Holle, BRD
»Noch dreißig Minuten«, sagte Alexejew zu Sergetow. Auf einer knapp zwanzig Kilometer breiten Front standen vier Mot-Schützendivisionen bereit. Hinter ihnen wartete eine Panzerdivision, um den ersten Bruch der deutschen Linien auszunützen. Angriffsziel war Alfeld an der Leine. Die Stadt beherrschte zwei Straßen, auf denen die Nato Nachschub nach Norden und Süden transportierte, und ihre Eroberung würde eine Bresche in die Nato-Linien reißen, durch die die sowjetischen Operativen Mobilen Gruppen stoßen konnten, um die feindliche Front von hinten aufzurollen.
»Genosse General, wie schätzen Sie die Lage ein?« fragte der Hauptmann leise.
»Fragen Sie mich in ein paar Stunden noch einmal«, erwiderte der General. Das Flußtal hinter ihm war ein weiterer Friedhof für Männer und Waffen. Sie standen nur dreißig Kilometer hinter der Grenze – dabei hatte man erwartet, daß die Panzer der Roten Armee Holle binnen zwei Tagen erreichen würden. Alexejew zog die Stirn kraus und fragte sich, welches Genie vom Stab sich diesen Zeitplan hatte einfallen lassen. Wieder einmal war der menschliche Faktor übersehen worden. Moral und Kampfgeist der Deutschen waren unglaublich; er entsann sich der Kriegsgeschichten seines Vaters, die er nie so recht hatte glauben wollen. Inzwischen sah er das anders. Die Deutschen kämpften um jeden Klumpen Erde wie Wölfe, die ihre Jungen verteidigten, wichen nur zurück, wenn es sich nicht vermeiden ließ, nutzten jede Gelegenheit zum Gegenangriff, bluteten die angreifenden russischen Einheiten aus.
Die sowjetische Doktrin hatte schwere Verluste prophezeit. Zum Bewegungskrieg kam man nur durch kostspielige Frontalangriffe, die ein Loch in die Linien rissen – doch das hatten die Armeen der Nato bisher verhindert. Ihre aus vorbereiteten sicheren Stellungen abgefeuerten modernen Waffen dezimierten jede Angriffswelle. Luftangriffe auf Ziele hinter der sowjetischen Front schwächten Einheiten, ehe sie entscheidend eingesetzt werden konnten, und machten die Artillerieunterstützung trotz aller Tarnmaßnahmen zur Farce.
Die Rote Armee ist auf dem Vormarsch, sagte sich Alexejew, und auch bei der Nato sind die Reserven dünn gesät. Die Deutschen nutzten ihre Mobilität nicht so, wie Alexejew es getan hätte, verteidigten verbissen Orte, anstatt die sowjetischen Einheiten im Bewegungskrieg zu bekämpfen. Andererseits hatten sie auch nur wenig Terrain, das sie gegen Zeit tauschen konnten. Der General schaute auf die Uhr.
Unter ihm stieg eine Feuerwand aus dem Wald auf, als das Vorbereitungsfeuer der russischen Artillerie begann. Dann heulten die Raketenwerfer, und Feuerspuren erhellten den Morgenhimmel. Alexejew richtete das Fernglas auf die feindlichen Positionen und sah die weißlich-orangen Einschläge. Über ihm ein Donnern: Die erste Wolke der Erdkampfflugzeuge jagte auf die Front zu.
»Danke, Genosse General«, hauchte Alexejew. Er zählte mindestens dreißig Jagdbomber Suchoi und MiG im Tiefflug und ging mit entschlossenem Lächeln zu seinem Befehlsbunker zurück.
»Die Spitzen haben sich in Bewegung gesetzt«, verkündete ein Oberst. Auf einem Tisch, der aus ungehobelten Brettern auf Sägeböcken bestand, trug man mit Fettstift Positionen ein. Rote Pfeile begannen, sich auf blaue Linien zuzubewegen. Am Tisch standen Leutnants, die in Funkverbindung mit dem Hauptquartier jeweils eines Regiments standen. Offiziere, denen Reserveeinheiten zugeteilt worden waren, hielten sich im Hintergrund, rauchten und beobachteten den Vormarsch der Pfeile. Der Befehlshaber der 8. Gardearmee stand schweigend dabei und sah zu, wie sein Angriffsplan sich entfaltete.
»Stoßen auf mäßigen Widerstand: Feuer von feindlicher Artillerie und Panzern«, sagte ein Leutnant.
Explosionen erschütterten den Befehlsbunker. Zwei Kilometer weiter war gerade ein Schwarm deutscher Phantoms in ein motorisiertes Artilleriebataillon gefetzt.
»Feindliche Kampfflugzeuge über uns«, meldete der Luftabwehroffizier etwas verspätet. Einige hoben ängstlich die Blicke zu der aus Baumstämmen bestehenden Decke des Befehlsbunkers. Alexejew gehörte nicht zu ihnen. Eine Smart-Bombe konnte sie alle auf der Stelle töten. Obwohl er seine Funktion als stellvertretender Befehlshaber des Operationsgebietes genoß, hätte er lieber seine eigene Division kommandiert. Hier war er nicht mehr als ein Beobachter.
»Die Artillerie meldet schweres Gegenfeuer und Luftangriffe. Unsere Raketen greifen feindliche Flugzeuge im rückwärtigen Gebiet der 57. Mot-Schützendivision an«, fuhr der Luftabwehroffizier fort. »In der Luft starke Aktivität über der Front.«
»Unsere Kampfflugzeuge greifen die Nato-Maschinen an«, meldete der Offizier der Heeresflieger und schaute zornig auf. »Unsere Flieger werden von unseren eigenen SAM-Batterien abgeschossen!«
»Richten Sie Ihren Einheiten aus, sie sollen ihre Ziele ordentlich identifizieren!« schrie Alexejew den Luftabwehroffizier an.
»Wir haben fünfzig Maschinen über der Front und werden mit den Nato-Flugzeugen allein fertig«, beharrte der Heeresflieger.
»Alle SAM-Batterien haben Feuerverbot auf Ziele über tausend Meter«, befahl Alexejew, der diese Frage am Vorabend mit seinem Kommandeur der Heeresflieger eingehend besprochen hatte. Die MiG-Piloten sollten nach ihren Attacken in größere Höhe zurückkehren und den Flugabwehrraketen und -kanonen freies Schußfeld auf nur jene Maschinen der Nato lassen, die eine unmittelbare Bedrohung für Bodentruppen darstellten. Warum also wurden seine Flugzeuge getroffen?
Dreißigtausend Fuß überm Rhein kämpften zwei E-3A Sentry ums Überleben. Ein entschlossener sowjetischer Angriff hatte begonnen: Zwei Regimenter Abfangjäger MiG-23 raste auf sie zu. Die Controller an Bord riefen um Hilfe, was sie von elektronischen Maßnahmen gegen den Angriff ablenkte und Kampfflugzeuge von anderen Missionen abzog. Um ihre eigene Sicherheit unbekümmert, kamen die Russen mit weit über 1600 Stundenkilometern nach Westen gejagt, unterstützt von starken Störmaßnahmen. Amerikanische F-15 Eagle und französische Mirage hielten auf die Bedrohung zu und füllten den Himmel mit Raketen, aber es war nicht genug. Als die MiG bis auf sechzig Meilen an die AWACS herangekommen waren, schalteten diese ihre Radaranlagen aus und ergriffen im Sturzflug die Flucht. Die Nato-Kampfflugzeuge über Bad Salzdetfurth waren auf sich allein gestellt. Zum ersten Mal hatten die Sowjets die Luftüberlegenheit errungen.
»Das 143. Garde-Schützenregiment meldet den Durchbruch«, sagte ein Leutnant und verlängerte den Pfeil, für den er verantwortlich war. »Feindkräfte ziehen sich in Auflösung zurück.«
»145. Garde-Schützenregiment meldet den Zusammenbruch der vordersten deutschen Verteidigungslinie«, erklärte der Offizier neben ihm. »Die Einheit dringt entlang der Bahnlinie nach Süden vor. Feindliche Einheiten haben die Flucht ergriffen, versuchen nicht, sich umzugruppieren oder Raum zu behaupten.«
Der General der 8. Gardearmee warf Alexejew einen triumphierenden Blick zu. »Setzt die Panzerdivision in Marsch!«
Zwei geschwächte deutsche Brigaden hatten zu viel gelitten, zu viele Angriffe aufhalten müssen. Ihren Männern, erschöpft und knapp an Munition, blieb nichts anderes als die Flucht und die Hoffnung, im Wald hinter der B 243 eine neue Linie bilden zu können. Vier Kilometer weiter setzte sich bei Hackenstedt die 20. Garde-Panzerdivision in Bewegung. Ihre dreihundert Kampfpanzer T-80, unterstützt von Hunderten von Schützenpanzern und Mannschaftstransportern, rückte links und rechts der Straße in Angriffskolonnen vor. Diese Einheit war die Operative Mobile Gruppe der 8. Gardearmee. Seit Kriegsbeginn hatte die Sowjetunion versucht, der Nato mit einem dieser starken Verbände in den Rücken zu fallen.
»Gut gemacht, Genosse General«, meinte Alexejew. Die Karte zeigte nun einen allgemeinen Durchbruch. Drei der vier angreifenden Mot-Schützendivisionen hatten die deutschen Linien durchstoßen.
Den MiG gelang der Abschuß eines AWACS und dreier Eagle, doch bei der heftigen, fünfzehnminütigen Luftschlacht verloren sie neunzehn Kampfflugzeuge. Das überlebende AWACS war nun wieder auf Diensthöhe, wenngleich hundertdreißig Kilometer hinter dem Rhein, und die Operatoren an Bord bemühten sich, die Luftschlacht über Deutschland wieder unter Kontrolle zu bringen. Die MiG, die für einen mörderischen Preis ihren Auftrag erfüllt hatten, flogen durch einen Hagel von Boden-Luft-Raketen zurück nach Osten.
Doch dies war erst der Anfang. Nun, da der erste Angriff Erfolg gehabt hatte, begann der schwierigste Teil der Schlacht. Die kommandierenden Generale und Obersten mußten ihre Einheiten hinter einer südwärts rollenden Feuerwalze der Artillerie rasch und in intakten Formationen nach vorne bringen. Höchste Priorität hatte die Panzerdivision, die die nächsten deutschen Linien nur Minuten nach den Mot-Schützendivisionen angreifen mußte, wenn Alfeld vor Einbruch der Nacht erreicht werden sollte. Die Militärpolizei richtete vorgeplante Verkehrsregelungspunkte ein und dirigierte Einheiten über Straßen, an denen die Wegweiser von den Deutschen entfernt worden waren. Das Ganze ging nicht so einfach, wie man erwartet hatte. Einheiten waren nicht intakt. Einige Führer waren gefallen, Fahrzeuge liegengeblieben, und Straßenschäden erschwerten das Vorankommen.
Unterdessen waren die Deutschen bemüht, sich zu reorganisieren. Einheiten der Nachhut warteten hinter jeder Straßenbiegung, um ihre Panzerabwehrraketen auf die entschlossen angreifende sowjetische Vorhut abzuschießen. Auch die alliierten Flugzeuge reorganisierten sich; Erdkampfflugzeuge begannen, die sowjetischen Einheiten im offenen Gelände zu attackieren.
Hinter der aufgerissenen Front rollte eine deutsche Panzerbrigade nach Alfeld hinein, dicht gefolgt von einem motorisierten belgischen Regiment. Die Deutschen fuhren auf der Hauptstraße nach Nordosten, angestarrt von Bürgern, denen man gerade befohlen hatte, ihre Häuser zu verlassen.