Fünfundsiebzig

Ich war erst einmal hier«, sagte Thomas, als wir von der Hauptstraße in die gepflegte Anlage des Friedhofs von Promise Falls abbogen. »Nach Moms Tod, erinnerst du dich?«

»Ich erinnere mich.« Im Schritttempo schlängelten wir uns durch die schmalen Straßen, vorbei an Grabsteinen und Ehrenmalen. Thomas, der nicht viel von den Navigationskünsten von Maria, meiner GPS-Dame, hielt, rührte das Gerät während der ganzen Fahrt nicht an.

Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten ihn verändert. Uns alle.

Aber Thomas war nicht wie wir anderen. Er hatte immer den Eindruck gemacht, auf mich zumindest, als sei er gar nicht in der Lage, sich zu ändern. Er war der Gefangene seiner Krankheit. Trotzdem war er nach alldem nicht mehr derselbe.

Zwei Tage, nachdem Harry Peyton sich das Leben genommen hatte, kaufte ich Thomas einen neuen Computer. Zu Hause machten wir ihn startklar, und als ich nach unten ging, um mir ein Bier zu genehmigen, saß Thomas schon wieder vor Whirl360.

Zwanzig Minuten später kam er in die Küche. Es war weder Zeit zum Abend- noch zum Mittagessen. Er brauchte nur eine Pause. Er holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Tisch und trank sie. Dann ging er wieder nach oben. Als ich später kurz bei ihm reinsah, las er die Online-Ausgabe der New York Times.

Wunder gibt es doch.

Er war bei Dr. Grigorin gewesen, und als ich danach mit ihr sprach, sagte sie, auch sie habe eine Veränderung bemerkt.

»Wir müssen abwarten«, sagte sie. Offensichtlich wollte sie keine falschen Hoffnungen wecken. »Aber ich glaube, er wird die Umstellung gut verkraften. Ich möchte nicht zu viel hineininterpretieren, aber es wäre möglich, dass Harry Peytons Tod für Thomas eine Art Befreiung war. Vielleicht war Harry einer der Gründe, warum Thomas nicht aus dem Haus gehen wollte.«

Thomas behauptete, er freue sich auf sein neues Zuhause. »Dieses Haus erinnert mich zu sehr an Mom und Dad«, hatte er an dem Morgen zu mir gesagt. »Dass Dad und ich allein hier lebten, das war ja noch normal, aber jetzt, wo beide nicht mehr da sind, fühlt sich alles hier irgendwie merkwürdig an.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und ich weiß, dass du nicht mit mir hier wohnen willst.«

»Thomas, das ist –«

»Du möchtest mit Julie zusammenwohnen, damit du mit ihr Sex haben kannst.«

»Na ja«, sagte ich.

»Ich möchte deinetwegen nicht wieder Ärger kriegen«, hatte er gesagt. Etwas, das ich in den letzten Tagen öfter zu hören bekommen hatte. Als wäre ich derjenige gewesen, der den ersten Dominostein umgekippt hatte. Als wäre ich es gewesen, der Bridget Sawchuck online gesehen hatte.

Nach dem Frühstück hatte er mich gebeten, ihn auf den Friedhof zu fahren, damit er Dad endlich die letzte Ehre erweisen konnte.

Ich hatte ihm erzählt, was sich in Peytons Büro zugetragen hatte. Und dass mir einiges klargeworden war. Dass Peyton sich an ihm vergangen hatte, als er noch über einem Laden in der Saratoga Street wohnte. Dass Dad, als er die Fotos auf Peytons Handy sah, erkannt hatte, dass Thomas die Wahrheit gesagt hatte. Im Rahmen der Ermittlungen rund um Peytons Selbstmord hatte die Polizei alle seine Computer beschlagnahmt und haufenweise Fotos gefunden, bei denen sich einem schon der Magen umdrehte, wenn man nur daran dachte, dass es sie gab.

Ich erzählte Thomas nicht, dass ich glaubte, Harry Peyton sei am Tod unseres Vaters schuld. Es klang zwar plausibel, war aber letzten Endes nur eine Vermutung meinerseits. Ich konnte mir vorstellen, dass Harry zu meinem Vater gegangen war und versucht hatte, ihn davon abzubringen, die Sache mit Thomas und den Fotos weiterzuverfolgen. Dass sie in Streit geraten waren. Dass der Traktor umgekippt war.

Ich hatte mich entschlossen, Thomas nichts davon zu sagen, weil ich das Gefühl hatte, er habe auch so schon genug durchgemacht. Außerdem würde es keine Anklage gegen Harry geben, nichts würde also je vor ein Gericht kommen. Nichts würde je endgültig geklärt werden.

»Sie haben ein gemeinsames Grab, oder?«, fragte Thomas, als ich anhielt. »Mom und Dad?«

»Ja.«

»Wusstest du, dass man diesen Friedhof auch auf dem Computer sehen kann? Es gibt eine wirklich gute Satellitenaufnahme davon. Ich hab sie mir schon oft angesehen. Ich weiß genau, wo ich hinmuss.«

Erwartungsvoll sprang er aus dem Wagen und ging mit großen Schritten über den Rasen. Ich folgte ihm.

Als er sich dem Grabstein näherte, verlangsamten sich seine Schritte. In respektvoller Entfernung von etwa zwei Metern blieb er stehen und beugte ganz leicht den Kopf, die Hände hielt er gefaltet vor sich.

Ich holte ihn ein und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Hi, Dad«, sagte er. »Ich wäre schon zur Beerdigung gekommen, aber ich wollte Mr. Peyton nicht begegnen. Aber ich habe mir gedacht, jetzt sollte ich dich doch endlich besuchen. Mr. Peyton ist jetzt tot, und ich finde das gut, obwohl man so was wahrscheinlich nicht sagen darf.«

Ich drückte seine Schulter.

»Auf jeden Fall vermisse ich dich. Ray bringt mir einiges bei. Ich mache Essen und lerne, ein bisschen selbständiger zu sein, und das finde ich auch gut, denn ich ziehe in dieses Haus, wo man mithelfen muss.«

Er schwieg, sah aber nicht so aus, als würde er weggehen wollen. Ich hatte das Gefühl, er wolle unserem Vater noch etwas sagen. Ich drückte noch einmal seine Schulter.

»Was ich noch sagen wollte: Es tut mir leid. Nicht nur, dass ich nicht zur Beerdigung gekommen bin und nicht im Haus mitgeholfen habe.« Er schluckte. »Ich wollte sagen, es tut mir leid, dass ich dich geschubst habe, auf der Treppe.« Er hielt inne. Dann fügte er hinzu: »Und auf dem Hang.«

Meine Hand erstarrte.

»Es tut mir leid, dass ich mich so aufgeregt habe, weil ich vielleicht der Polizei das von Mr. Peyton erzählen sollte. Ich musste einfach rauskommen und mit dir darüber reden. Ich wollte dich nicht stoßen. Und es tut mir wirklich leid, dass ich nicht gleich Hilfe geholt habe.« Nach einer weiteren Pause fügte er hinzu: »Ich hatte solche Angst.«

Ich nahm meine Hand von Thomas’ Schulter.

»So, ich glaube, das war alles«, sagte er zu unserem Vater. »Ich komm dich bald wieder besuchen.«

Dann drehte er sich um und sagte zu mir: »Können wir jetzt zu meiner neuen Wohnung fahren? Ich würde mir gerne ansehen, wo ich mein ganzes Zeug unterbringen kann.«

Er ging an mir vorbei zum Wagen zurück. Ich stand da wie betäubt und blickte ihm nach.