Vierunddreißig

Manchmal fragte Nicole sich, wie sie hierhergekommen war.

Also nicht hierher, nach Ohio, in diese Wohnung in Dayton, in einem Haus gegenüber dem, in dem die Mutter von Allison Fitch wohnte. Hierher war sie mit dem Auto gekommen.

Obwohl – eigentlich war das schon die Frage, die sie sich stellte. Wie kam es, dass jemand, der es entgegen aller Wahrscheinlichkeit bis zu den Olympischen Spielen geschafft hatte und mit einer Silbermedaille um den Hals aus Sydney zurückgekehrt war – wie kam es, dass so jemand jetzt hier saß, um sich herum eine elektronische Abhöranlage, und darauf hoffte, das Glück möge ihn endlich zu Allison Fitch führen, damit er sie umbringen konnte?

Eine talentierte junge Sportlerin, der Tausende von Zuschauern im Stadion und weitere Millionen vor Fernsehgeräten in aller Welt beim Turnen zugesehen hatten. Wie konnte es geschehen, dass so jemand als Auftragsmörderin endete?

Von irgendetwas musste man schließlich leben, nicht wahr?

Jede andere wäre hoch erhobenen Hauptes von den Spielen zurückgekehrt. Na gut, Gold hast du nicht gewonnen, aber eine Silbermedaille hast du nach Hause gebracht, und das heißt doch, dass du verdammt nah dran warst, oder?

»Knapp daneben ist auch vorbei«, war immer der Lieblingsspruch ihres Vaters gewesen.

Und es stimmte. Silber zu gewinnen war schlimmer, als Dritte zu werden und Bronze zu bekommen. Bei Bronze sagte man sich: Immerhin bringe ich eine Medaille nach Hause, und das ist schon grandios genug, aber das Tollste daran ist, ich muss mich nicht in den Arsch beißen, weil ich so knapp am Sieg vorbeigeschrammt bin. Wurde man selbst allerdings nur Zweite und die unterschiedliche Bewertung der eigenen und der Leistung der Siegerin war auf nichts anderes zurückzuführen als auf den unerforschlichen Ratschluss der Kampfrichter, dann brachte einen das schier um den Verstand. Das unvermeidliche »was wäre, wenn«, das dann kam, machte einen mürbe. Was wäre gewesen, wenn man die Landung nicht verwackelt hätte? Was, wenn man den Kopf gerader gehalten hätte? Hatte man nicht gelächelt? Oder war es einfach die Nase, die ihnen nicht gefallen hatte?

Gab es etwas, das man hätte tun können, um Gold zu gewinnen?

Nächtelang raubte einem der Gedanke den Schlaf.

»Knapp daneben ist auch vorbei.«

Und ihr Trainer war nicht viel besser. Diese beiden durch nichts zufriedenzustellenden Männer hatten all ihre Hoffnungen und Träume in sie gesetzt. Wie hatte sie nur jemals glauben können, sie täte, was sie tat, für sich? Einzig und allein für diese beiden tat sie es. Sie hätte stolz auf sich sein können, dass sie Silber gewonnen hatte. Ihr Vater und ihr Trainer niemals.

»Sieh dir nur mal die Werbeverträge an, um die du dich gebracht hast«, sagten sie. »Millionen Dollar beim Teufel. Was für ein Leben du hättest führen können!«

Auf der ganzen Heimreise sprach ihr Vater nicht ein einziges Wort mit ihr. Und es war eine ziemlich lange Reise. Erst der Flug von Sydney nach Los Angeles, dann der Anschlussflug nach New York, dann die Fahrt zurück nach Montclair, immerhin in einer Limousine.

Ihre schulischen Leistungen ließen nach. Aus Einsen wurden Dreien und Schlechteres. Ihr Vater wollte wissen, was mit ihr los sei. War sie in Australien komplett verblödet? War da irgendwas im Wasser gewesen?

Nicole – damals hieß sie natürlich noch anders – wusste, wo das Problem lag. Diesem Mann konnte sie es ohnehin nie recht machen, wozu sich also anstrengen? Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ihre Mutter nicht gestorben wäre, als Nicole zwölf war. Diese Frau war eine erfolgreiche Immobilienmaklerin gewesen. Sie hatte es nicht nötig gehabt, sich in ihrer Tochter zu verwirklichen. Im Gegensatz zu ihrem Vater, dessen größte Lebensleistung darin bestand, es zum stellvertretenden Filialleiter eines Schuh-Discounters gebracht zu haben.

Nicht nur in der Schule ließ sie sich gehen. Sie feierte ganze Nächte durch. Schlief sich durch alle Betten. Nahm Drogen. Ihr einst wunderbar straffer Körper ging aus dem Leim. Mit achtzehn lernte sie einen dreißig Jahre älteren Mann kennen, der zwar nicht gerade selbst ein Crystal-Meth-Labor betrieb, aber für jemanden arbeitete, der das tat.

Er hieß Chester – also wirklich, wie aus einem alten Western – und hatte eins von diesen Riesenwohnmobilen, ein Winnebago, das er von oben bis unten mit Stoff belud. Vielleicht war Chester ja genau der richtige Name für ihn, immerhin war dieses Wohnmobil so etwas wie ein moderner Planwagen. Das Meth wurde überall hineingestopft. In den Kühlschrank, unter die Betten, sogar in die Wände des Fahrzeugs. Man konnte es schlecht per Kurierdienst an den Mann bringen oder ins Flugzeug mitnehmen, also musste man das Zeug schon selbst transportieren, wenn man es von einem Ende des Landes ans andere befördern wollte. Und da Chesters Boss einem großen Zwischenhändler in Nevada zulieferte, standen viele Reisen nach Nevada auf dem Programm.

Aber in einem Camper ganz allein quer durchs Land zu reisen, konnte Verdacht erregen, und deshalb heuerte Chester Nicole als Mitfahrerin an. Sollte ihn die Polizei anhalten und Fragen stellen, würde er sagen, Nicole sei seine Tochter und er bringe sie gerade zu ihrer Mutter in den Westen. Außerdem half sie ihm bei der Arbeit. Sie machte in der Küche des Campers Essen und übernahm das Steuer, wenn er schlief, so dass sie ohne längere Pausen über Land fahren konnten. Nur zum Tanken mussten sie stehen bleiben.

Doch Nicole machte Chester nicht nur etwas zu trinken, ein Sandwich oder schnitt ihm einen Apfel auf. Manchmal war sie ihm auch anderweitig zu Diensten. Sie mochte es nicht, aber er ließ immer einen Hunderter extra springen, wenn sie ihm beim Abbau seines »Verkehrsstaus« half.

Anscheinend war ihr Schicksal, Männer zufriedenzustellen. Und niemand entkam seinem Schicksal.

Ein Dutzend Mal fuhren sie von New Jersey nach Las Vegas. Das Wohnmobil stellten sie immer in derselben Lagerhalle am Stadtrand von Vegas unter. Die Übergabe fand immer mit denselben Leuten statt. Sie sahen alle aus wie Anwärter auf einen Komparsenjob in einer Fortsetzung von Scarface, waren aber ganz nett. Nach der Übergabe hoben sie einen zusammen. Sie mochten Nicole und zogen Chester gern damit auf, dass er mit so einem heißen jungen Feger an seiner Seite Tausende von Kilometern landauf, landab fuhr. Chester quittierte ihre Anspielungen mit einem Zwinkern und tat nichts, um sie über ihr wahres Verhältnis aufzuklären.

Dafür hasste sie ihn.

Auf der dreizehnten Fahrt kamen sie vom Kurs ab.

Schon als das Tor der Lagerhalle sich öffnete, wusste Nicole, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise war das Erste, was sie sahen, der Cadillac Escalade, der mit geöffneter Heckklappe wartete. Die Scarface-Truppe lehnte am Kühler. Doch statt des Escalade stand da ein Ford Explorer. Niemand vor dem Wagen, aber zwei drinnen.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Nicole. Sie stand hinter Chester und blickte durch die Windschutzscheibe, die riesig war wie eine Filmleinwand.

»Mach dir keinen Kopf«, sagte Chester. »Vorhin, während du geschlafen hast, haben sie mich angerufen und gesagt, dass heute jemand anders die Übergabe macht.«

»Haben sie gesagt, wieso?«

»Meinst du, die heulen sich bei mir aus? Mach dir keinen Kopf.«

Nicole machte ein paar Schritte zurück in die Küche, zog eine Schublade auf und holte etwas heraus. Chester stellte den Camper neben den Explorer, schaltete den Motor aus, erhob sich aus seinem überdimensionalen Pilotensitz und öffnete die Seitentür.

Die beiden Männer aus dem Explorer waren ausgestiegen und warteten neben der Tür des Wohnmobils, dass Chester ihrem Beispiel folgte.

Die Scarface-Truppe hatte sich zwar ein bisschen zu sehr bemüht, hart auszusehen, doch sie war immer gut gekleidet gewesen. Gut sitzende Anzüge, glänzende Schuhe, Haar streng nach hinten gekämmt, ein paar Goldringe zu viel, die teuren Sonnenbrillen in völliger Übereinstimmung mit dem Klischee. Immerhin sahen sie aus, als arbeiteten sie für jemanden, dem es nicht egal war, wie seine Leute herumliefen. Der Wert darauf legte, das sein Personal einen professionellen Eindruck machte.

Die Typen aus dem Explorer machten auf Nicole keineswegs diesen Eindruck. Sie sahen aus wie frisch von der Kuhweide: Jeans, karierte Hemden, Stiefel. Und was sie da auf dem Armaturenbrett hatte liegen sehen, waren das nicht Cowboyhüte gewesen? Der eine hatte schmutzig blonde Haare, der andere gar keine. Doch er war noch zu jung für eine Glatze. Offenbar hatte er mit dem Rasiermesser nachgeholfen. Einer von diesen Skinheads, die in Scheunen ihre Nazitreffen abhielten.

»Hallo, Leute«, sagte Chester und stellte sich zu ihnen. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

Der Blonde griff mit der rechten Hand nach hinten, zog eine Waffe, die er im Hosenbund stecken gehabt hatte, und schoss Chester in den Kopf.

Machte einen Höllenlärm in dieser großen leeren Lagerhalle.

In dem Augenblick, als er nach hinten griff, wusste Nicole, was kommen würde. Und sie wusste, dass sie ihm zuvorkommen musste. Der Glatzköpfige hatte keine Waffe gezückt. Das hieß aber nicht, dass er keine hatte, sondern nur, dass er sie nicht zog, also musste sie sich an den halten, der seine bereits in der Hand hielt.

Nicole hatte nicht direkt hinter Chester gestanden, als er getroffen wurde, sondern ein wenig seitlich. Das war ihr Glück. Denn die Kugel durchbohrte seinen Kopf und kam auf der anderen Seite wieder heraus.

Chester war noch nicht zu Boden gegangen, da hatte sie das Messer schon aus der Gesäßtasche gezogen. Das, mit dem sie Chester die Äpfel aufgeschnitten hatte. Eine zehn Zentimeter lange Klinge, stabiler Griff. Sehr scharf. Nur die Klinge hatte in die Tasche gepasst. Der Griff ragte heraus, griffbereit sozusagen.

Irgendetwas ging in diesem Augenblick mit ihr vor. Als ob sie wieder in Sydney wäre. Ihr Körper wusste instinktiv, wie er sich bewegen, wie er abspringen, welche Entfernungen er überwinden musste.

Und es waren keine großen Entfernungen.

Blondie ahnte ganz offensichtlich nicht, was in Nicole vorging, während sie durchaus ahnte, was er dachte. Sie würde, typisch Frau, einfach dastehen und wie eine dieser dummen Gänse im Film loskreischen. Vielleicht dachte er, sie würde losrennen. Vielleicht dachte er, sie würde stehen bleiben und darauf warten, dass er auch ihr eine Kugel in den Kopf jagte.

Woran er eindeutig nicht dachte, war, dass sie auf ihn losgehen könnte. Oder dass sie ein Messer haben könnte. Oder dass sie es ihm in den Hals gestoßen haben könnte, ehe er Gelegenheit hatte, auf sie zu zielen.

Der Stich traf ihn mit voller Wucht. Aus Blondies Kehle drang ein Geräusch, als habe er eine Taube verschluckt. Er versuchte nicht einmal, seine Waffe auf Nicole zu richten. Er ließ sie einfach fallen und ging gleich darauf selbst zu Boden.

Der Glatzkopf wich mit einem Sprung zurück, als das Blut spritzte. Nicole war darauf gefasst, dass er jeden Moment zur Waffe greifen würde, wenn er eine hatte. Als er sich umwandte und zum Explorer hastete, folgerte sie, dass das nicht der Fall war.

Aber vielleicht war im Wagen eine.

Sie hätte sich bücken und Blondies Knarre nehmen können, doch beinahe instinktiv wusste sie, dass das nicht die Waffe ihrer Wahl war.

Sie hechtete ihm nach und erreichte ihn in dem Moment, als er die Tür aufgerissen und sich schon halb in den Wagen geschwungen hatte. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, quetschte ihn ein und drosch ihm den Kopf gegen den Türholm.

Er sah schon Sterne, noch ehe sie ihm das Messer in den Leib rammte. Sie zog die Tür wieder auf. Der Mann fiel aus dem Wagen.

Sie warf sich auf ihn, stieß ihm das Messer noch einmal in die Seite, damit er begriff, dass sie es ernst meinte.

»Für wen arbeitest du?«, fragte sie.

»Herrgott«, stöhnte er, »ich sterbe.«

»Sag mir, für wen du arbeitest, und ich ruf einen Notarzt.«

»Higgins«, keuchte er.

Dann schlitzte sie ihm die Kehle auf.


Sie fanden den Escalade der Scarface-Truppe mitten in der Wüste. Die Jungs waren alle mit einem Kopfschuss getötet worden, und den Wagen hatte man anschließend in Brand gesetzt.

Ihr Boss, ein Mann namens Victor Trent, bot Nicole einen Job an. Er war beeindruckt, ja dankbar, dass sie nicht nur die Mörder seiner Mitarbeiter getötet, sondern auch noch die Geistesgegenwart besessen hatte, den Namen »Higgins« herauszubekommen, bevor sie ihnen den Garaus machte.

Hätte er sie ein wenig besser gekannt und hätte sie ein wenig mehr Erfahrung gehabt, hätte er sie selbst auf Higgins angesetzt. Doch er beauftragte einen seiner langjährigen Mitarbeiter. Higgins trat ebenfalls in der Wüste vor seinen Schöpfer, doch er wurde nie gefunden. Ebenso wenig wie die beiden Männer, die Nicole bereits von der Lagerhalle aus ins Nirwana geschickt hatte.

Victor nahm Nicole in seinen engsten Zirkel auf. Er war schnell davon überzeugt, dass Nicole Fähigkeiten besaß, die die anderer Mädchen – und der meisten Jungs – ihres Alters weit übertrafen. Sie hatte Beherrschung und Disziplin. Und sie war bereit zu lernen.

So wie er bereit war, sie zu unterrichten.

Es dauerte nicht lange, da war Nicole Victors erste Anlaufstelle, wenn er ein Problem hatte, das aus dem Weg geräumt werden musste. Auch unter seinen Geschäftspartnern verbreitete sich ihr Ruf. Für eine Frau wie Nicole gab es immer etwas zu tun.

Sie erzählte ihm nichts aus ihrer Vergangenheit, und er fragte nicht danach. Einmal, es war 2004, bestellte er sie ins Büro, um ihr einen Auftrag zu erteilen, und im Fernsehen wurden gerade die Sommerspiele in Athen übertragen. Victor erzählte ihr, er sei ein großer Fan der Olympischen Spiele und sehe sie sich an, wann immer er Zeit habe. Nicole stand da und sah Carly Patterson auf dem Stufenbarren zu. Er hatte keine Ahnung, und so war es auch am besten.

Fünf Jahre lang arbeitete sie für ihn und verdiente gut. Eines Tages stellte Victor sie einem ehemaligen New Yorker Polizisten namens Lewis Blocker vor. Victor hatte Lewis für eine Überwachung engagiert und wollte, dass er Nicole bei dieser Gelegenheit auch dieses Handwerk beibrachte. Sie lernte eine Menge von ihm.

Schließlich kam Nicole an einen Punkt, wo sie nicht mehr ausschließlich für Victor Trent arbeiten wollte. Sie war ihm in vieler Hinsicht zu Dank verpflichtet, aber auch der Meinung, dass ihre Beziehung sich zum beiderseitigen Nutzen entwickelt hatte. Sie hatte viele Probleme für ihn aus der Welt geschafft, und jetzt wollte sie die Freiheit, das auch für andere zu tun.

Nicole lud ihn zum Abendessen ins Picasso im Bellagio in Las Vegas ein. Sagte ihm, was für ein wunderbarer Mentor er für sie gewesen sei, wie sehr sie seine Freundschaft und seinen Rat in den vergangenen Jahren zu schätzen gelernt hatte. Tastete sich so vorsichtig wie möglich an das Thema heran. Sagte ihm schließlich, dass sie ihre eigenen Wege gehen wollte. Das sollte nicht heißen, dass sie nicht mehr für ihn arbeiten würde, doch ab jetzt sei sie eine selbständige Unternehmerin.

»Ich brauch das«, sagte sie. »Für mich. Ich muss es tun. Und ohne deinen Rat und deine Hilfe hätte ich es nie so weit gebracht.«

»Du undankbares Miststück«, sagte er und ging, ohne seinen Maine-Hummer-Salat mit Apfel-Champagner-Vinaigrette aufzuessen.

Im Grunde waren doch alle Männer gleich.


Mit ihrer Entscheidung war sie sehr gut gefahren. Bis jetzt.

Nicole kannte niemanden in ihrer Branche, der etwas so vermasselt hatte wie sie. Nicht, dass es so etwas wie einen Stammtisch für Auftragskiller gab. Aber man hörte so einiges. Buschtrommeln gab es überall. Es gab Leute, deren Arbeit man kannte. Einige waren gut, einige nicht ganz so gut. Manchmal machten sie Fehler. Wo gehobelt wird, fallen Späne.

Aber der Fehler, den sie sich geleistet hatte … Nicole musste selbst zugeben, dass sie damit den Vogel abgeschossen hatte.

Schlimm genug, dass sie die Falsche erwischt hatte. Das allein hätte schon jeden Auftraggeber auf die Palme gebracht. Aber dass das eigentliche Opfer dann auch noch auftauchte, sah, was los war, und entkam?

Nichts, was man in seinen Lebenslauf schrieb.

Natürlich hatten auch schon andere Mörder in die Scheiße gelangt. Sadistische Sexualtäter, die sich selbst überführten, weil sie sich bei ihren Verbrechen filmten. Ehemänner, die dumm genug waren, sich aus den Gelben Seiten einen Auftragskiller für ihre Frau zu suchen. Ehefrauen, die ihre Männer entsorgen wollten und nicht rafften, dass die Killer, mit denen sie konspirierten, in Wirklichkeit verdeckte Ermittler waren. Verzweifelte Geschäftsleute, die ihre schmutzigen Machenschaften einem reinigenden Feuer anvertrauten, dabei gleich noch ein paar menschliche Brandopfer darbrachten und hinterher ihre benzingetränkten Sportschuhe daheim in den Kleiderschrank zurückstellten.

Diese Leute wurden erwischt und wanderten hinter Gitter. Und warum? Weil es Amateure waren. Sie verdienten ihre Brötchen nicht damit, anderen das Leben zu nehmen. Sie waren Buchhalter oder Börsenmakler oder Autohändler oder Zahnärzte.

Auf ihrem Gebiet mochten sie Profis sein, aber Profikiller waren sie keine.

Nicole war einer. Es war ihr Brotberuf, und sie nahm ihn ernst. Sie hatte nichts gegen ihre Zielpersonen. Sie kannte sie nicht einmal. Es war nichts Persönliches. Sie wurde nicht von Eifersucht, Gier oder Sexbesessenheit getrieben. Solche Motive brachten einen zu Fall, machten einen blind für seine eigenen Unzulänglichkeiten. Nicole arbeitete nicht in dieser Branche, weil es ihr Vergnügen bereitete, anderen das Leben zu nehmen, obwohl eine gelungene Arbeit natürlich sehr befriedigend war. Wenn überhaupt von Spaß an der Arbeit die Rede sein konnte, dann in den Fällen, in denen die Zielperson männlich war. Dann stellte sie sich immer vor, dass es ihr Trainer war. Oder ihr Vater. Oder Victor.

Im ersten Anlauf hatte sie alles verbockt. Jetzt war es ihre Pflicht, im zweiten alles wieder in Ordnung zu bringen. Das Einzige, was einem im Leben blieb, war der gute Ruf, und sie würde tun, was zu tun war, um ihren wiederherzustellen. Außerdem erwartete man das von ihr.

Schade nur, dass es so viel länger dauerte als erwartet.

Nicole hörte die Wohnung von Allison Fitchs Mutter jetzt schon seit Monaten ab. Nur ein paar Tage nach Allisons Verschwinden – Doris Fitch war gerade unterwegs, um mit der Polizei von Dayton den Stand der Ermittlungen in New York zu erörtern – war sie dort eingedrungen und hatte eine Wanze im Telefon sowie eine weitere in der Wohnung selbst plaziert. Außerdem hatte sie ein Programm auf den Computer dort installiert, mit dessen Hilfe sie diesen von ihrem eigenen Laptop aus überwachen konnte. Dabei ergaben sich ein, zwei technische Probleme, bei deren Lösung Lewis sie unterstützt hatte. Nun war Nicole also in der Lage, die E-Mails von Doris Fitch und alles, was sie in Word schrieb, zu lesen. Auch auf ihr Online-Banking-Programm hatte Nicole Zugriff. Sie konnte also jederzeit sehen, ob Allisons Mutter größere Summen als üblich abhob. Für Nicole war es nur eine Frage der Zeit, bis die Tochter sich bei der Mutter meldete.

Narrensicher war dieses System allerdings nicht. Allison konnte ihrer Mutter auch über eine dritte Person eine Nachricht zukommen lassen. Sollte tatsächlich dieser Fall eintreten, dann würde Mrs. Fitch höchstwahrscheinlich etwas tun, das sie sonst nicht tat. Einen Flug buchen, zum Beispiel.

Nicole gab die Hoffnung nicht auf, dass Allison irgendwann Kontakt aufnehmen würde. Anfangs hatte sie wahrscheinlich davor zurückgeschreckt. Und mit gutem Grund. Sie konnte sich ausrechnen, dass ihre Mutter beobachtet wurde. Doch nach so langer Zeit spekulierte Allison möglicherweise darauf, dass ihre Verfolger in ihrer Wachsamkeit nachließen, sie vielleicht sogar für tot hielten.

Deshalb musste Nicole weiter ausharren. Sie hoffte nur, es würde nicht mehr allzu lange dauern. Sie hatte schon seit Monaten keine Einnahmen mehr und deshalb bereits ihre Reserven angreifen müssen.

Vielleicht sollte sie den Beruf wechseln. Dieser Branche den Rücken kehren, bevor das Glück sie verließ. Wenn es das nicht schon getan hatte. Sie hatte kein gutes Gefühl, wenn sie an Lewis dachte. Gut möglich, dass er, wenn das hier endlich vorbei war, wegen ihres Fehlers mit ihr abrechnete.

Sie musste auf alles gefasst sein.

Während sie auf Allison wartete, hatte sie reichlich Zeit, über ihre Lage nachzudenken.

Doris Fitch wohnte in einer Anlage mit niedrigen Mehrfamilienhäusern in Dayton-Northridge, nicht weit von der Interstate 75. Nicole hatte eine leerstehende Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite gefunden, von der sie nicht nur das Apartment von Mrs. Fitch einsehen konnte, sondern auch deren Parkplatz. Allisons Mutter besaß einen schwarzen Nissan Versa.

Nicole konnte unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche am Fenster sitzen und die Wohnung der Fitch beobachten. Sie musste einkaufen. Sie musste schlafen. Doch dafür hatte sie entsprechende Vorkehrungen getroffen. Die Überwachungsanlage war sprachaktiviert. Sobald sie sich einschaltete, sprang auch das Aufzeichnungsgerät an. Wenn der Versa sich bewegte, wurde Nicole von einer winzigen Leuchte alarmiert.

Trotzdem war es sicherer, in der Nähe zu bleiben. Sie hatte Angst, dass womöglich genau in dem Moment, in dem sie die Wohnung aus den Augen ließ, ein Taxi mit Allison darin vorfuhr.

Nicoles Handy klingelte.

»Ja.«

»Hey«, sagte Lewis.

»Hallo.«

»Es gibt was zu tun.«

»Ich bin beschäftigt.«

»Du musst nach Chicago.«

Wie der Mistkerl in letzter Zeit mit ihr redete, gefiel ihr überhaupt nicht.

»Geht nicht.«

»Geht nicht, gibt’s nicht. Das ist genauso wichtig, wie das, woran du gerade dran bist.«

»Was ist in Chicago?«

»Sitzt du vor deinem Laptop?«

»Moment. Alles klar. Schieß los.«

»Geh auf die Seite von Whirl360. Du weißt, was das ist?«

»Ja.«

»Geh nach New York. Orchard Street. Ich nehme an, du kennst die Adresse.«

Hä?, dachte Nicole. Sie öffnete den Browser, ging auf die Seite, gab die Adresse ein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Aufnahmen der Straße geladen waren.

»So, ich bin da«, sagte sie. »Was jetzt?«

»Schwenk mal.«

Nicole klickte und strich gleichzeitig mit dem Finger über das Touchpad. Die Perspektive änderte sich. Statt auf die Straße war das Bild jetzt auf den zweiten Stock zentriert. Auf die Wohnung, in der sie schon einmal gewesen war.

Sie sah das Fenster.

Sie klickte, um den Ausschnitt zu vergrößern.

»Sag mir, dass das nicht wahr ist.«


Sie dachte nicht eine Sekunde daran, das Flugzeug zu nehmen. Mit dem Auto war sie in vier Stunden in Chicago. Sie würde die I-70 Richtung Westen nehmen, im Norden von Indianapolis auf die I-65 wechseln, hinauf bis Gary fahren und dort das letzte Stücke auf der I-90 zurücklegen.

Sie hoffte, dass Allison Fitch, sollte sie ausgerechnet am nächsten Tag bei ihrer Mutter aufkreuzen wollen, einen längeren Aufenthalt eingeplant hatte.

Lewis hatte Nicole einen Namen genannt: Kyle Billings. Zweiunddreißig Jahre alt. Arbeitete seit drei Jahren bei Whirl360 in Chicago. Nach Nicoles Informationen war Kyle unter anderem für das Programm zuständig, mit dem man ausgewählte Ausschnitte von Straßenansichten löschen oder unkenntlich machen konnte, wenn sie ins Netz gestellt wurden. Autokennzeichen, Gesichter. Das Ganze sollte automatisch funktionieren, und Kyle Billings als Leiter der zuständigen Abteilung war dafür verantwortlich, dass es funktionierte. Er hatte das Programm entwickelt.

Nicole musste Kyle dazu bringen, sich wieder an dieses Programm zu setzen und ein Bild in der Orchard Street zu eliminieren, ehe noch jemand darauf aufmerksam wurde. Wie Lewis selbst darauf aufmerksam geworden war, wollte sie wissen. Ein Mann hatte plötzlich mit einem Ausdruck der Aufnahme vor der Wohnungstür gestanden. Lewis ging der Sache gerade nach, versuchte herauszufinden, wer der Mann war.

Was für eine grandiose Blamage.

Zuerst die Falsche umzubringen.

Dann Allison Fitch entkommen zu lassen.

Jetzt das.

Konzentrier dich.

Das war es doch, was sie in Sydney getan hatte, nicht wahr? Sie hatte sich konzentriert. Auf das, was vor ihr lag. Alles andere aus ihren Gedanken verbannt. Das Publikum. Die Fernsehkameras. Die Kommentatoren.

Es gab nur sie und den Barren.

Das musste sie auch jetzt tun. Überlegen, was heute zu erledigen war. Nicht morgen. Nicht übermorgen. Nicht in drei Tagen.

Heute.

Heute musste sie Kyle Billings finden und ihre ganze Überredungskunst aufbieten, um ihn dazu zu bringen, auf die Datenbank der Straßenansichten zuzugreifen, das Bild dieses Fensters im zweiten Stock zu eliminieren und den dazugehörigen Datensatz ein für alle Mal aus der Datenbank zu löschen.

Sie wusste, dass Kyle Billings tun würde, was sie von ihm verlangte.

Denn Kyle Billings hatte eine Frau.