Dreiundvierzig

Sie sehnte sich so sehr danach, ihre Mutter anzurufen. Es war wie ein körperlicher Schmerz.

Neun Monate war es jetzt her. Allison Fitch konnte kaum glauben, dass sie sich so lange hatte zurückhalten können. Nicht, dass sie nicht Dutzende Male nahe dran gewesen wäre. Mehr als einmal war sie an ein Telefon gegangen – nicht ihr eigenes Handy, das hatte sie Minuten nach der Flucht aus ihrer Wohnung weggeworfen – und hatte zu wählen begonnen. Einmal hatte sie ein Handy in einer Kabine der Damentoilette in dem Restaurant in Lubbock gefunden, in dem sie kurz gearbeitet hatte, und alle Ziffern der Telefonnummer ihrer Mutter eingetippt, bis auf die letzte. Da hatte sie sich eines Besseren besonnen, und das Handy wieder dort hingeworfen, wo sie es gefunden hatte. Es war durchaus möglich, dass der Anschluss ihrer Mutter abgehört, ihre Wohnung überwacht wurde. Ihre Mutter besaß kein Handy, und selbst wenn sie eines gehabt hätte, Allison hielt es für sehr wahrscheinlich, dass es Abhörmöglichkeiten auch dafür gab. Kam das nicht in dieser Fernsehserie über den Drogenhandel in Baltimore vor?

Sie wusste natürlich nicht, ob das Telefon ihrer Mutter tatsächlich abgehört wurde. Aber angenommen, es wäre so, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch jetzt noch der Fall war, nach so vielen Monaten? Früher oder später würden die doch aufgeben, oder?

Was ihre Mutter durchmachte, darüber konnte Allison nur spekulieren. Obwohl es beileibe nicht das erste Mal war, dass sie ihrer Mutter so etwas antat. Als sie neunzehn war, hatte sie sie nur Stunden, bevor sie das Flugzeug bestieg, davon in Kenntnis gesetzt, dass sie mit ihrem Freund – na dem, der da in dieser Band E-Piano spielte – einen Monat in Uruguay zu verbringen gedachte. Und sie waren bereits zehn Tage unterwegs, ehe ihr dämmerte, dass sie in Paraguay gelandet waren. Zwei Jahre später, mit einundzwanzig, bekam sie von ihrem Onkel Bert väterlicherseits ein Auto geschenkt, einen rostigen alten Chrysler Neon, aber besser als gar nichts. Da hatte sie die glorreiche Idee, eine Spritztour nach Malibu zu machen, schlappe dreitausendfünfhundert Kilometer. Sie packte ein paar Klamotten zusammen und fuhr los. Allein. Am fünften Tag der Reise fiel ihr ein, sie könne doch auf einen Sprung bei ihrer Cousine Portia in Albuquerque vorbeischauen, das lag ja auf dem Weg. Als Portia ihr öffnete, schrie sie: »Lieber Gott, du musst sofort deine Mutter anrufen, sie hat schon die ganze Familie durchtelefoniert und glaubt, du bist tot!«

Doch neun Monate lang zu verschwinden war selbst für Allisons Verhältnisse ein bisschen unverantwortlich.

Es war unmöglich, ihrer Mutter mitzuteilen, dass es diesmal anders war, dass sie nicht deshalb nicht zu Hause angerufen hatte, weil sie ein gedankenloses, egoistisches Miststück war, sondern weil sie Angst hatte, es würde sie das Leben kosten, wenn sie es täte.

Allison kam zu dem Schluss, es sei besser, ihre Mutter jetzt tausend seelische Tode sterben zu lassen und eines Tages wohlbehalten vor ihrer Tür zu stehen, als sie mit einem Anruf in Sicherheit zu wiegen und dafür selbst den körperlichen Tod zu erleiden. In gewisser Hinsicht, so dachte Allison, war ihre Rücksichtslosigkeit ihren Mitmenschen gegenüber in diesem Fall vielleicht sogar ein Segen. Möglicherweise machte sich ihre Mutter gar nicht so große Sorgen. Wäre sie eine von den Töchtern, die ihren Eltern über jede Minute des Tages Rechenschaft ablegten, und ließe dann nichts mehr von sich hören, ja, das wäre dann wirklich ein Grund zur Sorge.

Allison versuchte sich einzureden, dass es so war, obwohl sie genau wusste, dass es anders war. Ihre Mutter war wahrscheinlich schon halb wahnsinnig vor Kummer.

Hin und wieder lieh sie sich auf ihrer Odyssee einen Computer und recherchierte über sich selbst. Doch ihr Verschwinden hatte nur einmal, kurz nach ihrem Untertauchen, einen gewissen Nachrichtenwert gehabt, später fand sich kaum mehr etwas. Nicht sehr ermutigend. Zu wissen, dass man so unwichtig war. Dass man völlig vom Erdboden verschwinden konnte und niemand sich die Mühe machte, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, nicht einmal mit Hilfe von Fotos auf Milchkartons. Vielleicht war sie dafür schon zu alt.

An Berichten über den Tod von Bridget Sawchuck mangelte es allerdings nicht.

Ganz im Gegenteil.

Woran es mangelte, waren Einzelheiten, und von den wenigen, die es gab, wusste Allison, dass sie allesamt frei erfunden waren.

»Plötzlich verstorben.« Na ja, irgendwie stimmte es ja. Aber nicht ganz.

Wäre Allison nicht schon vorher völlig überzeugt gewesen, dass sich in die Büsche zu schlagen das Klügste war, was sie tun konnte, dann hätten die Berichte über Bridget sie garantiert umgestimmt. Wenn die, die an den Schalthebeln der Macht saßen, fähig waren, den Mord an einer Frau wie Bridget zu vertuschen, dann waren sie zu allem fähig.

Zur Polizei zu gehen kam nicht in Frage. Natürlich müsste sie dann auch ihren Erpressungsversuch eingestehen, doch das hielt sie für das geringste ihrer Probleme. Sie hatte Angst, dass eine Aussage bei den Behörden gleichbedeutend mit ihrem Todesurteil wäre.

Also blieb sie nie lange an einem Ort seit ihrer Flucht aus der Wohnung.

In dem Moment, in dem Allison Fitch sah, was in dem Schlafzimmer geschehen war, dass – ganz offensichtlich – jemand geschickt worden war, um sie zu töten, und stattdessen Bridget Sawchuck erwischt hatte, rannte sie los. Sie fegte in einem derartigen Tempo hinaus auf die Orchard Street, dass Passanten an eine Gasexplosion hätten denken können. Sie rannte nach Süden. Es gab keinen besonderen Grund dafür, außer dass sie Richtung Norden einer Gruppe von fünf Frauen mittleren Alters hätte ausweichen müssen, die den Gehsteig blockierten, weil sie alle gleichzeitig in einen Reiseführer sehen wollten. An der ersten Ecke bog sie nach Westen ab, an der nächsten nach Norden, an der übernächsten wieder nach Westen. Sie rannte, so schnell ihre Füße sie trugen. Bei jeder Querstraße wechselte sie die Richtung. Ihr einziges Ziel war, der Frau zu entkommen, die Bridget umgebracht hatte.

Dann stürmte sie jäh in ein Café. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Straße es lag. Im Vorbeilaufen rief sie der Theke zu, »einen mittleren Latte«, damit sie keinen Rüffel bekam, weil sie die Toilette benutzen wollte und hielt bereits verzweifelt nach einem Wegweiser dorthin Ausschau. Instinktiv galoppierte sie eine schmale gepflasterte Treppe ins Untergeschoss hinunter. Sie fand die Toilette, wollte die Tür aufreißen. Geschlossen.

»Augenblick«, rief jemand von drinnen.

Allison stand am Treppenabsatz, sah sich um, wartete darauf, dass die Frau sie einholte.

Ein Mann kam aus der Toilette. Sie schlüpfte in den winzigen Raum mit einer einzigen Toilette und einem Waschbecken, klappte den Deckel herunter und setzte sich. Nach Atem ringend holte sie ihr Handy heraus, überlegte, wen sie anrufen konnte.

Wenn die grandiose Idee, die Frau eines Justizministers zu erpressen, in die Hose geht, und von höchster Stelle ein Auftragsmörder auf einen angesetzt wird, wen rief man dann an?

Gute Frage!

Während sie ihr Handy betrachtete, fiel ihr plötzlich ein, dass man sie damit orten könnte. Sie schaltete es aus, hob den Klodeckel und warf es hinein.

Denk nach!

Also: Zur Polizei zu gehen war zu riskant. Und dass die Wohnung ihrer Mutter überwacht wurde, davon konnte sie auch ausgehen. Von ihren Freunden konnte sie auch niemanden anrufen. Außerdem hatte sie kaum noch welche, siehe Courtney. So war das, wenn man sich Geld lieh, das man nicht zurückzahlte. Trinkgeld einsteckte, das für andere bestimmt war. Mit den Freunden von Freundinnen rumvögelte.

Es gab nicht eine Brücke, die sie nicht hinter sich abgebrochen hätte.

Du bist vielleicht ein blödes Miststück, dachte sie.

Sie hatte ein paar Hunderter in der Handtasche. Genug, um sich eine Busfahrkarte zu kaufen und New York zu verlassen. Sobald sie sich einigermaßen sicher fühlte, würde sie sich ihren nächsten Schritt überlegen.

Jemand hämmerte an die Toilettentür. Allisons Herzschlag setzte kurz aus.

»Hey! Essen Sie Ihre Pizza da drin oder was?«


Als Erstes ließ sie sich in Pittsburgh nieder. Wenn man länger als eine Nacht an einem Ort zu verweilen als »sich niederlassen« bezeichnen konnte. Mit ihrer Busfahrkarte kam sie bis Philadelphia. Von da fuhr sie per Anhalter weiter. Einfach westwärts, nur nicht zu nah an Dayton heran. Die erste Nacht schlief sie in einem Park in Harrisburg, ging dann zu McDonald’s, um sich dort in der Toilette wieder in ein halbwegs menschliches Wesen zurückzuverwandeln, was schwerfiel mit den spärlichen Utensilien in ihrer Handtasche: Kamm, Lippenstift, Eyeliner, Wimperntusche. Sie brauchte Arbeit, so viel war klar. Und als Erstes eine Dusche.

Allison erkannte, dass eine Obdachlosenunterkunft im Moment ihre einzige Anlaufstelle war. Sie bekam etwas zu essen und konnte duschen. Ihre Tasche nahm sie mit in die Dusche, damit sie ihr nicht gestohlen wurde, und achtete darauf, sie so aufzuhängen, dass sie nicht nass wurde.

Ihre Kreditkarten nützten ihr nichts. Bei den meisten hatte sie das Limit ohnehin ausgeschöpft. Aber sie wusste auch, dass sie sich praktisch auf dem Silbertablett präsentieren würde, wenn sie eine benutzte. Sie schnitt alle entzwei und warf sie in den Müll.

Eine der Bedingungen, um in der Unterkunft bleiben zu dürfen, war, dass sie mithalf. Sie entschied sich für die Küche. Es kam ihrer gewohnten Beschäftigung am nächsten. Fast eine Woche hielt sie es dort aus. Dann kamen zwei Polizisten und stellten Fragen. Nicht ihretwegen – sie suchten Zeugen für den Totschlag an einem Obdachlosen vor drei Tagen. Aber sie standen ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und Allison hatte Angst, dass sie sich an diese Begegnung erinnern könnten, sollten sie zufällig eine Vermisstenmeldung von ihr in die Hände bekommen.

Zeit, sich wieder ein Stück weiter von New York zu entfernen.

Aus Angst, zu nahe an Dayton vorüberzukommen und womöglich von jemandem erkannt zu werden, der ihre Mutter kannte, änderte sie ihren Kurs Richtung Süden. Wieder fuhr sie per Anhalter und erreichte schließlich über mehreren Etappen Charlottesville, Virginia, eine hübsche Universitätsstadt. Wovon sie allerdings wenig profitierte, denn ihr Weg führte sie nicht in die Alma Mater, sondern in die nächste Küche. Im Fenster eines Diners sah sie ein Schild »Aushilfe gesucht« und heuerte an.

Mittlerweile hatte sie ihr ganzes Bargeld aufgebraucht, und der Küchenjob brachte ihr nicht genügend ein, um sich ein Zimmer leisten zu können. Lester, der Inhaber des Lokals, erlaubte ihr, in seinem Ford Pick-up zu schlafen, der eine durchgehende Sitzbank hatte, und den Waschraum des Lokals zur Körperpflege zu benutzen.

Fünf Wochen lebte sie so, dann erwartete Lester plötzlich gewisse Gefälligkeiten für die luxuriöse Schlafgelegenheit, die er ihr zur Verfügung stellte. Allison war nicht interessiert, aber das akzeptierte er erst, als ihm ein rohes Ei vorne die Hosen hinunterlief.

Zeit, wieder auf Wanderschaft zu gehen.

Sie trampte nach Raleigh. Dann nach Athens. Zwei Hungerwochen in Charleston. Dann weiter nach Süden. Jacksonville. Ein guter Plan, bei Wintereinbruch Florida zu erreichen. Sie hatte weder einen Mantel noch Wintersachen, und auch kein Geld, sich welche zu kaufen.

Je verzweifelter ihre Lage wurde, desto öfter überwand sie sich und bedankte sich auf ihre Weise bei Männern, die sie mitnahmen, vorausgesetzt, sie waren bereit, dafür etwas springen zu lassen. Verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen.

In Tampa fand sie Arbeit als Zimmermädchen in einem Motel namens Coconut Shade, in dem Zimmer auch stundenweise vermietet wurden. Keine Referenzen, kein Ausweis, keine Arbeitserfahrung vonnöten. Sie gab ihren Namen als Adele Farmer an. Octavio Formosa, der Geschäftsführer, ein Mittvierziger kubanischer Herkunft, bot ihr keinen Schlafplatz in seinem Wagen an, sondern ein Klappbett in einem Hinterzimmer des Büros.

Allison rechnete damit, dass auch er auf eine Gegenleistung aus war wie die meisten Männer, denen sie begegnet war, doch sie irrte sich. Octavio war ein gütiger, anständiger Mann. Seine Frau Samira war im vergangenen Jahr an einem Leberleiden gestorben. Er hatte eine siebenjährige Tochter, die er jedoch nicht an seinen Arbeitsplatz mitnehmen wollte, weil eine Absteige, in die die Leute fast ausschließlich wegen Sex kamen, keine passende Umgebung für sie war. Deshalb kümmerte seine Schwester sich um die Kleine, wenn er arbeitete.

»Die Menschen haben Bedürfnisse«, sagte er achselzuckend. »Und du brauchst einen Ort, wo du sicher bist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.«

Manchmal teilte er sein Mittagessen mit ihr. Wenn sie beide Nachtschicht hatten, gab er ihr hin und wieder zehn Dollar aus der Kasse und schickte sie zu einem nahe gelegenen Burger King, um da etwas zu holen, das sie sich teilen konnten. Sie unterhielten sich. Octavios Eltern waren noch in Kuba, und er hoffte, sie eines Tages nach Florida holen zu können. »Bevor sie zu alt dazu sind«, sagte er. »Ich möchte, dass sie ihre Enkelin noch sehen. Was ist mit dir?«

»Ich habe nur meine Mom«, sagte sie. »Mein Dad ist vor ein paar Jahren gestorben, und Geschwister habe ich keine.«

»Wo ist deine Mutter?«

»In Seattle«, log sie. »Wir haben schon länger nichts mehr voneinander gehört.«

»Ich wette, sie vermisst dich«, sagte er.

»Na ja«, sagte sie. »Da kann man nicht viel machen.«

»Du erinnerst mich an meine Tochter.«

»Wie kann das sein? Sie ist doch noch so klein.«

»Ich weiß, aber ihr braucht beide eure Mutter. Ihr seid beide sehr traurig.«

Seit ihrer Flucht aus der Wohnung bis jetzt, wo sie in Tampa lebte, hatte Allison Fitch viel Zeit gehabt, in sich zu gehen.

Und zu dem Schluss zu kommen, dass sie kein besonders guter Mensch war.

Sie hatte es sich immer auf Kosten anderer gutgehen lassen, angefangen bei ihren Eltern. Sie hatte immer zuerst an sich selbst gedacht. An ihre Wünsche. Ihre Bedürfnisse. Sie fing an, sich Fragen zu stellen. Was musste man für ein Mensch sein, um die eigene Mutter zu belügen, damit sie Geld schickte? Was für ein Mensch, um dieses Geld dann im Urlaub zu verjubeln, statt seiner Mitbewohnerin die schuldige Miete zurückzuzahlen? Wer machte aus einer sexuellen Beziehung ein lukratives Geschäft? Wer machte sich die Finger mit Erpressung schmutzig?

Ein schlechter Mensch.

Ein sehr schlechter Mensch.

Ein komplettes Arschloch.

Genau das war sie. Vielleicht geschah es ihr ja recht. Jedenfalls hatte sie sich das alles selbst zuzuschreiben. So viel stand fest. Sie wäre jetzt, nach monatelanger Flucht, nicht hier, um in einem Ein-Stern-Hotel in einer miesen Gegend von Tampa versaute Laken zu wechseln und sich mit Octavio Whopper zu teilen, hätte sie nicht immer nur an sich selbst gedacht.

Scheiß Karma.

Eines Nachts, als sie sich wieder einmal mit Octavio unterhielt, fragte sie ihn: »Glaubst du daran, dass man für alles Böse, was man getan hat, einmal bestraft wird?«

»In dieser Welt, meinst du?«

»Glaub schon.«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Manchmal ja, manchmal nein. Ich kenne Menschen, die es verdient hätten, aber ihnen ist nichts passiert. Man kann nur hoffen, dass sie danach bekommen, was sie verdienen.«

»Wenn du noch zu deinen Lebzeiten kriegst, was du verdienst, meinst du, dass damit alles abgegolten ist?«

»Ich glaube nicht, dass du ein schlechter Mensch bist«, sagte Octavio zu ihr. »Ich glaube, du bist ein guter Mensch.«

Sie weinte. Sie weinte sehr lange. Sie weinte sich beinahe in den Schlaf. Octavio verfrachtete sie in ihr Klappbett. Er setzte sich zu ihr und tätschelte ihr die Schulter, so lange, bis sie wirklich eingeschlafen war.

Er wollte ihr helfen. Er war überzeugt, dass ihre Mutter ihr verzeihen würde, egal, was Adele getan hatte.

Als er sicher war, dass sie tief und fest schlief, holte er ihre Handtasche unter dem Bett hervor. Darin fand er einen Ausweis, aus dem hervorging, dass sie nicht Adele Farmer hieß. Sondern Allison Fitch.

Und ihre Mutter lebte nicht in Seattle, wie Allison behauptet hatte. Octavio fand auch einen zerlesenen Brief von ihrer Mutter, den diese schon vor über einem Jahr geschrieben hatte. Sie schrieb ihrer Tochter, sie habe sie sehr lieb und hoffe, sie sei glücklich in New York. Doch wenn sie nach Dayton zurückkehren wolle, ihre Tür stehe immer offen.

Dayton?

Octavio sah auf den Absender auf der Rückseite des Umschlags, notierte sich etwas, steckte den Brief und den Ausweis zurück in die Tasche und schob sie wieder unter das Bett. Er ging an den Computer, suchte und fand die Telefonnummer von Doris Fitch. Es war Mitternacht vorbei, eigentlich keine Zeit mehr, um jemanden anzurufen, aber Octavio war sich sicher, die Frau würde wissen wollen, wo ihre Tochter war, egal, wie spät es war.

Doris Fitch bekam beinahe einen hysterischen Anfall, als Octavio ihr flüsternd die Nachricht überbrachte.

»O Gott«, sagte sie. »Mein Gott, sie lebt. Ich kann es gar nicht fassen. Wie geht es ihr? Ist sie verletzt? Geht’s ihr gut? Geben Sie sie mir! Ich muss mit ihr reden. Ich muss ihre Stimme hören.«

Octavio sagte, er glaube, Allison würde das Weite suchen, wenn sie wüsste, dass er mit ihrer Mutter gesprochen habe, und deshalb sei es besser, wenn Doris nach Florida käme und ihre Tochter überraschte.

So entzückt Doris Fitch über diese Nachricht auch war, war sie doch auch klug und vorsichtig genug, einen Beweis dafür zu fordern, dass ihre Tochter tatsächlich in dem Motel arbeite, wenn sie schon nicht mit ihr sprechen konnte.

»Sie hat mir erzählt, dass Sie, als Allison klein war, so acht oder neun, mit Fingerpuppen Theater gespielt haben«, sagte Octavio. »Ganze Szenen aus dem Zauberer von Oz haben Sie für sie nachgespielt, und sie mochte das so gerne.«

Doris Fitch dachte, sie müsse sterben.

»Ich fliege gleich morgen«, sagte sie. »Sagen Sie mir genau, wo ich Sie finde.«

Octavio gab ihr Namen und Adresse des Hotels. »Wenn Sie ankommen, sagen Sie’s einfach dem Taxifahrer. Er wird es schon finden.«

Dann legte er auf. Er war sehr zufrieden mit sich. Er hatte ein gutes Werk getan.

Adele – Allison – würde Augen machen.