hatte gehofft, Lichter zu sehen, aber das ganze Land war verdunkelt, und bittere Erfahrungen hatten die Sowjets gelehrt, ohne Licht zu fahren. »Erst müssen wir eine Straße finden. Marschieren wir nach Süden, bis wir auf eine stoßen.«
»Und wo ist Süden?«
»Gegenüber von Norden. Und das ist dort.« Der General wies auf einen Stern, drehte sich dann um und suchte einen anderen. »Dieser wird uns nach Süden führen.«