Alfeld, BRD
Es war ein zusammengewürfeltes Team. Amerikanische motorisierte Infanterie und die Panzerspitze einer anrückenden britischen Brigade verstärkten die Überreste der deutschen und belgischen Einheiten, die an diesem Tag von fünf sowjetischen Divisionen zerschlagen worden waren. Es war nur wenig Zeit. Kampfpioniere gruben mit gepanzerten Räumschaufeln rasch Stellungen für die Panzer, Infanteristen hoben Löcher für ihre Panzerabwehrwaffen aus. Eine Staubwolke am Horizont; mehr Warnung brauchten sie nicht. Dem Vernehmen nach rollte eine Panzerdivision auf sie zu. Die Stadt hinter ihnen war noch nicht ganz evakuiert. Zwanzig Meilen hinter ihnen kreiste eine Staffel Erdkampfflugzeuge, bereit, auf Anforderung herabzustoßen.
»Feind in Sicht!« funkte ein Ausguck von einem Kirchturm. Sekunden darauf begannen Artilleriegeschosse auf die sowjetische Panzerspitze herabzuregnen. Die Bedienungen der Panzerabwehrwaffen nahmen die Abdeckungen von ihren Zielfernrohren und luden. Die Challenger-Panzer des 3rd Royal Tank Regiment fuhren in ihre Löcher. Luken wurden geschlossen, die Richtschützen nahmen entfernte Ziele ins Fadenkreuz. Es herrschte Konfusion; für die Bildung einer Befehlsstruktur war nicht genug Zeit gewesen. Ein Amerikaner feuerte als erster. Das TOW-2-Geschoß zog seine Lenkdrähte hinter sich her wie Spinnenfäden, raste auf einen vier Kilometer entfernten T-80 zu.
»Unsere Spitzen sind unter Raketenfeuer«, meldete ein Leutnant.
»Beschießen Sie die Stellungen!« befahl Alexejew dem Kommandeur seiner Artillerie. Innerhalb einer Minute erfüllten die Mehrfachraketenwerfer der Division den Himmel mit Feuerspuren. Rohrartillerie trug noch zu dem Gemetzel bei. Dann griff die Artillerie der Nato ernsthaft ein.
»Unsere Spitzen erleiden Verluste.«
Alexejew betrachtete schweigend die Karte. Hier war weder Zeit noch Raum für Täuschungsmanöver. Seine Männer mußten so rasch wie möglich durch die feindlichen Linien stürmen, um die Leinebrücken in ihren Besitz zu bringen. Das bedeutete schwere Verluste bei seinen Panzerspitzen, die aber hingenommen werden mußten.
Zwölf belgische F-16 kamen im Tiefflug über die Front gejagt, warfen tonnenweise Streubomben auf das erste sowjetische Regiment und zerstörten knapp einen Kilometer vor den alliierten Linien fast dreißig Panzer und zwanzig Infanterietransporter. Ein Schwarm Raketen stieg auf, und die einmotorigen Jäger wandten sich dicht überm Boden nach Westen, versuchten auszuweichen. Drei wurden abgeschossen und stürzten auf die Nato-Truppen ab. Der Kommandeur der britischen Panzer erkannte, daß er nicht genug Feuerkraft hatte, um den sowjetischen Angriff zu stoppen, und beschloß, sich zurückzuziehen, solange sein Bataillon noch kampffähig war. Er bereitete seine Kompanie darauf vor und versuchte auch, die benachbarten Einheiten zu verständigen, doch die Truppen vor Alfeld kamen von vier verschiedenen Armeen, sprachen verschiedene Sprachen und sendeten auf verschiedenen Frequenzen. Es war so wenig Zeit gewesen, daß noch nicht einmal feststand, wer überhaupt den Oberbefehl führte. Die Deutschen wollten bleiben, bis ihre Landsleute aus Alfeld sicher am anderen Ufer der Leine waren. Die Amerikaner und Belgier traten auf Befehl des britischen Colonel den Rückzug an, die Deutschen aber rührten sich nicht von der Stelle. Das Resultat war ein Chaos.
»Vorgeschobene Beobachter melden feindliche Kräfte auf dem Rückzug. Feindliche Verbände scheinen sich nördlich der Stadt abzusetzen.«
»Verlegen Sie das zweite Regiment nach Norden, lassen Sie es einen Bogen schlagen und so schnell wie möglich auf die Brücken zuhalten, ohne Rücksicht auf Verluste! Weiterhin Druck auf alle feindlichen Einheiten. Ich will sie nach Möglichkeit diesseits des Flusses einschließen und aufreiben«, befahl Alexejew. »Sergetow, kommen Sie mit zur Front.«
Der Angriff hatte seinem ersten Regiment das Herz herausgerissen, doch der Erfolg war den Preis wert. Die Einheiten der Nato mußten durch die zerschlagene Stadt, um die Brücke zu erreichen, und daß sie im Norden mit der Ablösung begonnen hatten, war ein Geschenk des Himmels. Nun war Alexejew in der Lage, sie mit einem frischen Regiment zu überrennen und, wenn er viel Glück hatte, die Brücken intakt zu erobern. Diese Operation wollte er persönlich überwachen. Zusammen mit Sergetow bestieg er ein Kettenfahrzeug, das nach Süden fuhr, um das schon im Vormarsch befindliche Regiment abzufangen. Hinter ihnen begannen die Stabsoffiziere, über den Funkkreis der Division neue Befehle zu geben.
Fünf Kilometer entfernt und jenseits des Flusses hatte eine deutsche Batterie von 155-mm-Geschützen nur auf diese Gelegenheit gewartet. Funker hörten die Mitteilung ab und ermittelten den genauen Standort des Divisonshauptquartiers. Geschützbedienungen gaben die Zieldaten in die Feuerleitrechner ein und luden. Jedes Geschütz der Batterie richtete sich auf denselben Azimut. Als sie in rascher Folge zu feuern begannen, bebte der Boden.
In weniger als zwei Minuten gingen über hundert Granaten auf das Hauptquartier und seine Umgebung nieder. Die Hälfte des Stabes kam auf der Stelle ums Leben, der Rest wurde verwundet.
Alexejew starrte seinen Kopfhörer an. Zum dritten Mal war er dem Tod nur knapp entkommen. Meine Schuld, dachte er, ich hätte mich um den Standort des Senders kümmern sollen. Diesen Fehler durfte er nicht noch einmal machen.
Zivilfahrzeuge verstopften Alfelds Straßen. Die amerikanischen Bradley-Schützenpanzer mieden die Stadt ganz, eilten am rechten Ufer der Leine entlang und überquerten sie geordnet. Drüben nahmen sie auf Hügeln Aufstellung und gaben den anderen alliierten Truppen beim Übergang Deckung. Nun waren die Belgier an der Reihe. Das verbliebene Drittel ihrer Panzer deckte die Südflanke am anderen Ufer des Flusses und versuchte, die Russen aufzuhalten, ehe es sich über die Brücken zurückzog. Deutsche Polizei hatte den Zivilverkehr zurückgehalten und die gepanzerten Fahrzeuge vorbeigelassen, doch als die ersten russischen Granaten in Ufernähe in der Luft zu zerplatzen begannen, entstand Chaos. Zivilisten, die dem Befehl zur Räumung ihrer Häuser nur mit Verspätung Folge geleistet hatten, mußten nun für ihr Versäumnis büßen. Die Artilleriegeschosse konnten den Kampffahrzeugen kaum etwas anhaben, zerstörten zivile Pkw und Laster aber gründlich. Binnen Minuten verstopften liegengebliebene und brennende Fahrzeuge die Straßen von Alfeld. Die überlebenden Insassen sprangen heraus und flohen durchs Feuer zu den Brücken, versperrten Panzern, die zum Fluß durchzukommen versuchten, den Weg. Deren Fahrer weigerten sich selbst unter Befehlsdruck, unschuldige Zivilisten plattzuwalzen. Richtschützen drehten die Türme nach hinten und beschossen russische Panzer, die nun in die Stadt eindrangen. Der Rauch brennender Gebäude nahm allen die Sicht. Kanonen feuerten auf nur flüchtig zu erkennende Ziele, Granaten trafen wahllos, und aus den Straßen von Alfeld wurde ein Schlachthaus für Soldaten und Nichtkombattanten.
»Da sind sie!« rief Sergetow. Drei Straßenbrücken überspannten die Leine. Alexejew begann Befehle zu geben, aber das war überflüssig, denn der Regimentskommandeur wies bereits über Funk ein Panzerbataillon mit Infanterieunterstützung an, am Westufer vorzugehen, auf der noch relativ freien Route, die die Amerikaner genommen hatten.
Die leichten amerikanischen Panzer am anderen Ufer eröffneten mit Raketen und Schnellfeuerkanonen das Feuer und schossen ein halbes Dutzend russische Panzer ab. Der Rest des Regiments nahm sie unter Beschuß, und Alexejew forderte persönlich Artillerieunterstützung an.
In Alfeld war der russische Angriff blutig steckengeblieben. Deutsche und britische Panzer waren auf Straßenkreuzungen in Stellung gegangen, halb verdeckt von zerschossenen Autos und Lastwagen, und zogen sich nur langsam zum Fluß zurück, um den Zivilisten die Flucht zu ermöglichen. Russische Infanteristen versuchten, sie mit Panzerabwehrraketen anzugreifen, aber deren Lenkdrähte wurden zu oft von den Trümmern auf der Straße zerrissen. Die Folge war, daß sich die Flugkörper nicht mehr steuern ließen und explodierten, ohne Schaden anzurichten. Russische und alliierte Artilleriegeschosse verwandelten die Stadt in ein Trümmerfeld.
Alexejew sah seine Truppen auf die erste Brücke zuhalten. Südlich von ihm verfluchte der Kommandeur der Panzerspitze seine Verluste. Über die Hälfte seiner Panzer und Schützenpanzer waren zerstört. Der Sieg lag greifbar nahe, aber ausgerechnet jetzt waren seine Truppen wieder von mörderischem Feuer und unpassierbaren Straßen aufgehalten worden. Er sah, daß die Nato-Panzer sich zurückzogen, und forderte Artilleriefeuer an, um sie nicht entkommen zu lassen.
Alexejew war überrascht, als das Artilleriefeuer von der Stadtmitte hin zum Flußufer verlagert wurde. Aus Überraschung wurde Entsetzen, als er erkannte, daß nicht Granaten, sondern Raketen geschossen wurden. Entlang des Flußufers kam es aufs Geratewohl zu Detonationen; dann explodierten die Geschosse im Wasser. Immer mehr Raketenwerfer wurden auf das Ziel gerichtet, und nun konnte Alexejew nichts mehr tun. Die Brücke stromabwärts wurde von drei Raketen gleichzeitig getroffen und brach zusammen. Alexejew mußte entsetzt mit ansehen, wie die Trümmer über hundert Zivilisten in das aufgewühlte Wasser rissen. Er hatte die Brücke gebraucht! Zwei Geschosse landeten auf der mittleren Brücke, brachten sie zwar nicht zum Einsturz, beschädigten sie aber schwer und machte sie für Panzer unpassierbar. Alexejew fuhr wütend zu Sergetow herum.
»Setzen Sie sich mit den Pionieren in Verbindung und lassen Sie Pontonbrücken und Sturmboote an die Front schaffen. Dann brauche ich jede verfügbare SAM- und Flakbatterie. Wer sie aufhält, wird erschossen. Sorgen Sie dafür, daß die Verkehrsoffiziere Bescheid wissen. Los!«
Sowjetische Panzer und Infanterie hatten die letzte verbliebene Brücke erreicht. Drei Schützenpanzer jagten zum anderen Ufer, wo sie bei dem Versuch, in Deckung zu gehen, von Belgiern und Amerikanern unter Feuer genommen wurden. Ein Kampfpanzer rasselte hinterher, schaffte es bis nach drüben und wurde dann von einer Rakete zur Explosion gebracht. Ein zweiter folgte, dann ein dritter. Beide erreichten das Westufer. Dann tauchte ein britischer Chieftain hinter einem Gebäude auf und fuhr den sowjetischen Panzern hinterher. Alexejew sah verblüfft mit an, wie er unerkannt zwischen zwei russischen Kampffahrzeugen dahinrollte. Knapp hinter ihm fuhr eine amerikanische Rakete in den Boden. Zwei weitere Chieftain tauchten auf dem Brückenkopf auf. Einer wurde aus nächster Nähe von einem T-80 abgeschossen, der zweite feuerte zurück und zerstörte den russischen Tank.
Der General setzte seinen Kopfhörer auf und rief das Hauptquartier der 8. Gardearmee. »Hier Alexejew. Eine Kompanie hat die Leine überquert. Ich brauche Unterstützung. Wir sind durchgebrochen. Wiederhole: Die deutsche Front ist durchbrochen! Ich brauche Luftunterstützung und Hubschrauber für den Angriff auf Nato-Einheiten nördlich und südlich der Brücke 439, außerdem zwei Regimenter Infanterie zur Sicherung der Übergangsstelle. Wenn ich Unterstützung bekomme, schaffe ich meine Division bis Mitternacht über den Fluß.«
»Alles, was ich habe, steht Ihnen zur Verfügung. Meine Pioniere sind schon unterwegs.«
Alexejew lehnte sich an seinen BMP, nahm die Feldflasche vom Koppel und trank einen tiefen Schluck. Vor ihm erstürmte seine Infanterie unter Feuer die Anhöhen. Inzwischen waren zwei komplette Kompanien überm Fluß. Die alliierte Infanterie konzentrierte sich auf die Zerstörung der letzten Brücke, über die er noch mindestens ein volles Bataillon schaffen mußte, wenn er diesen Brückenkopf länger als nur ein paar Stunden halten wollte.
»Sturmboote und Brücken sind unterwegs, Genosse General«, meldete Sergetow. »Zwei SAM-Batterien sind zu uns aufgebrochen, und drei Kilometer entfernt habe ich drei Flakpanzer gefunden, die in fünfzehn Minuten hier sein können.«
»Gut.« Alexejew richtete sein Fernglas aufs gegenüberliegende Ufer.
»Genosse General, unsere Mannschaftstransporter sind amphibisch. Warum lassen wir sie nicht hinüberschwimmen?«
»Sehen Sie sich mal das Flußufer an, Wanja.« Der General reichte Sergetow seinen Feldstecher. So weit der Blick reichte, war das andere Ufer mit einer steilen Böschung befestigt, die kein Fahrzeug erklimmen konnte. »So etwas würde ich ohnehin nur in Regimentsstärke wagen. Vorerst bleibt uns nur die Brücke, und die kann nicht lange halten. Selbst mit Glück wird es noch Stunden dauern, bis eine Pontonbrücke geschlagen ist. Auch der Gegner auf der anderen Seite muß so lange ohne Verstärkung auskommen. Wir schaffen so viele Truppen und Fahrzeuge wie möglich hinüber und bringen dann Verstärkung, sobald die Sturmboote eingetroffen sind. Eigentlich sollte eine solche Operation im Schutz von Nebel oder Dunkelheit durchgeführt werden, aber ich will nicht auf die Nacht warten. Setzen wir uns über die Vorschriften hinweg, Wanja. Sie haben sich ordentlich gehalten, Iwan Michailowitsch. Sie sind ab sofort Major. Nein, bedanken Sie sich nicht bei mir – das haben Sie sich verdient.«