Island
Nachdem sie die Wiese hinter sich gelassen hatten, ging es wieder durch Gelände, das die Landkarte als Ödland bezeichnete, und bald begann der Anstieg zum 210 Meter hohen Glymsbrekkur. Der Regen hatte nicht nachgelassen, und das Zwielicht zwang ihnen eine langsame Gangart auf. Viele große Steine, auf die sie treten wollten, waren lose. Man verlor leicht das Gleichgewicht; ein Sturz konnte tödlich sein. Immer wieder knickten ihre Knöchel auf dem unebenen Grund um; selbst die fest geschnürten Stiefel schienen nicht mehr zu helfen.
Nach sechs Tagen im Hinterland begannen Edwards und seine Marines zu verstehen, was körperliche Erschöpfung bedeutete. Bei jedem Schritt beugte sich das Knie ein wenig zu weit — mit dem Ergebnis, daß der nächste viel anstrengender war. Die Tragriemen ihrer Tornister schnitten schmerzhaft ein. Ihre Arme schmerzten – vom Tragen der Waffe und dem immer wieder notwendigen Zurechtrücken ihrer Ausrüstung. Sie ließen die Köpfe hängen. Nur mit Mühe schauten sie auf und in die Runde. Es bestand immer die Möglichkeit, daß sie in einen Hinterhalt gerieten.
Der Feuerschein des brennenden Hauses verschwand hinter einem Bergkamm. Bislang hatten weder Hubschrauber noch Fahrzeuge den Brand inspiziert. Doch wie bald würde man die Streife vermissen? fragten sich alle.
Alle – außer Vigdis. Edwards ging hinter ihr, lauschte ihrem Atem, hörte sie hin und wieder schluchzen, wußte aber nicht, was er ihr sagen sollte. Hatte er das Richtige getan? Hatte er einen Mord begangen, oder war die Tat ein Notbehelf gewesen oder ein Akt der Gerechtigkeit? Er verdrängte die vielen Fragen. Nun kam es nur aufs Überleben an.
»Zehn Minuten Rast!« rief er.
Sergeant Smith schaute sich nach den anderen um und setzte sich dann neben seinen Lieutenant. »Wir sind gut vorangekommen, Sir, vier oder fünf Meilen in zwei Stunden, und könnten jetzt ein bißchen langsamer gehen.«
Edwards lächelte schwach. »Bleiben wir doch einfach hier und bauen uns ein Haus.«
»Wär mir auch recht, Skipper«, erwiderte Smith lachend.
Der Lieutenant schaute kurz auf die Karte und verglich sie mit dem sichtbaren Gelände. »Umgehen wir dieses Moor links? Laut Karte ist dort ein Wasserfall, der Skulafoss. Die Klamm scheint recht tief zu sein. Wenn wir Glück haben, finden wir dort eine Höhle. Wenn nicht, sind wir in den tiefen Schatten der Klamm wenigstens vor Hubschraubern sicher. Wie weit wäre das? Fünf Stunden?«
»So ungefähr«, meinte Smith nickend. »Wären Straßen zu überqueren?«
»Nein, es sind nur Fußwege eingezeichnet.«
»Klingt gut.« Smith drehte sich zu dem Mädchen um, das sich gegen einen Felsen lehnte und ihnen stumm zuhörte. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er sanft.
»Müde.« Ihr Tonfall sagte aber mehr, fand Edwards; sie klang ton- und emotionslos. War das gut oder schlecht? fragte er sich. Ihre Eltern waren vor ihren Augen ermordet worden, sie selbst hatte man brutal vergewaltigt. Was gingen einem da für Gedanken durch den Kopf? Er beschloß, sie abzulenken.
»Kennen Sie sich in der Gegend gut aus?« fragte er.
»Vater ging hier angeln und nahm mich oft mit.« Sie neigte das Gesicht in den Schatten. Ihre Stimme brach, und sie begann leise zu schluchzen.
Edwards hätte sie am liebsten in den Arm genommen und ihr gesagt, jetzt sei alles in Ordnung, befürchtete aber, das Ganze nur noch schlimmer zu machen. Und wer nahm ihm wohl ab, daß alles in Ordnung war?
»Wie steht es mit der Verpflegung, Sergeant?«
»Konserven für vier Tage, Sir. Ich habe das Haus gründlich abgesucht«, flüsterte Smith. »Ich fand auch zwei Angelruten und ein paar Köder. Wenn wir uns Zeit nehmen, können wir uns selbst versorgen. Die Gewässer hier sind fischreich, eine Menge Forellen und Lachse. Angeln macht Spaß, hab ich gehört. Aber ich konnte mir das nie leisten. Sagten Sie nicht, Ihr Vater sei Fischer?«
»Hummerfischer. Was konnten Sie sich nicht leisten?«
»Lieutenant, wer hier oben angeln will, muß zweihundert Dollar hinlegen«, erklärte Smith, »und das ist bei meinem Sold nicht drin. Aber wenn der Angelschein so teuer ist, muß es doch eine Menge Fische geben, oder?«
»Denkbar«, stimmte Edwards zu. »So, brechen wir wieder auf. Wenn wir den Berg da drüben erreicht haben, legen wir uns aufs Ohr und ruhen uns aus.«
»Soll mir recht sein, Skipper. Aber vielleicht kommen wir dann nicht rechtzeitig nach –«
»Zum Teufel, dann verspäten wir uns eben! Ab jetzt wird nach anderen Regeln gespielt. Es kann sein, daß der Iwan nach uns sucht. Also machen wir langsam. Und wenn das unseren Freunden am Radio nicht gefällt, haben sie Pech gehabt. Vielleicht kommen wir mit Verzögerung ans Ziel, aber wir schaffen es.«
»Genau, Skipper. Garcia! Sie gehen voran. Rodgers, Sie bilden die Nachhut. Fünf Stunden noch, Marines, dann können wir pennen.«