Vier

Sagen wir, du wohnst im Hotel Pont Royal und möchtest in den Louvre, wie kommst du da hin?«

»Was?«, fragte ich. »Von welcher Stadt redest du überhaupt?«

Er seufzte und sah mich über den Küchentisch hinweg traurig an, als wäre ich ein Kind, das ihn enttäuscht hat, weil es nicht bis fünf zählen kann. Wir sahen uns sehr ähnlich, Thomas und ich. Wir waren beide eins achtzig groß und hatten schwarzes Haar, das sich schon zu lichten begann. Allerdings wog Thomas ein paar Pfund mehr als ich. Ich war der schlanke Vince Vaughn aus Swingers, Thomas der fleischigere Vince Vaughn aus Trennung mit Hindernissen. Ich sah eindeutig gesünder aus, doch das lag nicht am Körperumfang. Wenn man das Haus kaum verließ und dreiundzwanzig Stunden am Tag in seinem Zimmer verbrachte – Thomas schaffte es, Frühstück, Mittagessen und Abendessen zu drei Zwanzig-Minuten-Pausen zu komprimieren – brauchte man sich über eine ungesunde, käsige Gesichtsfarbe und eine beinahe krankhafte Blässe nicht zu wundern. Wahrscheinlich litt er an Vitamin-D-Mangel. Was er brauchte, war eine Woche auf den Bermudas. Da war er zwar noch nie gewesen, trotzdem hätte er mir mit Sicherheit die Namen aller dortigen Hotels samt Adresse sagen können.

»Ich sagte Louvre. Was glaubst du wohl, von welcher Stadt ich da rede? Louvre, Louvre, denk mal nach.«

»Ja, natürlich«, sagte ich. »Paris. Du redest von Paris?«

Er nickte aufmunternd, ja direkt begeistert. Er war mit seinem Teller Hackbraten aus der Tiefkühltruhe schon fertig, während ich von meinem noch nicht mal die Hälfte gegessen hatte. Mehr würde ich wahrscheinlich auch nicht hinunterbringen. Da hätte ich noch lieber Schaumpappe mit Butter drauf gegessen. Er saß auf seinem Stuhl, den Oberkörper schon der Treppe zugewandt, so, als mache er sich bereit, im nächsten Moment aufzuspringen und nach oben zu stürmen. »Gut, du willst also zum Louvre. Wie gehst du?«

»Ich habe keine Ahnung, Thomas«, sagte ich müde. »Ich weiß, wo der Louvre ist. Ich war auch schon im Louvre. Mit siebenundzwanzig hab ich sechs ganze Tage dort verbracht, als ich in Paris war. Ich habe einen Monat in Paris gelebt. Einen Kunstkurs besucht. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo das Hotel sein soll, von dem du redest. Ich hab nicht in einem Hotel gewohnt, sondern in einem Hostel.«

»Das Pont Royal«, sagte er.

Ich sah ihn verständnislos an und wartete.

»In der Rue de Montalembert«, fügte er hinzu.

»Verdammt noch mal, Thomas, was weiß denn ich –«

»Die geht direkt von der Rue du Bac ab. Komm schon. Es ist ein altes Hotel, ganz aus grauem Stein, hat eine Drehtür, die aussieht, als wäre sie aus Nussbaum oder so, und gleich daneben ist ein Röntgenlabor oder etwas in der Art, da steht nämlich Mammographie und Radiologie über den Fenstern, und in der Etage darüber … das könnten Wohnungen sein, da stehen nämlich Pflanzen in Tontöpfen vor den Fenstern, und insgesamt hat das Haus acht Geschosse, und links neben dem Hotel ist ein Restaurant, das sehr teuer aussieht, mit einer schwarzen Markise und dunklen Fenstern, und es stehen keine Tische und Stühle davor wie sonst meistens vor Pariser Cafés, und –«

Das alles aus dem Gedächtnis.

»Ich bin echt müde, Thomas. Ich musste heute zu Harry Peyton.«

»Nichts ist leichter, als von hier zum Louvre zu kommen. Man kann ihn fast schon sehen, wenn man aus dem Hotel kommt.«

»Willst du gar nicht wissen, wie’s beim Anwalt war?«

Er gestikulierte eifrig vor meiner Nase herum. »Du gehst über die Rue de Montalembert und dann über so ein dreieckiges Stück Gehsteig, und dann bist du in der Rue du Bac, und dann gehst du rechts und geradeaus, dann überquerst du die Rue de l’Université, dann weiter geradeaus, über die Rue de Verneuil – ich weiß nicht, ob ich das alles richtig ausspreche, ich hab ja in der Highschool nicht Französisch gehabt – und da an der Ecke ist dieser Laden mit den süßen Teilchen im Schaufenster, die sehen echt lecker aus, und Brot gibt es da auch, und dann kommt die Rue de Lille, aber du gehst immer weiter und –«

»Mr. Peyton hat gesagt, Dad hat sein Testament so gemacht, dass uns das Haus gemeinsam gehört.«

»– und wenn du geradeaus schaust, dann siehst du ihn schon. Den Louvre, mein ich. Obwohl er am anderen Flussufer steht. Du gehst weiter, dann über die Straße, die heißt Quai Anatole France, aber nur links, rechts heißt sie Quai Voltaire, und du hältst dich leicht rechts, gehst aber über die Brücke drüber. Das ist der Pont Royal. Ich glaube Pont heißt Brücke. Und wenn du auf der anderen Seite bist, stehst du direkt davor. Siehst du, wie einfach das war? Da muss man nicht ständig abbiegen, mal links, mal rechts. Du gehst raus aus dem Hotel, einmal rechts und gleich bist du da. Jetzt machen wir was Schwierigeres. Sag mir den Namen eines Hotels in irgendeinem anderen Stadtteil, und ich sag dir, wie du hinkommst. Auf dem kürzesten Weg. Manchmal gibt es hundert verschiedene Möglichkeiten an ein und denselben Ort zu kommen, aber die Entfernung ist immer ungefähr dieselbe. Wie in New York. Na ja, nicht ganz wie in New York, in Paris laufen die Straßen nämlich kreuz und quer und nicht normal zueinander, aber du weißt schon, was ich meine, oder?«

»Thomas, du musst mir jetzt einen Moment zuhören«, sagte ich geduldig.

Er blinzelte ein paarmal. »Was ist denn?«

»Wir müssen über Dad reden.«

»Dad ist tot.« Wieder sah er mich an, als wäre ich ein bisschen minderbemittelt. Dann huschte etwas wie ein Anflug von Trauer über sein Gesicht, und er sah aus dem Fenster. »Ich hab ihn gefunden. Unten am Bach.«

»Ich weiß.«

»Er war spät dran mit dem Abendessen. Ich hab drauf gewartet, dass er klopft und sagt, Zeit zum Essen, und ich hatte schon richtig Hunger, also bin ich runtergegangen, um zu sehen, was los ist. Zuerst hab ich das ganze Haus abgesucht. Ich bin in den Keller gegangen, hätte ja was mit der Heizung sein können oder so, aber da war er auch nicht. Sein Wagen war da, also konnte er nicht weit sein. Als ich ihn im Haus nicht gefunden hab, bin ich rausgegangen. Als Erstes hab ich in die Scheune geschaut.«

Das hatte ich alles schon mal gehört.

»Aber da war er auch nicht. Dann bin ich überall rumgegangen, und als ich dann den Hang runterschaue, seh ich ihn da unten liegen, der Traktor auf ihm drauf.«

»Ich weiß, Thomas.«

»Ich hab den Traktor hochgestemmt. Das war echt schwer, aber ich hab’s geschafft. Aber Dad ist nicht aufgestanden. Da bin ich wieder hochgelaufen und hab den Notruf gewählt. Die sind gekommen und haben gesagt, Dad ist tot.«

»Ich weiß«, sagte ich noch einmal. »Das muss schlimm für dich gewesen sein.«

»Er ist noch immer da unten.«

Der Traktor. Ich musste ihn holen und in die Scheune bringen. Seit dem Unfall hatte er dort unten gestanden, ich wusste nicht einmal, ob er anspringen würde. Gut möglich, dass das Benzin ausgelaufen war, schließlich war er ja umgekippt. In der Scheune stand ein halbvoller Benzinkanister, falls ich welches brauchte.

»Es gibt einiges zu besprechen«, sagte ich. »Was getan werden muss, jetzt, wo Dad … wo er nicht mehr da ist.«

Thomas nickte und überlegte. »Ich frage mich, ob ich jetzt vielleicht auch Karten an die Wände in seinem Zimmer hängen kann. Der Platz reicht nicht mehr. Er und Mom haben ja gesagt, dass ich im Erdgeschoss und im Treppenaufgang nichts aufhängen darf, aber sein Zimmer ist im ersten Stock. Und da wollte ich wissen, wie du darüber denkst. Er schläft da ja nicht mehr. Und Mom ist auch nicht mehr da, also schläft da jetzt gar niemand mehr.«

So ganz stimmte das nicht. Ich hatte zwar die ersten Tage in dem unbenutzten Zimmer geschlafen, das Mom immer für mich bereitgehalten hatte. Für den Fall, dass ich zu Besuch kam, was allerdings nicht allzu oft geschah. Doch letzte Nacht war ich von diesem Zimmer, das neben dem von Thomas lag, in das weiter hinten gelegene Zimmer meines Vater umgezogen, weil mir das ständige Mausgeklicke aus Thomas’ Zimmer den letzten Nerv raubte. Einmal war ich zu meinem Bruder gegangen, um ihm zu sagen, er solle Schluss machen, doch er hatte mich ignoriert. Also zog ich um. Anfangs fühlte es sich seltsam an, unter die Decke meines Vaters zu schlüpfen, aber das dauerte nicht lange. Ich war müde, und Sentimentalität war nie mein Problem gewesen.

»Du kannst nicht allein in diesem Haus leben«, sagte ich.

»Ich bin nicht allein. Du bist doch hier.«

»Irgendwann muss ich wieder nach Hause.«

»Du bist doch zu Hause. Hier ist zu Hause.«

»Aber es ist nicht mein Zuhause, Thomas. Ich wohne in Burlington.«

»Burlington, Vermont. Burlington, Massachusetts. Burlington, North Carolina. Burlington, New Jersey. Burlington, Washington. Burlington, Ontario, Ka…«

»Thomas.«

»Ich wusste nicht, ob du weißt, wie viele Burlingtons es sonst noch gibt. Du musst genau sein. Du musst Burlington, Vermont, sagen, sonst wissen die Leute doch nicht, wo du wirklich wohnst.«

»Ich dachte, du weißt es«, erwiderte ich. »Soll ich das tun? Soll ich wirklich jedes Mal, wenn ich nach Burlington zurückfahre, dazusagen ›Vermont‹, Thomas?«

»Sei nicht böse auf mich«, sagte er.

»Ich bin nicht böse. Aber wir müssen über ein paar Dinge reden.«

»Na gut.«

»Ich mach mir Sorgen, was aus dir wird, so ganz allein, wenn ich wieder zu mir nach Hause fahre.«

Thomas schüttelte den Kopf, als gäbe es da gar nichts, um das ich mich sorgen müsste. »Ich komm zurecht.«

»Dad hat hier alles gemacht«, fuhr ich fort. »Er hat gekocht, geputzt, die Rechnungen bezahlt. Er ist zum Einkaufen in die Stadt gefahren, er hat sich darum gekümmert, dass die Heizung funktioniert, und den Heizungsmenschen angerufen, wenn nicht. Alles, was sonst kaputt ging, hat er selbst repariert. Wenn das Licht ausging, ist er in den Keller gegangen und hat den Strom wieder eingeschaltet. Weißt du, wo der Schaltkasten ist, Thomas?«

»Die Heizung funktioniert bestens.«

»Du hast keinen Führerschein«, sagte ich. »Wie willst du Lebensmittel einkaufen?«

»Ich werde sie mir bringen lassen.«

»Wir sind hier am Ende der Welt. Und wer soll in den Supermarkt gehen und die Sachen zusammensuchen, die du magst?«

»Du weißt, was ich mag.«

»Aber ich werde nicht da sein.«

»Aber du kannst kommen«, sagte er. »Einmal in der Woche, und mir Sachen zum Essen mitbringen und die Rechnungen bezahlen und nachschauen, ob mit der Heizung alles in Ordnung ist, und dann kannst du wieder zurückfahren. Nach Burlington.« Gleich darauf fügte er hinzu: »Vermont.«

»Und die anderen Tage? Nehmen wir mal an, du hast Essen im Haus. Kannst du dir selbst was kochen?«

Thomas sah weg.

Ich beugte mich vor und legte ihm die Hand auf den Arm. »Schau mich an.« Widerstrebend dreht er den Kopf.

»Vielleicht«, sagte ich, »könntest du dich ja ein bisschen umgewöhnen. Vielleicht kannst du ein paar von diesen Arbeiten selbst übernehmen.«

»Was meinst du damit?«

»Na, dass du dir deine Zeit vielleicht ein bisschen besser einteilen musst.«

Er sah mich ratlos an. »Ich teile mir meine Zeit sehr gut ein.«

Ich nahm die Hand von seinem Arm und legte beide Handflächen auf den Tisch. »Und zwar wie?«

»Ich tu’s einfach. Ich nütze meine Zeit sehr gut.«

»Wie sieht dein Tagesablauf aus?«

»Was für ein Tagesablauf? Unter der Woche oder am Wochenende?« Er wollte Zeit schinden.

»Würdest du sagen, dass dein Tagesablauf von Montag bis Freitag sich sehr von dem unterscheidet, was du am Wochenende machst?«

Er überlegte. »Wahrscheinlich nicht.«

»Dann ist es egal. Such dir einen Tag aus.«

Jetzt sah er mich misstrauisch an. »Machst du dich lustig über mich? Willst du mich runtermachen?«

»Du hast gesagt, du nützt deine Zeit vernünftig, also sag mir, wie.«

»Also ich steh gegen neun auf und geh mich duschen, und dann macht Dad mir Frühstück, so um halb zehn, und dann mach ich mich an die Arbeit.«

»Die Arbeit«, wiederholte ich. »Erzähl mir was darüber.«

»Du weißt doch, was ich mache.«

»Schon, aber ich glaube nicht, dass du das schon mal als Arbeit bezeichnet hast. Erzähl mir davon.«

»Nach dem Frühstück setze ich mich an die Arbeit, und ich mache eine Pause zum Mittagessen, und dann arbeite ich wieder, bis es Zeit ist fürs Abendessen, und dann arbeite ich weiter, bis ich ins Bett geh.«

»Und das ist wann? So um eins, zwei, drei Uhr morgens?«

Er nickte.

»Erzähl mir von der Arbeit.«

»Warum tust du das, Ray?«

»Vielleicht denke ich ja, dass du dich, wenn du ein bisschen weniger Zeit auf diese Arbeit verwenden würdest, besser um dich selbst kümmern könntest. Thomas, es ist kein Geheimnis, dass es da ein paar Probleme gibt, an denen du zu knabbern hast, und zwar schon sehr lange. Und die werden auch nicht einfach weggehen, das versteh ich. Genau wie Dad und Mom es verstanden haben. Und verglichen mit anderen, denen es genauso geht wie dir, die aber die Stimmen nicht ausblenden können oder andere Symptome haben, geht es dir wirklich gut. Du stehst auf, du ziehst dich selbst an, du und ich, wir können hier sitzen und uns vernünftig unterhalten.«

»Ich weiß«, sagte Thomas leicht indigniert. »Ich bin vollkommen normal.«

»Aber die Zeit, die du bei … deiner Arbeit verbringst, hält dich davon ab, dich allein um dieses Haus zu kümmern oder allein hier zu wohnen, und wenn du dazu nicht fähig bist, dann müssen wir uns nach einer anderen Lösung umsehen.«

»Was meinst du damit? Eine andere Lösung?«

Ich zögerte. »Dass du umziehst. Vielleicht in eine Wohnung, in der Stadt. Oder, und das muss ich mir erst noch alles durch den Kopf gehen lassen, dass du wohin ziehst, wo andere Menschen leben, die ähnliche Probleme haben wie du, wo es Leute gibt, die sich um alles kümmern, worum du dich nicht selbst kümmern kannst.«

»Warum sagst du dauernd ›Probleme‹? Ich hab keine Probleme, Ray. Ich habe ein Nervenleiden, das wir sehr gut im Griff haben. Wenn du Arthritis hättest, würdest du dann wollen, dass ich sage, du hast ein Problem mit deinen Knochen?«

»Tut mir leid. Ich wollte nur …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Da, wo ich hingehen soll, ist das ein Krankenhaus? Für Verrückte?«

»Ich hab nie gesagt, dass du verrückt bist, Thomas.«

»Ich will nicht in einem Krankenhaus wohnen. Das Essen dort ist fürchterlich.« Er schaute auf den Hackbraten, den ich nicht aufgegessen hatte. »Sogar noch schlimmer als das. Und ich glaube nicht, dass es in einem Krankenhauszimmer Internet gibt.«

»Von einem Krankenhaus ist doch gar nicht die Rede. Aber vielleicht eine Art, ich weiß nicht, eine Art betreute Wohngemeinschaft. Da könntest du wahrscheinlich sogar selbst kochen. Ich könnte es dir beibringen.«

»Ich kann hier nicht weg«, sagte Thomas sachlich. »Mein ganzes Zeug ist hier. Meine Arbeit ist hier.«

»Thomas, du verbringst den lieben langen Tag am Computer, bis auf die Stunde, die du fürs Essen brauchst, und die paar Stunden Schlaf. Tag für Tag, Monat für Monat. Das ist nicht gesund.«

»Aber erst in letzter Zeit«, erwiderte er. »Vor ein paar Jahren hatte ich nur meine Landkarten und meine Atlanten und meinen Globus. Da gab es noch kein Whirl360, das diese 360-Grad-Panoramabilder machte. Jetzt ist alles viel besser. Auf so etwas warte ich schon mein ganzes Leben.«

»Du hattest schon immer diese Kartenmanie, aber –«

»Interesse. Ich habe mich schon immer für Landkarten interessiert. Ich sag ja auch nicht, du hast eine Zeichenmanie, nur weil du doofe Bildchen von Menschen zeichnest. Ich hab das eine von Obama in diesem Magazin gesehen, das mit dem weißen Mantel und dem Stethoskop, wo er aussieht, als wäre er Arzt. Ich fand, da sah er doof aus.«

»Das war ja genau der Sinn der Sache«, sagte ich. »Das war das, was die Leute von dem Magazin wollten.«

»Und? Würdest du das als Manie bezeichnen? Ich glaube, das ist einfach deine Arbeit.«

Nicht ich war hier das Thema. »Diese neue Technik«, fuhr ich fort, »dieses Whirl360, ist nicht gerade ideal für dein Interesse an Karten. Du marschierst die Straßen von allen möglichen Städten der Welt ab, und ich gebe gern zu, dass das wirklich interessant sein kann, aber Thomas, du tust nichts anderes mehr.«

Er sah wieder zu Boden.

»Hörst du? Du gehst nicht aus dem Haus. Du triffst dich mit niemandem. Du liest keine Bücher und keine Zeitschriften. Du guckst nicht mal fern. Du kommst nie runter und schaust dir einen Film an.«

»Es läuft ja auch nichts Gescheites«, sagte er. »Die Filme sind sehr schlecht. Und sie sind voller Fehler. Sie sagen zum Beispiel, sie sind in New York, aber am Hintergrund kannst du erkennen, dass es Toronto oder Vancouver oder irgendwas anderes ist.«

»Du sitzt nur am Computer und klickst dich von einer Straße zur nächsten. Hör mal, du willst die Welt sehen? Such dir eine Stadt aus. Ich flieg mit dir nach Tokio. Ich bring dich nach Bombay. Du willst Rom sehen? Wir fliegen hin. Wir setzen uns in ein Restaurant am Trevi-Brunnen, und du kannst dir Pizza bestellen oder Pasta und hinterher ein Gelato, und das wird der größte Spaß sein, den du je erlebt hast. Du kannst dir die Stadt anschauen, in echt und nicht irgendein lebloses Bild auf einem Computermonitor. Du kannst berühren, was du siehst, die Ziegel von Notre- Dame unter deinen Fingerspitzen spüren, den Nachtmarkt in der Temple Street in Hongkong riechen, dir in Tokio Karaoke anhören. Such dir eine Stadt aus, und ich bring dich da hin.«

Thomas sah mich unbeeindruckt an. »Nein. Das will ich doch gar nicht. Mir gefällt’s hier sehr gut. Ich hole mir keine Krankheiten, verlier mein Gepäck, lande in einem Hotel mit Bettwanzen oder werde ausgeraubt oder krank in einem Land, dessen Sprache ich nicht spreche. Und außerdem hab ich nicht genug Zeit.«

»Wie, nicht genug Zeit?«

»Die Zeit reicht nicht, um sich alles persönlich anzusehen. Hier bin ich schneller, ich kann meine Arbeit hier schneller erledigen.«

»Thomas, was für eine Arbeit?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Da muss ich erst klären, ob ich dir davon erzählen darf.«

Ich stieß einen langen Seufzer aus und strich mir mit der Hand über den Kopf. Ich war erledigt. Ich beschloss, das Thema zu wechseln.

»Kannst du dich noch an Julie McGill erinnern? Aus der Schule?«

»Ja. Was ist mit ihr?«

»Sie war bei der Beerdigung. Sie hat nach dir gefragt. Ich soll dir hallo von ihr sagen.«

Thomas sah mich erwartungsvoll an. »Und? Wirst du’s sagen?«

»Was?« Dann begriff ich. »Hallo. Wenn du mitgekommen wärst, hätte sie’s dir selbst sagen können.« Keine Reaktion darauf. Mein Ärger über seine Weigerung hinzugehen war noch nicht verflogen. »War sie mit dir in der Klasse?«

»Nein. Sie war ein Jahr über mir und ein Jahr unter dir.« Thomas schwieg einen Moment. »Sie hat in dem Haus Nummer 34 an der Arbor Street gewohnt, das hat im Erdgeschoss eine Tür in der Mitte und links und rechts ein Fenster, und im ersten Stock sind es drei Fenster, und das Haus ist grün gestrichen, und auf der rechten Seite ist ein Schornstein, und auf dem Briefkasten sind Blumen draufgemalt. Sie war immer nett zu mir. Ist sie noch so hübsch?«

Ich nickte. »Ja. Und ihr Haar ist immer noch schwarz, aber jetzt trägt sie es kurz.«

»Hat sie auch noch diese Superfigur?« In seiner Frage lag nicht eine Spur von Lüsternheit, ebenso wenig als hätte er gefragt, ob sie noch immer einen Subaru fahre.

»Ich würde sagen ja«, antwortete ich. »Hattet ihr … ist da zwischen euch was gelaufen?«

»Was gelaufen?« Er hatte wirklich keine Ahnung.

»Wart ihr zusammen aus?«

»Nein.«Ich hätte es mir denken können. Thomas hatte nie eine feste Freundin gehabt und war, soweit ich mich erinnern konnte, überhaupt kaum mit Mädchen ausgegangen. Sein seltsames, nach innen gewandtes Wesen war da bestimmt keine Hilfe, allerdings war ich mir auch nie sicher, ob er sich überhaupt für Mädchen interessierte. Während ich früher Sexhefte unter der Matratze versteckte, bunkerte Thomas bereits seine Landkarten.

»Aber ich mochte sie«, fuhr er fort. »Sie hat mich gerettet.«

Ich legte den Kopf schief und versuchte, mich zu erinnern. »Damals, bei dieser Geschichte mit den Landry-Zwillingen?«

Thomas nickte. Er war auf dem Heimweg von der Schule gewesen, als Skyler und Stan Landry, zwei Rowdys mit dem IQ einer Amöbe, sich ihm in den Weg stellten und ihn aufzogen, weil er im Unterricht Selbstgespräche führte. Sie fingen gerade an, ihn herumzuschubsen, da tauchte Julie McGill auf.

»Was hat sie denn gemacht?«

»Sie hat sie angebrüllt, sie sollen mich in Ruhe lassen. Sich zwischen sie und mich gestellt. Feiglinge hat sie sie genannt. Und noch was anderes.«

»Was denn?«

»Wichser.«

Ich nickte. »Daran erinnere ich mich.«

»War schon irgendwie peinlich, sich von einem Mädchen in Schutz nehmen zu lassen«, gab Thomas zu. »Aber die hätten mich nach Strich und Faden verdroschen, wenn sie nicht vorbeigekommen wäre. Gibt’s Nachtisch?«

»Hä? Ah, keine Ahnung. Ich glaub, irgendwo in der Kühltruhe hab ich eine Packung Eis gesehen.«

»Könntest du’s mir hochbringen? Ich war länger hier unten, als ich vorhatte, und ich muss unbedingt zurück«, sagte er, bereits im Stehen.

»Ja, sicher«, antwortete ich.

»Ich hab da was gesehen«, sagte Thomas.

»Was?«

»Ich hab was gesehen. Am Computer. Das darfst du dir bestimmt ansehen. Ich glaube nicht, dass das gegen irgendwelche Sicherheitsbestimmungen verstößt.«

»Was hast du denn gesehen?«

»Du solltest es dir selbst angucken. Erklären würde zu lang dauern.«

»Kannst du mir einen Tipp geben?«

»Du solltest es dir selbst angucken«, wiederholte er. Und dann: »Wenn du mir das Eis hochbringst.«