Sechzig

Jemand zog die Decke herunter, zerrte mich aus dem Wagen und befreite mich von den Beinfesseln. Die Skimaske blieb, wo sie war. Ich passierte einen Eingang, dann streifte ich eine Wand und hörte Holzdielen unter meinen Füßen knarren. Anscheinend wurde ich durch einen Flur geführt. Der musste ziemlich kurz sein, denn schon nach wenigen Schritten dirigierten mich Hände, die mir jemand von hinten auf beide Schultern gelegt hatte, durch etwas, das sich wie ein Türrahmen anfühlte.

Die Hände stoppten mich und drehten mich um hundertachtzig Grad.

»Hinsetzen«, sagte Lewis, wobei er meine gefesselten Arme über eine Stuhllehne bugsierte. Es fühlte sich an wie die Rückenlehne eines gewöhnlichen Holzstuhls. Dann drückte er mich auf die Sitzfläche und fesselte mich an den Stuhl, indem er Klebeband mehrmals um meine Taille und die Lehne wickelte. Die Knöchel fixierte er nicht an den Stuhlbeinen, und so konnte ich die Füße ein wenig kreisen lassen, damit das Blut wieder zirkulierte. Plötzlich packte jemand die Skimaske und riss sie mir, zusammen mit ein paar Haaren, vom Kopf.

Ich blinzelte, um mich an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen, obwohl von Helligkeit nicht wirklich die Rede sein konnte. Lewis stand direkt vor mir. Dann machte er Platz für Nicole, die gerade Thomas hereinbrachte. Er wurde auf einen zweiten Stuhl gesetzt, der vielleicht einen halben Meter von meinem entfernt stand, und ebenfalls mit Klebeband dort fixiert. Als Nicole ihm die Maske vom Kopf gerissen hatte, blinzelte auch Thomas ein paarmal, dann sah er mich verängstigt an.

»Ich hol den Computer«, sagte Lewis. »Und sag Howard Bescheid, dass wir da sind.«

Wir befanden uns in einem fensterlosen Raum, etwa vier mal vier Meter groß, möglicherweise das Hinterzimmer eines Ladens. In einer Ecke stand ein schwerer antiker Rollschreibtisch. Die Abdeckung war hochgeschoben, um einem Computerbildschirm Platz zu bieten. Die verschiedenen Fächer waren vollgestopft mit Papier, allem Anschein nach Rechnungen, Quittungen, Zeitungsausschnitte. Fast überall an den Wänden befanden sich Regale. Sie waren aus den gleichen Brettern wie der abgetretene Holzfußboden. In den Regalen drängten sich halbvermoderte alte Bücher, antike Uhren, Royal-Doulton-Figürchen, altmodische Kameras mit akkordeonähnlich ausziehbarem Objektiv, hauptsächlich jedoch Unmengen von Spielzeug. Uralte Blechautos und -lastwagen, die Farbe abgegriffen von Kindern, die höchstwahrscheinlich schon an Altersschwäche gestorben waren. Zinnsoldaten. Modellautos, wie auch ich sie als Kind gehabt hatte. Ich entdeckte einen Esso-Tankwagen ähnlich dem, den ich von meinem Vater bekommen hatte, als ich ungefähr drei war. Batmobil-Modelle verschiedener Größe aus Metall und Plastik. Ein Rasen-Darts-Set. So eines hatten wir auch einmal gehabt und eifrig im Garten hinter dem Haus benutzt, bis Thomas eines Tages beinahe den Nachbarhund aufgespießt hätte. Ein roter Kinderfeuerwehrhelm mit der Aufschrift Texaco. Schachteln mit alten Brettspielen, inspiriert von längst abgesetzten Fernsehserien wie Columbo, Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann, Drei Mädchen und drei Jungen oder Solo für O.N.C.L.E. Und natürlich jede Menge Puppen. Barbies, Raggedy Anns, Cabbage Patch Kids und lebensgroße Babypuppen, deren Augen zufielen, wenn man sie hinlegte. Manche hatten keine Arme und Beine, andere waren kopflos. Ein Regal beherbergte eine Metallroboter-Kollektion, ein anderes einen Haufen Blechzüge, die aussahen wie Relikte einer Eisenbahnkatastrophe. Drei schwarze Bälle, etwa so groß wie Squash-Bälle entdeckte ich ebenfalls. Die berühmten Wham-O Super Balls aus den sechziger Jahren, die sogar über Haushöhe springen konnten.

Doch es war nicht Nostalgie, die mich beim Anblick dieser Schätze aus längst vergangenen Tagen befiel. Es war Angst. Scheißangst.

Lewis kam mit Thomas’ Computer zurück und stellte ihn auf den Schreibtisch. Er zog etliche Kabel aus dem bereits vorhandenen Computer und steckte sie in den von Thomas.

Mit ausdrucksloser Stimme wandte Nicole sich an Thomas und mich. »Gleich wird jemand kommen, der Fragen stellen wird, also kommt das Klebeband runter. Wenn einer anfängt zu schreien, werde ich dem anderen weh tun. Sehr schnell sehr weh tun. Haben wir uns verstanden?«

Wir nickten beide. Nicole riss mir das Klebeband mit einer einzigen brutalen Bewegung vom Mund. Ich zuckte zusammen und leckte mir die Lippen. Ich schmeckte Blut. Als sie es bei Thomas wiederholte, jaulte er auf. »Das hat aber weh getan!«, beschwerte er sich, als hätte er auf dem Schulhof einen Tritt abbekommen. Doch sofort entschuldigte er sich bei Nicole. »Tut mir leid. Ich bin schon still. Tun Sie Ray nichts.«

»Geht’s dir gut?«, fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Arme tun weh, meine Lippen tun weh, und meine Hände spür ich gar nicht mehr.«

Auch ich konnte meine nicht mehr fühlen. Die Kabelbinder schnürten mir das Blut ab. »Die Hände meines Bruders sind wahrscheinlich schon blau. Meine auch. Können Sie was dagegen tun?«

Lewis holte eine Schere mit orangefarbigen Griffen aus dem Rucksack. »Keine Dummheiten«, sagte er. Er schnitt meine Handfesseln durch und klebte meine Handgelenke am Stuhl fest. Das Blut strömte in meine Finger zurück. Ich öffnete und schloss meine Hände, um das Kribbeln loszuwerden. Lewis versorgte auch Thomas, schloss noch das letzte Computerkabel an und drückte auf den Startknopf. Der Computer begann zu brummen, und der angeschlossene Bildschirm wurde hell.

»Alles, was da drauf ist, ist vertraulich«, sagte Thomas.

Der Bildschirmhintergrund war taubenblau, und nur wenige Icons waren darauf zu sehen. Eins vom Internet-Browser, eins für das E-Mail-Programm und unten in der Ecke der Papierkorb.

Lewis öffnete den Browser und klickte die Such-Chronik an. Thomas hatte keine Zeit mehr gehabt, sie zu löschen, aber es gab ohnehin nicht viel zu sehen. Nur jede Menge Orte auf Whirl360.

»Sehen Sie sich nie Pornos oder was in der Art an?«, fragte Lewis.

Thomas schien nicht zu verstehen, ob die Frage ernst gemeint war. »Dazu habe ich keine Zeit«, sagte er.

Lewis klickte sich von einer Straßenansicht zur anderen, von einer Stadt zur nächsten, alle Orte, die Thomas heute erkundet hatte. Wirklich heute? Eher gestern. Es musste schon nach Mitternacht sein. »Warum – nein, das soll Howard Sie fragen. Es ist sinnlos, das später noch mal durchzukauen.«

Er verließ Whirl360 und öffnete das Mail-Programm.

»Er darf die nicht lesen«, sagte Thomas zu mir. Dann fing er an, Fragen zu stellen. »In welcher Stadt sind wir? In welcher Straße? Hausnummer?«

Das hatte ich mich auch schon gefragt, wenn auch nicht so detailliert. Wir waren lange genug unterwegs gewesen, um jetzt in New York zu sein oder in Boston oder Buffalo oder noch einer Handvoll anderer Großstädte. Womöglich sogar in Philadelphia.

Nicole und Lewis nahmen keine Notiz von Thomas.

Thomas sah mich an. »Ich will nach Hause.«

»Ich weiß, Thomas. Halt durch. Bemüh dich.«

Lewis öffnete eine E-Mail nach der anderen und schüttelte den Kopf. Zweifellos war es ihm ein Rätsel, was Thomas mit all seinen Berichten an die CIA bezweckte.

»Was zum Teufel …«

Er las weiter. Nicole sah sich im Zimmer um. Sie zog ein Buch heraus, sah hinein, stellte es zurück. Nahm eine Puppe aus dem Regal und betrachtete sie, als wäre sie ein Souvenir von einem anderen Planeten. »Meine Mutter wollte nicht, dass ich mit Puppen spielte«, sagte sie, mehr zu sich als zu sonst jemandem.

Dann klopfte es. Wir blickten alle auf. Das Klopfen kam nicht von der Tür, durch die wir hereingekommen waren. Ich hatte den Eindruck gewonnen, durch einen Seiteneingang in dieses Zimmer verfrachtet worden zu sein, dieses Klopfen hingegen schien mir von vorne zu kommen. Lewis zog einen grünen Vorhang zur Seite, der als Tür zwischen dem hinteren und dem vorderen Raum diente. Licht fiel in den Vorderraum, und ich sah noch mehr antikes Spielzeug. Das war gefälliger präsentiert.

»Das ist er«, sagte Lewis, bevor er nach vorn ging.

Wer war er? Mehr als einmal war die Rede davon gewesen, dass jemand mit uns reden wollte. Jemand, für den Lewis und Nicole arbeiteten.

Ich hatte noch immer genauso viel Angst wie beim Verlassen unseres Hauses, aber ich war auch neugierig. Wenn man mit dem Leben mehr oder weniger abgeschlossen hatte, dann war die Frage, wen man als Nächstes kennenlernen würde, wenigstens eine kleine Ablenkung.

Ich hörte ein leises Klappern, als Lewis eine Tür öffnete. Gedämpfte Worte, dann näherten sich die Schritte von zwei Personen. Ich hörte, wie ein Mann Lewis fragte: »Was ist das hier eigentlich?«

»Gehört einem von den Leuten, die mir beim Transport von Bridgets Leiche geholfen haben. Der totale Spielzeugnarr.«

Bridget?

Dann tauchte Lewis wieder auf und hielt den Vorhang zur Seite. Ein korpulenter Mann mit beginnender Glatze kam herein. Er trug einen Mantel, der aussah, als sei er aus Kamelhaar oder Kaschmir, und darunter einen teuren Anzug. Ich schätzte den Dicken auf Mitte fünfzig.

Der Blick, mit dem er Thomas und mich musterte, wirkte auf mich eher entgeistert als drohend.

»Das sind also die Typen«, sagte er zu Lewis.

»Ja.«

Dann fiel der Blick des Mannes auf Nicole. Sie hatte die Puppe weggelegt und lehnte an einem der mit Büchern vollgestopften Regale, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Sie«, sagte er voller Verachtung. »Sie haben das verbockt.«

»Ich freue mich auch, Sie endlich kennenzulernen, Howard«, sagte sie. Sie erwiderte seinen Blick und sah ihn so lange an, bis er wegsah.

Thomas und ich lieferten Howard den Vorwand, sich von Nicole abzuwenden. »Wer sind Sie?«, fragte er mich.

»Ray Kilbride. Das ist Thomas. Mein Bruder.«

Thomas sagte: »Sagen Sie diesem Mann – Lewis – er soll die Finger von meinem Computer lassen.«

Howard wandte sich Lewis zu. »Du hast ihn schon angeschlossen?«

»Ja. Da ist nur kranker Scheiß drauf. Lauter E-Mails.«

Howard holte aus seiner Sakkotasche ein schmales Etui und entnahm ihm eine Lesebrille. »Mach mal ein paar auf.«

Lewis klickte herum. Howard überflog die Mails. »Sind die alle so?«

»Ja.«

»Alle an Bill Clinton, über die Adresse der CIA?«

»Ganz genau.«

Howard sah zuerst uns, dann Lewis an. »Erzähl mir noch mal von dem Anruf.«

»Wie gesagt: Da hat einer angerufen, nach dem da gefragt und gesagt, er sei Bill Clinton.«

»Aber du hast auch gesagt, er klang nicht wie er.«

Lewis zuckte mit den Achseln. »Ich meine, ich habe nie mit dem Mann gesprochen, aber ich würde sagen, nein, klang nicht wie er.«

»Am Telefon hören Stimmen sich anders an«, bemerkte Thomas.

Howard blickte noch immer auf den Bildschirm. »Diese E-Mails sind alle im Postausgang?«

»So ist es«, sagte Lewis.

»Und was ist mit dem Posteingang? Und dem Papierkorb? Gibt’s da irgendwelche Nachrichten von Bill Clinton oder jemandem bei der CIA?«

Lewis klickte wieder. »Nichts.«

»Hmm«, machte Howard. Er ging in den Vorderraum und kam mit einem Stuhl zurück. Er setzte sich vor Thomas und mich. Mich sah er zuerst an.

»Ray, ich habe eine Reihe von Fragen, auf die ich vernünftige Antworten will. Ich nehme an, Ihnen ist klar, was passiert, wenn ich die nicht bekomme?«

»Ich habe eine recht plastische Vorstellung davon.«

Er nickte langsam, als wären wir auf derselben Wellenlänge. »Zu der Clinton-Sache kommen wir noch. Aber wir fangen am besten am Anfang an. Für wen arbeiten Sie?«

»Ich bin selbständiger Illustrator. Ich arbeite freiberuflich.«

»Aha. Machen Sie im Rahmen Ihrer freiberuflichen Tätigkeit auch etwas anderes als Illustrationen?«

»Nein.«

»Und wie ist es mit Ihnen?«, fragte er Thomas. »Für wen arbeiten Sie?«

»Ich bin mehr oder weniger auch selbständig«, antwortete Thomas. »Aber ich arbeite für die CIA.«

»Das stimmt nicht«, sagte ich. »Thomas –«

Howard hob eine Hand, damit ich schwieg. »Thomas, erzählen Sie mir, was Sie für die CIA machen.«

»Das darf ich Ihnen nicht erzählen. Es sind Black Ops.«

Howards Augenbrauen schossen in die Höhe. »Black Ops?«

»So hat Präsident Clinton sie bezeichnet. Aber das ist nicht alles.«

»Wenn Sie’s mir nicht sagen, Thomas, dann werde ich Ihrem Bruder den ersten Finger brechen lassen.«

»Tun Sie ihm nichts«, sagte Thomas, aber ich sah, dass er hin- und hergerissen war, ob er eher mich oder seine Mission verraten sollte.

»Tu’s«, sagte ich. »Erzähl’s Ihnen. Und ich sage das nicht, weil ich nicht will, dass sie mir was tun, Thomas.« Ich hatte beschlossen, mir seine Sicht der Dinge zu eigen zu machen. »Ich gehe davon aus, dass sie das meiste eh schon wissen.«

Thomas nickte langsam. Ich wusste nicht, ob er mir das abnahm oder nur erleichtert war, eine Möglichkeit gefunden zu haben, Howard alles zu berichten, was er wusste, ohne ein allzu schlechtes Gewissen haben zu müssen.

»Also gut«, sagte Thomas. »Ich helfe ihnen, wenn eines Tages alle Online-Landkarten verschwinden, das wird nämlich früher oder später passieren, und ich stehe bereit, wenn ein Agent Unterstützung braucht. Also wenn er zum Beispiel in Bombay auf der Flucht ist und nicht weiß, wo er hinmuss, dann ruft er mich an, und ich kann’s ihm sagen.« Er sagte das alles mit der Selbstverständlichkeit eines Kindes, das über seine Zeitungstour spricht.

»Erklären Sie mir das ein bisschen ausführlicher«, sagte Howard.

»Was genau?«

»Alles.«

»Ich präge mir Landkarten ein. Ich präge mir Städte ein. Ich präge mir die Straßen ein. Und wenn es dann keine Karten mehr gibt, dann kann ich einspringen.«

»In der Chronik gibt’s nur Whirl360«, sagte Lewis.

»Sie prägen sich Straßen ein, indem Sie sie sich auf Whirl360 ansehen?«, fragte Howard.

Thomas nickte. »Genau.«

Howard lächelte und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Und Sie behalten das alles hier drin?«

»Genau.«

»Wie würde das funktionieren? Ich sage Ihnen eine Adresse, und Sie können mir beschreiben, wie’s dort aussieht?«

Thomas nickte.

Howard betrachtete ihn skeptisch. »Gut«, sagte er dann. »Meine Mutter wohnt in der Atlantic Avenue in Boston. Sie hat da eine Wohnung.«

Thomas schloss die Augen. »In der Nähe der Beacon Street? Hübsche Gegend. Wohnt sie in dem Haus mit dem Immobilienbüro im Erdgeschoss? Die Bürgersteige dort sind alle aus roten Ziegeln. Die sehen wirklich hübsch aus.« Er öffnete die Augen.

Howard wirkte ein wenig irritiert. Er sah zu mir, und ich sagte: »Er war noch nie in Boston.«

»Ich hab auch was«, sagte Lewis. »California Street, Denver, Block 2700, zwischen der 27. und 28. Straße.« Zu Howard sagte er. »Da bin ich aufgewachsen.«

Thomas schloss wieder die Augen. »War das in einem von den blauen Häusern, die nur ein Erdgeschoss haben, oder in dem Wohnhaus gegenüber mit Erdgeschoss und fünf Stockwerken, das mit den weißen Mauern, die dann ziegelrot werden, und dann wieder weiß, und –«

»Ich werd verrückt«, sagte Lewis. »Hat der einen Computer im Schädel, oder was?«

»Was für eins war’s, Lewis? Eins von den kleinen blauen oder das hohe?«

»Das hohe«, sagte der leise.

Howard holte ganz tief Luft, verschränkte die Finger und legte die Unterarme auf die Knie. »Wie viele Städte lernen Sie auswendig, Thomas?«

»Alle.«

Howard zog überrascht den Kopf ein wenig zurück. »Alle in den Vereinigten Staaten?«

»Auf der Welt«, sagte Thomas. »Ich bin noch nicht ganz durch. Die Welt ist sehr groß. Wenn Sie mich, sagen wir mal, nach Gomez Palacio in Mexiko fragen, so weit bin ich noch nicht. Ich will erst die großen Städte komplett lernen. Dann kommen die kleineren. Wahrscheinlich gibt es mehr Städte, die ich noch nicht kenne als solche, die ich kenne.«

»Also gut, Thomas,«, sagte Howard und sah hinüber zu Nicole, die sich keinen Millimeter gerührt hatte, seit er mit ihr gesprochen hatte. »Wir haben uns also davon überzeugt, dass Sie eine wirkliche Begabung haben. Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt.«

»Danke«, sagte Thomas. Selbst angesichts unserer momentanen Lage freute er sich über das Lob.

»Das ist also Ihre Beschäftigung«, sagte Howard. »Sie prägen sich diese Straßen ein.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Und diese ganzen E-Mails? Was ist das?«

»Berichte«, erwiderte Thomas. Sein Ton deutete an, dass er die Frage für ziemlich dumm hielt. So als hätte er gesagt: Ja, was denn sonst?

»Berichte über?«

»Über den Verlauf des Projekts. Wenn ich eine neue Stadt lerne, dann informiere ich den Präsidenten über meine Fortschritte.«

»Und das andere, von dem Sie vorhin gesprochen haben? Das mit den Online-Landkarten, die verschwinden?«

Thomas sah Howard argwöhnisch an. »Ich wette, das wissen Sie auch alles.«

»Nun, wenn ich es schon weiß, dann schadet’s ja nicht, wenn Sie es mir noch mal erzählen.«

»Es wird ein katastrophales Ereignis geben, bei dem alle Online-Karten vernichtet werden. Auslöser kann ein Virus sein oder so was. Vielleicht auch ein Feind der Vereinigten Staaten. Das wird dann passieren, wenn alle ihre Landkarten aus Papier weggeworfen haben, weil wir jetzt alles auf Computern haben. Es ist wie mit den Fotos. Früher haben sich alle von ihren Fotos Papierabzüge machen lassen, heute geht alles übers Internet. Wenn alles zusammenbricht, werden auch alle ihre Fotos verlieren. Und mit den Landkarten ist es genauso.«

Jetzt sah Howard mich an. »Meint er das ernst?«

»Ja«, sagte ich.

»Ist diese absonderliche Fähigkeit von ihm auch der Grund, warum Sie auf einmal vor der Wohnung in der Orchard Street auftauchten?«

Ich nickte. »Thomas hat sich gerade diese Straße eingeprägt, und dabei sah er die Frau am Fenster. Mit einer Tüte über dem Kopf.« Mein Mund war ausgetrocknet, ich leckte mir über die Lippen. »Er wollte, dass ich nachsehe, was es ist.«

»Wie kam er auf die Idee, danach zu suchen?«

»Er hat nicht danach gesucht. Er hat es einfach gefunden.«

»Nein«, sagte Howard. »Das glaube ich nicht. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist eine Milliarde zu eins.«

»Nein«, sagte Thomas. »Wahrscheinlich ist, dass ich irgendwann einmal alles sehe.«

Howard wandte sich an Lewis. »Was hältst du davon?«

»Keine Ahnung. Klingt mir aber ziemlich weit hergeholt. Vielleicht hat ihn jemand darauf angesetzt.«

»War’s so, Thomas? Hat Sie jemand darauf angesetzt?«

»Nein«, sagte der. »Niemand.«

»Nicht einmal Bill Clinton?« Howard ließ dieser Frage ein nervöses Lachen folgen.

»Nein, ich schicke ihm nur meine Arbeitsberichte. Er ist mein Kontaktmann zur CIA.«

»Aber er schreibt Ihnen nie zurück. Es gibt keine E-Mails im Posteingang oder im Papierkorb.«

»Er kommuniziert mit mir, aber nicht per E-Mail.«

»Kommuniziert? Wie?«

»Er spricht zu mir. Seit kurzem benutzt er das Telefon.«

»Was? Seine Stimme kommt einfach so zu Ihnen?«

Thomas nickte.

Ich war so beschäftigt mit den Ereignissen der letzten Stunden, dass ich gar nicht mehr an diesen Anruf gedacht hatte. Ich hatte noch immer keine Ahnung, was er zu bedeuten hatte. Doch jetzt überlegte ich, ob ich ihn vielleicht irgendwie zu unserem Vorteil nutzen konnte. Die drei tappten offensichtlich genauso im Dunkeln wie ich.

Howard schüttelte den Kopf und sagte zu Lewis: »Völlig ausgeschlossen, dass dieser komische Kauz mit dem früheren Präsidenten redet.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Lewis.

»Thomas«, fuhr Howard fort, »sind Sie in ärztlicher Behandlung? Bei einem Psychiater?«

»Ja. Bei Dr. Grigorin.«

»Und verschreibt er Ihnen Medikamente?«

»Dr. Grigorin ist eine Frau«, sagte Thomas. »Ja. Die lassen die Stimmen verschwinden. Im Großen und Ganzen. Aber den Präsidenten höre ich trotzdem noch manchmal.«

»Mit und ohne Telefon«, sagte Howard.

»Mit verstehe ich ihn besser.«

»Ausgeschlossen«, sagte Howard noch einmal. »Das gibt es einfach nicht.«

»Sie haben recht«, sagte ich vorsichtig. Howard sah mich an. »Das Ganze ist völlig aus der Luft gegriffen. Warum sollte ein ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten jemanden wie Thomas anrufen und ihn für die CIA rekrutieren? Das ist lächerlich. Sie haben völlig recht.«

Howard merkte, dass ich auf irgendetwas hinauswollte. Deshalb schwieg er.

»Ich meine, Sie haben gesehen, was für Fähigkeiten Thomas hat. Er hat eine außergewöhnliche Begabung. Gleichzeitig steht sein Bild von der Realität manchmal im Widerspruch zu dem, was wir anderen glauben. Man hat bei ihm schon in sehr jungen Jahren Schizophrenie festgestellt.«

Der verachtungsvolle Blick, den Thomas mir zuwarf, sagte: Das heißt aber nicht, dass ich nicht recht habe.

»Ich meine, das mit den Landkarten, die verschwinden, und den Black Ops, das ist schon eine ziemlich wilde Geschichte. Aber nehmen wir mal an, Sie kennen jemanden mit einer unglaublichen Gabe, der allerdings auch ein großer Verschwörungstheoretiker ist und daran glaubt, dass mächtige Leute sich für seine Fähigkeiten interessieren. Rufen Sie den an und sagen zu ihm: ›Hi, hier ist John Brown, hätten Sie vielleicht Lust, ein bisschen für mich rumzuschnüffeln?‹ Oder rufen Sie an und sagen: ›Hi, ich war mal Präsident der Vereinigten Staaten, und ich brauche Ihre Hilfe.‹«

Howard betrachtete mich mehrere Sekunden. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Also gut, dann pack ich jetzt aus. Ich will sagen, mein Bruder arbeitet weder für die CIA, das FBI noch für Bill Clinton oder Franklin Delano Roosevelt. Sondern er hilft, ohne es zu wissen«, und an dieser Stelle warf ich Thomas einen Blick zu, mit dem ich ihn um Entschuldigung bat, »Carlo Vachon.«

»Wem?«, fragte Thomas.

»Vachon?«, wiederholte Lewis. »Dem Gangster?«

Bei der Erwähnung dieses Namens konnte selbst Nicole ihr Interesse nicht mehr verbergen, die bis dahin alles getan hatte, um zu zeigen, wie gleichgültig ihr das Ganze war.

»Einem Gangster?«

»Und«, fuhr ich fort, »der schätzt Thomas so sehr, dass er ihn nicht aus den Augen lässt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass seine Leute diesen Laden hier gerade beobachten.«