Moskau
»Fahren wir ein Stückchen spazieren und unterhalten uns, Michail Eduardowitsch.« Sergetow fröstelte, ließ sich aber nichts anmerken. Brachte es der Chef des KGB überhaupt fertig, nicht sinister auszusehen? Kosow, der wie Sergetow aus Leningrad stammte, war ein kleiner, rundlicher Mann, der erst die ominöse »Allgemeine Abteilung« des ZK geleitet und dann das KGB übernommen hatte. Wenn er wollte, konnte er herzlich lachen, sich aber auch geben wie Großväterchen Frost.
»Aber gerne, Boris Georgijewitsch«, meinte Sergetow und wies auf seinen Fahrer. »Sie können frei sprechen. Witali ist ein guter Mann.«
»Ich weiß«, versetzte Kosow. »Er arbeitet seit zehn Jahren für uns.« Sergetow brauchte sich nur das Genick seines Chauffeurs anzuschauen, um zu erkennen, daß Kosow die Wahrheit sprach.
»Und worüber sollen wir reden?«
Der Chef des KGB griff in seine Aktentasche und nahm ein Gerät von der Größe eines Taschenbuchs heraus. Als er einen Schalter umlegte, ertönte ein unangenehmes Summen.
»Eine raffinierte Neuigkeit aus Holland«, erklärte er. »Sie gibt ein Geräusch von sich, das die meisten Mikrophone nutzlos macht.« Dann veränderte sich seine Art abrupt. »Michail Eduardowitsch, wissen Sie eigentlich, was der amerikanische Angriff auf unsere Flugplätze bedeutet?«
»Gewiß eine unangenehme Entwicklung, aber –«
»Es sieht ernster aus. Derzeit sind mehrere Geleitzüge der Nato auf See. Ein ganz besonders großer mit zwei Millionen Tonnen Kriegsmaterial und einer kompletten amerikanischen Division an Bord lief vor einigen Tagen von New York nach Europa aus. Durch die Zerstörung einer Anzahl unserer Bomber hat die Nato unsere Fähigkeit, mit den Geleitzügen fertigzuwerden, beträchtlich reduziert. Außerdem hat sie direkten Angriffen auf sowjetischen Boden den Weg geebnet.«
»Aber Island –«
»Ist neutralisiert.« Kosow berichtete, was den sowjetischen Jägern von Keflavik zugestoßen, war.
»Sie sagen also, daß der Krieg schlecht steht. Warum macht uns Deutschland dann Friedensangebote?«
»Eine vorzügliche Frage.«
»Wenn Sie einen Verdacht haben, Genosse, sollten Sie ihn nicht zu mir tragen.«
»Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Im Januar, als ich meine Bypass-Operation hatte, übernahm der Erste Stellvertretende Vorsitzende die Tagesgeschäfte des KGB. Kennen Sie Josef Larionow?«
»Nein, er nahm bei den Sitzungen des Politbüros nie Ihren Platz ein – im Verteidigungsrat etwa auch nicht?« Sergetow fuhr herum. »Dann hat man Sie also nicht konsultiert? Sie waren damals Rekonvaleszent.«
»Eine Übertreibung. Zwei Wochen lang ging es mir sehr schlecht, eine Tatsache, die natürlich geheimgehalten wurde. Voll arbeitsfähig war ich erst nach einem weiteren Monat. Da mich die Mitglieder des Verteidigungsrats nicht belasten wollten, ließen sie sich von dem jungen, ehrgeizigen Josef die Einschätzung des KGB vortragen. Wie Sie sich vielleicht denken können, gibt es beim Nachrichtendienst viele Meinungsrichtungen. Wir müssen versuchen, in die Köpfe von Männern zu schauen, die oftmals selbst nicht genau wissen, was sie von einer Sache zu halten haben. Manchmal frage ich mich, ob wir nicht besser Wahrsagerinnen hinzuziehen sollten. Aber ich schweife ab. Das KGB erstellt täglich eine strategische Lagebeurteilung, eine Einschätzung der politischen und militärischen Stärke unserer Gegenspieler. Wegen der Natur unserer Arbeit und schweren Fehlern der Vergangenheit erarbeiten drei Teams drei Versionen: bester Fall, schlimmster Fall, mittlerer Fall. Dem Politbüro präsentieren wir meist den letzten, aus offenkundigen Gründen mit Daten aus den anderen beiden angereichert.«
»Und als Ihr Stellvertreter gebeten wurde, dem Politbüro seine Auffassung vorzutragen –«
»Genau. Dieser junge Streber, der auf meinen Posten scharf ist, war so gerissen, alle drei Szenarien mitzubringen. Und als er merkte, was sie wollten, gab er ihnen das, was sie wollten.«
»Und warum korrigierten Sie nach Ihrer Rückkehr den Fehler nicht?«
Kosow lächelte ironisch. »Mischa, Mischa, manchmal sind Sie rührend naiv. Umbringen hätte ich den Dreckskerl sollen, aber das ging nicht. Es steht nicht gut um Josefs Gesundheit, nur weiß er das noch nicht. Aber die Zeit wird kommen«, meinte Kosow, als redete er von seinem Urlaub. »Das KGB ist augenblicklich in mehrere Fraktionen aufgesplittert. Josef kontrolliert eine, ich eine andere. Meine ist größer, hat aber keine entscheidende Mehrheit. Er hat das Ohr des Generalsekretärs und des Verteidigungsministers. Ich bin alt und krank. Nur der Krieg hat meine Ablösung verhindert.«
»Hat er denn das Politbüro angelogen?« Sergetow schrie fast.
»Nein. Glauben Sie denn, Josef sei auf den Kopf gefallen? Er lieferte eine unter meinem Vorsitz von meinen Abteilungsleitern erstellte nachrichtendienstliche Analyse ab.«
Warum erzählt er mir das alles? fragte sich Sergetow. Er hat Angst um seinen Posten und sucht die Unterstützung anderer Mitglieder des Politbüros. Aber ist das alles?
»Sie wollen sagen, das Ganze sei ein Versehen.«
»Genau«, erwiderte Kosow. »Pech und schlechtes Management in unserer Ölindustrie – selbstverständlich nicht Ihre Schuld. Hinzu kommen Ängste im Kern der Parteihierarchie, der Ehrgeiz eines meiner Untergebenen, die Wichtigtuerei des Verteidigungsministers und hanebüchene Dummheit im Westen – und so sind wir dort, wo wir heute stehen.«
»Und was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?« fragte Sergetow argwöhnisch.
»Nichts. Vergessen Sie aber bitte nicht, daß die nächste Woche wahrscheinlich die Entscheidung des Krieges bringen wird. Ah!« rief er aus. »Mein Wagen ist repariert. Witali, fahren Sie hier rechts heran. Vielen Dank fürs Mitnehmen, Mischa. Angenehmen Tag noch.« Kosow steckte sein Störgerät ein und stieg aus.
Michail Eduardowitsch Sergetow sah der KGB-Limousine nach. An Machtkämpfe war er gewöhnt; bei seinem Aufstieg hatten Männer im Weg gestanden und mußten ausgeschaltet werden. Aussichtsreiche Karrieren waren zerstört worden, damit er in seinem Sil sitzen und auf die Macht hoffen konnte. Doch noch nie war dieses Spiel so gefährlich gewesen. Er kannte weder die Regeln noch Kosows Absichten. Stimmte seine Geschichte überhaupt? Wollte er nur seine eigenen Fehler vertuschen und die ganze Schuld Josef Larionow zuschieben? Sergetow konnte sich nicht entsinnen, dem Ersten Stellvertretenden Vorsitzenden jemals begegnet zu sein.
»Zurück zum Büro, Witali«, befahl Sergetow, zu tief in Gedanken versunken, um sich Sorgen über die Nebenbeschäftigung seines Chauffeurs zu machen.