Fölziehausen, BRD
Major Sergetow händigte seine Unterlagen aus. Die Leine war an einer zweiten Stelle überquert worden – bei Gronau, fünfzehn Kilometer nördlich von Alfeld –, und nun nahmen sechs Divisionen an dem Vorstoß auf Hameln teil. Weitere versuchten, die Lücke zu verbreitern. Dennoch wollte die Offensive nicht so recht vorankommen. Auf den wenigen Vormarschstraßen in diesem Teil Deutschlands hatten die Verstärkungskolonnen schwer unter Artillerie- und Luftangriffen zu leiden, ehe sie in der Kampfzone eingesetzt werden konnten.
Was mit dem Versuch dreier Mot-Schützendivisionen, eine Bresche für eine Panzerdivision zu schlagen, begonnen hatte, war nun zum operativen Schwerpunkt für zwei komplette sowjetische Armeen geworden. Ursprünglich war man gegen zwei dezimierte deutsche Brigaden vorgegangen; jetzt hatte man es mit einem Sammelsurium von Einheiten aus praktisch allen Mitgliedstaaten der Nato zu tun. Alexejew grämte sich um vertane Chancen. Wenn seine Raketenwerfer die Leinebrücke nun nicht zerstört hätten? Hätte er dann die Weser, wie er damals glaubte, in einem Tag erreichen können? Vergangen, vorbei, dachte Pascha und sah sich die Informationen über die Verfügbarkeit von Treibstoff an.
»Nur für einen Monat?«
»Beim gegenwärtigen Tempo der Operationen, ja«, erwiderte Sergetow grimmig. »Und selbst hierzu mußten wir schon praktisch die ganze Wirtschaft lahmlegen. Mein Vater läßt fragen, ob wir den Treibstoffverbrauch an der Front reduzieren könnten –«
»Aber sicher!« explodierte der General. »Wir können den Krieg verlieren, bloß damit er seinen kostbaren Sprit spart!«
»Genosse General, Sie haben mich um akkurate Informationen gebeten. Die habe ich mitgebracht. Mein Vater konnte mir auch dies hier geben.« Der jüngere Mann nahm einen zehnseitigen Lagebericht des KGB aus der Tasche, der laut Aufdruck nur für das Politbüro bestimmt war. »Hochinteressante Lektüre. Mein Vater möchte auf das Risiko hinweisen, das er mit der Weitergabe an Sie eingeht.«
Der General war ein schneller Leser und neigte im allgemeinen nicht zu Gefühlsausbrüchen. Die Bundesregierung hatte direkten Kontakt mit der Sowjetunion über die Botschaften, die beide Länder in Indien unterhielten, aufgenommen und die Möglichkeit von Friedensverhandlungen sondiert. Laut Einschätzung des KGB reflektierte das Ersuchen die politische Zersplitterung der Nato, möglicherweise sogar ernste Versorgungsschwierigkeiten jenseits der Kampflinie. Es folgten zwei Seiten mit graphischen Darstellungen und Auflistungen der Verluste, die der Nato angeblich zugefügt worden waren. Das KGB berechnete den Munitionsvorrat der Nato trotz allen Nachschubs über den Atlantik auf nur noch zwei Wochen. Es war keiner Seite gelungen, ihre Streitkräfte mit genug Munition und Treibstoff zu versorgen.
»Die Information über die Deutschen hält mein Vater für besonders signifikant.«
»Potentiell schon«, erwiderte Alexejew vorsichtig. »Solange ihre politische Führung sich um eine akzeptable Lösung bemüht, werden sie weiterkämpfen, doch wenn wir ihnen ein annehmbares Angebot machen und die Deutschen somit aus der Nato herausbrechen, haben wir unser Ziel erreicht und können dann in Ruhe den Persischen Golf erobern. Welches Angebot haben wir den Deutschen gemacht?«
»Es ist noch keine Entscheidung getroffen worden. Vorgeschlagen wurde ein Rückzug auf die Vorkriegsstellungen und anschließende Friedensverhandlungen unter internationaler Aufsicht. Der Austritt der Deutschen aus der Nato hängt von den Bedingungen des endgültigen Friedensvertrages ab.«
»Unakzeptabel. Davon haben wir nichts. Ich frage mich, weshalb sie überhaupt verhandeln.«
»In der Bundesregierung herrscht offenbar Aufruhr wegen der Auswirkungen des Krieges auf Zivilisten und Wirtschaft.«
»Aha.« An der bundesdeutschen Wirtschaft war Alexejew nicht im geringsten interessiert, die deutsche Regierung aber sah mit an, wie die Arbeit zweier Generationen von den Sowjets zerstört wurde. »Aber warum haben wir davon nichts erfahren?«
»Das Politbüro meint, die Nachricht von möglichen Friedensverhandlungen könnte uns davon abhalten, weiterhin Druck auf die Deutschen auszuüben.«
»Schwachköpfe! So etwas zeigt uns doch nur, wo wir angreifen müssen!«
»Das sagt mein Vater auch. Er möchte Ihre Meinung zu diesem Komplex hören.«
»Sagen Sie dem Minister, ich sähe nicht den geringsten Hinweis auf eine Minderung der Kampfentschlossenheit der Nato. Besonders bei den Deutschen ist die Moral noch sehr gut. Sie leisten überall Widerstand.«
»Mag sein, daß die Bundesregierung das Verhandlungsangebot ohne Wissen der militärischen Führung unterbreitet hat. Wenn sie schon ihre Alliierten hinters Licht führt, warum dann nicht auch ihr Oberkommando?« gab Sergetow zu bedenken. Schließlich hielt man das in der Sowjetunion auch so.
»Nur eine Möglichkeit, Iwan Michailowitsch. Es gibt noch eine andere.« Alexejew wandte sich wieder den Unterlagen zu. »Das Ganze hier ist ein Schwindel.«