Vierundsechzig
Im Zimmer war es jetzt so still wie zuvor, als ich zum ersten Mal den Namen Bridget erwähnt hatte. Morris blickte ungläubig Lewis an, dann hinunter auf Nicole.
»Was in Gottes Namen, haben Sie gemacht?«, fragte er ihn.
»Was ich immer tue«, sagte Lewis. »Mich um Ihre und Howards Probleme kümmern.«
Da griff Morris in seine Jacke. Jetzt hielt auch er eine Pistole in der Hand. Ein Justizminister hatte wahrscheinlich immer eine Waffe dabei. Lewis schien instinktiv zu wissen, was Morris vorhatte, deshalb zielte er bereits auf Morris’ Stirn, als dieser auf seine zielte.
Reglos standen sie da, ihre Waffen auf den jeweils anderen gerichtet.
»Wir brauchen jetzt alle einen klaren Kopf«, sagte Howard.
Ohne Lewis aus den Augen zu lassen sagte Morris zu Howard: »Niemand tötet für mich. Niemand bringt um meinetwillen andere Menschen um.«
»Es ist aber schon geschehen«, sagte Howard leise. Er stand hinter Morris. »Es wird auch nicht besser, wenn du jetzt Lewis erschießt. Wir brauchen ihn.«
»Herrgott, Howard, halt die Klappe.«
Lewis stand mit durchgestreckten Armen da, den Finger am Abzug, die Waffe immer noch direkt auf Morris’ Kopf gerichtet. Seine Haltung deutete darauf hin, dass er mit dieser Situation vertrauter war als Morris, doch der Justizminister sah nicht minder entschlossen aus. Auch er war bereit zu schießen, wenn es sein musste.
»Nein«, sagte Howard. »Du musst mir zuhören. Es ist schon einiges um deinetwillen geschehen. Schlimme Dinge. Hässliche Dinge. Dinge, von denen du dich nicht wirst distanzieren können, sollten sie jemals ans Tageslicht kommen. Du wirst niemals in der Lage sein, die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass du sie nicht selbst angeordnet hast. Morris, hör mir zu. Du wanderst für immer hinter Gitter. Nicht nur ich, nicht nur Lewis. Wir alle. Du siehst es vielleicht nicht, aber du hast Blut an den Händen.«
Morris und Lewis zielten noch immer aufeinander.
»Und es kommt noch schlimmer«, fuhr Howard fort. »Die ganze Welt wird glauben, dass du Bridget umgebracht hast. Man wird glauben, du hast sie umbringen lassen, Morris. Ich weiß, du willst tun, was du für richtig hältst, aber dazu ist es längst zu spät. Und es werden Dinge über sie herauskommen. Über Bridget. Obwohl …« Er verstummte kurz. »Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.«
Morris atmete durch die Nase. Ein und aus, ein und aus, seine Nüstern blähten sich mit jedem erregten Atemzug. Dann, so unvermittelt, wie er sie gezogen hatte, senkte er seine Waffe und sah zu Boden. Ein Eingeständnis der Niederlage. Er steckte die Pistole zurück in seine Jacke.
Lewis ließ langsam den Arm sinken, hielt seine Waffe aber weiterhin fest umklammert.
Es wäre zwar durchaus in meinem Interesse gewesen, wenn Morris Lewis erschossen hätte, trotzdem atmete ich wie alle anderen auf. Ich warf einen Blick auf Thomas. Er musste mit den Nerven völlig am Ende sein. Doch er hatte die Augen geschlossen. Wahrscheinlich schon die ganze Zeit.
»Thomas«, sagte ich. »Du kannst die Augen wieder aufmachen.«
Er tat es, sah kurz zu Nicoles Leiche auf dem Boden, dann zu mir. Er sagte nichts, aber seine Augen flehten mich an, uns hier rauszubringen. Meine hatten darauf keine beruhigende Antwort.
Morris stand kopfschüttelnd da. Lewis und Howard beobachteten ihn aufmerksam. Was würde er als Nächstes tun?
Morris wandte sich um, drängte sich an Howard vorbei, riss den Vorhang zur Seite und marschierte zum Ausgang.
»Morris?«, sagte Howard.
»Was macht er da, verdammt noch mal?«, fragte Lewis.
Howard ging Morris hinterher. Ich merkte, dass Lewis das auch vorhatte. Er sah Thomas und mich kurz an. Offenbar machte er sich keine Sorgen, wir könnten ihm davonlaufen. Dann folgte er den beiden Männern.
Ich hörte wie die Tür geöffnet, aber sofort wieder geschlossen wurde. Wahrscheinlich hatte Morris gehen wollen, einer der beiden anderen hatte jedoch die Tür zugeschlagen, um ihn daran zu hindern. Dann fingen sie an zu streiten, sie redeten alle gleichzeitig. Ich konnte sie nicht verstehen, und im Moment war mir das auch egal.
Wenn Thomas und ich überhaupt eine Chance hatten, dann jetzt.
Ich beugte mich vor, um mit beiden Füßen festen Halt auf dem Holzboden zu bekommen. Meine Beine hatte Lewis nicht an den Stuhl gefesselt, ich konnte mich also ein wenig bewegen.
»Was machst du?«, fragte Thomas.
»Psst!«
So gut es mit dem Stuhl am Leib ging, watschelte ich hinter Thomas. Vorsichtig, damit mein Stuhl nicht über den Boden kratzte, setzte ich ihn ab. Jetzt saßen wir Rücken an Rücken. Ich hätte mir nicht so viel Mühe machen müssen, denn bei der hitzigen Debatte im vorderen Teil des Ladens war es unwahrscheinlich, dass sie irgendwas von hinten hörten. Und da auch der Vorhang wieder zugefallen war, konnte man uns von vorne auch nicht sehen.
Ich setzte mich so nahe an Thomas heran, dass ich mit den Fingern das Klebeband erreichte, mit dem seine Handgelenke an den Stuhl gefesselt waren.
»Wir kommen hier raus«, sagte ich. Mit den Fingern beider Hände bemühte ich mich, das Klebeband zu fassen zu bekommen, um es abzureißen. Es waren mehrere Schichten, und die nur mit den Fingerspitzen zu lösen war eine mühselige Arbeit. Wenn ich sie nur an einer winzigen Stelle einreißen könnte …
»Mach schnell«, flüsterte Thomas.
»Geduld.«
»Ray, du hättest mir sagen müssen, dass du mich für einen Gangster arbeiten lässt.«
»War doch alles Schwachsinn«, flüsterte ich und mühte mich weiter mit dem Band ab. »Das hab ich erfunden, um Zeit zu schinden.«
»Oh«, sagte er. »Das war aber sehr schlau.«
»– willen, nein, du kannst doch nicht –«, rief Morris. Die ersten verständlichen Worte, die ich von draußen hörte, seit die drei das Hinterzimmer verlassen hatten.
Inzwischen war es mir tatsächlich gelungen, das Band ein wenig einzureißen. Langsam wurde der Riss größer. »Es fühlt sich lockerer an«, sagte Thomas.
»Wenn du die Hände frei hast, bindest du mich los, und wir hauen ab.«
»Gut«, sagte er. »Ray, ich weiß gar nicht, wo wir sind.«
»Sobald wir auf der Straße sind, weißt du’s. Da bin ich mir sicher.«
Ich vergrößerte den Riss um einen weiteren Zentimeter, spürte, dass das Band jeden Moment durch sein musste.
»Geschafft«, sagte Thomas. »Meine Hände bekomm ich frei, aber da ist noch so viel Klebeband oben rum.«
»Beeil dich.«
Ich hörte, wie Thomas an dem Band riss. Ich drehte mich mitsamt dem Stuhl um und sah ihm zu, wie er seine Hände heftig gegeneinander bewegte, um sie aus den Bandresten zu befreien. Dann machte er sich an die Fessel um seine Taille.
»Gleich hast du’s«, sagte ich.
Die Männer stritten nicht mehr ganz so laut, redeten aber noch immer.
»Schneller«, flüsterte ich.
»Bin gleich so weit«, sagte Thomas. Im nächsten Moment stand er auf. »Jetzt du.«
Klar und deutlich hörte ich, wie Lewis sagte: »Ich seh mal nach den beiden.«
»Lauf«, flüsterte ich.
»Dauert nur eine Sekunde«, sagte mein Bruder und fing an, an dem Band um meine Handgelenke zu zupfen.
Lewis’ Schritte kamen näher.
»Keine Zeit!«, flüsterte ich eindringlich. »Los! Renn! Hol Hilfe!«
Ich spürte Thomas’ Panik. Er wollte nicht von mir weg.
»Aber –«
»Hau ab, verdammt noch mal!«
Das half. Durch die Seitentür rannte er hinaus auf den kurzen Flur, über den wir von der Straße hereingekommen waren. Er stieß die Tür auf und war verschwunden.
»Ja, ja«, sagte Lewis. Er war anscheinend kurz stehen geblieben. »Keine Sorge.«
Eine Sekunde, bevor Lewis hereinkam, warf ich einen Blick auf Nicole. Warum war da so wenig Blut auf dem Boden?