Elf

Dad hatte keine Bedenken, Thomas eine Weile allein zu lassen, genauso wenig wie ich. Mein Bruder hatte zwar einige seltsame Ideen und Marotten, doch gab es nicht den geringsten Grund zur Sorge, er könne zu einer Gefahr für andere oder für sich selbst werden. Er hat nie eine Neigung zum Selbstmord gezeigt oder einen anderen Menschen attackiert. Mein Vater fuhr ohne ihn nach Promise Falls hinein, um Lebensmittel einzukaufen oder andere Besorgungen zu machen. Und, wie ich von Harry gehört hatte, um in einem Diner zu sitzen, sich Kaffee zu bestellen und aus dem Fenster zu schauen.

Ich hatte Thomas zu Hause gelassen, als er sich geweigert hatte, an Dads Beerdigung teilzunehmen. Das hatte mir zwar echt gestunken, aber Angst, dass er während meiner Abwesenheit irgendein Unheil anrichten könnte, hatte ich nicht gehabt. Einen Vorteil hatte es immerhin, dass er so gut wie nie sein Zimmer verließ und nur virtuell unterwegs war: Er stellte keinen Unfug an, brachte sich nicht in Gefahr. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war, dass er seine Augen überanstrengte oder sich durch dauerhafte Fehlbelastung einen Mausarm holte, wenn er den ganzen Tag nichts anderes tat, als auf diese Bildschirme zu starren und mit seiner Maus herumzuklicken.

Also machte ich mir keine Gedanken, als ich Thomas am Nachmittag mitteilte, dass ich eine Weile außer Haus sein würde. »Ich bring was zum Abendessen mit.«

»Kentucky Fried Chicken«, sagte er mit dem Rücken zu mir, während er irgendeine Straße in Bolivien oder Belgien oder weiß der Teufel wo entlangspazierte.

»Ich krieg das Zeug nicht runter«, sagte ich. »Ich dachte eher an Jumbosandwiches.«

»Keine schwarzen Oliven«, sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

Fünfzehn Minuten später hatte ich den Audi auf dem Parkplatz des Promise Fall Standard abgestellt. Es war schon fast vier, und womöglich wartete Julie McGill schon auf mich. Doch als ich das Foyer betrat, sah ich, dass meine Sorge unbegründet war. Ich hätte ja den Menschen am Empfang gebeten, ihr zu sagen, dass ich hier sei, nur saß da kein Mensch. Es gab nur ein Telefon auf dem Tisch, das mich aufforderte, eine Nebenstelle zu wählen. Daneben klebte eine Liste von Nebenstellen auf dem Tisch.

Ich suchte gerade Julies Namen, als ich ein eiliges Klacken auf der nicht weit vom Empfangstisch entfernten Treppe hörte.

»Hey«, sagte Julie, »ich sehe, du hast dich schon mit unserer Rezeptionistin bekannt gemacht.«

Sie sagte, wenn wir ein Bier trinken wollten, dann sei Grundy’s die nächste Adresse. Offenbar ein neues Lokal. Vor meinem Umzug nach Burlington hatte es das jedenfalls noch nicht gegeben. Trotzdem konnte es gut und gerne mehr als anderthalb Jahrzehnte alt sein. Julie trug schwarze Stiefel, Jeans, ein weißes Herrenhemd mit Button-down-Kragen und eine speckige schwarze Lederjacke. Mit der überdimensionalen schwarzen Handtasche, die ihr von der Schulter hing und aussah, als böte sie reichlich Platz für einen Presslufthammer und mehrere Betonblöcke, kam sie ein wenig schief daher. Durch ihr schwarzes Haar zogen sich ein paar graue Strähnen, die nicht aussahen, als seien sie absichtlich dort plaziert worden.

Wir setzten uns in eine Nische. Julies Tasche gab ein dumpfes Geräusch von sich, als sie sie neben sich auf dem Boden abstellte.

»Ich schleppe immer einen Haufen unnötiges Zeug mit mir herum«, sagte sie. Sie hob eine Hand, um die Kellnerin auf sich aufmerksam zu machen, und lächelte. »Hey, Bee, das Übliche für mich, und etwas für die Dame.«

Bee sah mich an. »Ich nehme genau das, was sie nimmt.«

Als die Kellnerin unseren Tisch verließ, sagte Julie: »Noch einmal mein Beileid. Aber es ist schön, dich zu sehen. Lang ist’s her.« Sie lächelte.

»Ja«, bestätigte ich. Etwas in Julies Stimme schien anzudeuten, dass wir eine gemeinsame Vergangenheit hatten.

Jetzt grinste sie. »Du erinnerst dich nicht mehr.«

Ich öffnete den Mund, gab aber keinen Ton von mir. Dann lächelte ich und sagte: »Eigentlich wollte ich mich jetzt irgendwie durchmogeln, aber ich hab’s mir anders überlegt. Du siehst mir nicht aus wie jemand, der sich so leicht hinters Licht führen lässt.«

»Die Party bei Sadie Hawkins. Du hattest noch ein halbes Jahr bis zum Abschluss, ich war ein Jahr unter dir. Ann Paltrow hatte dich eingeladen, aber du hattest schon vorgeglüht und warst ziemlich blau, als du ankamst. Sie wurde wütend und hat dich stehen lassen, worauf du dich an mich rangemacht hast. Wie das Schicksal so spielt, hatte auch ich schon ein paar Buds intus, und im Handumdrehen waren wir im Auto deines Vaters auf dem Rücksitz zugange. Eine ganze Stunde lang. Sag bloß, du hast das vergessen.«

Ich lächelte, schluckte. »Ich hab das vergessen.«

»Dann hast du wahrscheinlich auch vergessen, dass ich ein paar Monate danach weggezogen bin und neuneinhalb Monate später –«

»O Gott!«

Sie lächelte und tätschelte mir die Hand. »Ich verarsch dich doch nur. Zumindest, was den letzten Teil betrifft. Ich meine, ich bin weggezogen, aber ich musste einfach raus hier. Ich hatte nie das Gefühl, dazuzugehören. Und auch du hast auf mich immer den Eindruck gemacht, dass du dich hier fehl am Platz fühlst. Aber du hast dich arrangiert, weil du ein – ich hoffe, du nimmst mir das jetzt nicht übel – ziemlicher Tugendbold warst.«

»Wahrscheinlich«, gab ich zu. »Und du … nicht so ganz.«

Sie lächelte. »Ich hatte so meine Sternstunden.«

»Ich erinnere mich, eine Zeitlang gab es, wenn Klausuren geschrieben wurden, Anrufe bei der Feuerwehr, dass die Schule brennt oder eine Bombe versteckt war. Damals hieß es, das warst du.«

Ihre Miene wurde todernst. »Wer tut denn so was? Das ist ja unverantwortlich.« Nach einer Pause sagte sie: »Aber ich kann schon verstehen, das jemand, der nicht wirklich gut auf einen schwierigen Test vorbereitet war, sich vielleicht in die Enge getrieben fühlt und keinen anderen Ausweg sieht, als zu so verzweifelten Mitteln zu greifen.« Und nach einer weiteren Pause fügte sie hinzu: »Und außerdem ist es nur zweimal vorgekommen.«

»Mensch, dann warst du’s also wirklich.«

»Ich mache von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch«, sagte Julie. »Aber es war ein Grund mehr, aus der Stadt zu verschwinden.«

»Ja, ich bin dann auch nicht mehr lange geblieben.«

»Und jetzt sind wir beide wieder da«, sagte sie, als die Kellnerin mit zwei Flaschen Corona kam. »Du hast wenigstens eine Entschuldigung. Ein Todesfall in der Familie.«

»Und du?«

»Ich war mal hier, mal da, hab für verschiedene Provinzblättchen gearbeitet. Damals hat sich keine Sau dafür interessiert, ob du eine abgeschlossene Journalistenausbildung hattest. Die hatte ich nämlich nicht. Als ich mich dann bei der Los Angeles Times bewarb, hatte ich bereits eine Menge Berufserfahrung. Dann fingen sie an, Stellen abzubauen, und ich war meinen Job los. Die Hälfte der anderen Zeitungen haben sich auch gesundgeschrumpft, aber just in diesen schlimmen Zeiten hatte der Standard ein paar Stellen neu zu besetzen. Eine Frau haben sie rausgeworfen, und dann war da dieser Typ, Harwood – Gott, was der für Probleme hatte! Der zog weg, um anderswo ein ganz neues Leben zu beginnen. Na, viel Glück dabei. Also bin ich zurückgekommen. Die Zeitung ist ein Scheißladen in den Händen von Wichsern, und Geld haben sie auch keins. Aber immerhin bekomm ich so viel, dass ich wenigstens einen Teil meiner Rechnungen zahlen kann, bis ich anderswo was finde. Und glaub mir, ich suche.«

Ich lachte.

»Was ist?«

»Dein Ausdruck für deine Vorgesetzten. Thomas sagt, so hast du auch die Landry-Brüder tituliert.«

Jetzt war sie mit erinnern dran. »Gott, die zwei. Dümmer als die Polizei erlaubt. Die hab ich Wichser genannt?«

»Als sie Thomas drangsalierten. Du bist dazugekommen und hast sie in die Flucht geschlagen. Es ist zwar schon ein bisschen spät, um sich zu bedanken, trotzdem: Danke.«

»Gott, das hatte ich völlig vergessen.« Sie griff nach ihrer Bierflasche, nahm einen sehr tiefen Schluck und lehnte sich zurück. »Die leben beide nicht mehr. Wusstest du das?«

»Im Ernst?«

»Waren zusammen mit dem Pick-up unterwegs. Stehen am Straßenrand. Beide besoffen. Der eine steht hinter dem Wagen, um was auf die Ladefläche zu schmeißen. Der andere bekommt das nicht mit, legt den Rückwärtsgang ein und fährt ihn über den Haufen. Hört den Schlag, steigt aus, um nachzusehen, was das war, vergisst aber, auf ›Parken‹ zu schalten. Der Wagen rollt los, er hinterher, stolpert und kommt buchstäblich unter die Räder. Tut mir nur leid, dass das vor meiner Zeit war. Darüber hätte ich wirklich gerne geschrieben.« Sie sah mich mit schuldbewusster Miene an. »Entschuldige, ich rede, ohne zu denken. Du wolltest ja mit mir reden, weil ich den Artikel über deinen Vater verfasst habe.«

Mit einem Kopfschütteln wehrte ich ihre Entschuldigung ab. »Kein Problem. Ich hab den Artikel gelesen und mich gefragt, ob du vielleicht noch mehr über die Sache weißt.«

»Eigentlich nicht.«

»Weißt du, ob es hinterher irgendwelche Ermittlungen gab?«

»Ja. Was halt bei Tod durch Unfall so üblich ist. Die Umstände sprachen ja für sich. Es gab keine gerichtliche Untersuchung. Ich hab einen kurzen Folgeartikel geschrieben, aber da standen keine Überraschungen drin, also wurde er nicht gedruckt. Ich weiß, wenn einem selbst so was passiert, dann ist das eine große Sache, und jedes Detail zählt. Aber dem Standard war’s nur eine Geschichte für einen Tag und gerade mal fünf Zentimeter wert. Ich bin im Polizeibericht des Tages darauf gestoßen, weil mir der Name Adam Kilbride ins Auge sprang, und ich wusste ja, dass er euer Vater war.«

»Ich hätte dich nicht damit belästigen sollen.«

»Schon gut«, sagte Julie. »So was, ich meine, du weißt schon, das steckt man ja nicht so einfach weg. Hör mal, gibt es irgendwas, das ich für dich tun kann oder für Thomas?«

»Nein, mach … ja, also, komm doch mal vorbei. Ich weiß, Thomas würde sich freuen, dich zu sehen. Er ist – aber das weißt du ja selbst –, er ist anders.«

»War er doch immer schon.«

»Ich glaube, jetzt noch mehr«, sagte ich.

»Er hatte doch diesen Landkartenfimmel. Hat er den noch?«

»Ja.«

Ich trank von meinem Bier. Julie hatte ihres fast ausgetrunken. »Du warst auch ein bisschen komisch, weißt du? Hast ständig gezeichnet. Und eine Sportskanone warst du auch nicht gerade.«

»Ich war Speerwerfer«, sagte ich zu meiner Verteidigung. Das stimmte auch. Das war ungefähr der einzige Sport, wenn man das überhaupt so bezeichnen kann, bei dem ich je mitmachen wollte. Und ich war ein verdammt guter Speerwerfer. Und auch Dartsspieler, bei uns im Hobbyraum im Keller.

»Speerwerfen«, sagte Julie. »Also echt. Eine der ganz großen Sportarten mit intensivem Körperkontakt. Immerhin hat sich deine ewige Zeichnerei bezahlt gemacht. Ich hab deine Illustrationen hin und wieder auch in der L.A. Times gesehen. Sie sind gut.«

»Danke.«

»Hast du in der Zwischenzeit geheiratet?«

»Nein. War aber ein-, zweimal nah dran. Und du?«

»Ich habe ein paar Monate mit einem Typ zusammengelebt, der Entspannungsmusik macht. Du weißt schon, dieses Gedudel, dass sie einem vorspielen, während man sich massieren lässt. Mit Vogelgezwitscher und Bachgemurmel im Hintergrund. Wo man sich komplett entspannt. Diese Wirkung hatte er auf mich. Ein paarmal wär ich fast ins Koma gefallen, wenn wir zusammen waren. Dann war da mal was mit einem NBA-Trainer, einem Reality-TV-Produzenten und einem Leguanzüchter.« Sie schwieg und dachte nach. »Irgendwie war ich immer ein Magnet für Leute jenseits der Normalität. Aber was soll’s, so ist Kalifornien. Vielleicht ist es ja gut, dass ich wieder hier bin.«

Aus heiterem Himmel fiel es mir wieder ein.

»Violett«, sagte ich.

»Was?«

Mit dem Zeigefinger gestikulierte ich vor ihr herum. »Deine Unterwäsche. Du hattest violette Unterwäsche an.«

Julie lächelte. »Ich dachte schon, ich hätte überhaupt keinen Eindruck bei dir hinterlassen. Das hätte mich ein bisschen gekränkt.«