Fünfzehn

Ich war perplex. Agentin Parker und Agent Driscoll weniger. Immerhin war das der Grund ihres Besuchs. Diese E-Mails waren alle an die CIA gesendet worden, also hatten sie sie wohl schon gesehen.

Dennoch sagte Driscoll: »Sehen wir uns doch ein paar davon genauer an. Auf gut Glück.«

»Wie wär’s mit dieser?«, fragte Thomas und zeigte auf eine. Driscoll nickte. Mein Bruder klickte eine Nachricht an, die, wie alle anderen, an die zentrale E-Mail-Adresse der CIA gerichtet war. Wahrscheinlich war sie im Internet allgemein zugänglich. In die Betreffzeile hatte Thomas »whirl360update« geschrieben.

Die Nachricht lautete:


Sehr geehrter Herr ehemaliger Präsident Clinton, heute bin ich durch alle Straßen von Lissabon gelaufen und morgen fange ich mit San Diego an. Mit freundlichen Grüßen, Thomas Kilbride.

»Die nächste«, sagte Driscoll.


Sehr geehrter Herr ehemaliger Präsident Clinton, für Los Angeles brauche ich viel mehr Zeit, als ich dachte, aber bei Städten, die sich fast unbegrenzt in alle Himmelsrichtungen ausbreiten können, ist das auch kein Wunder. San Francisco war einfacher, weil es von Bergen umgeben ist. Ich hoffe, bei Ihnen ist alles in Ordnung. Mit freundlichen Grüßen, Thomas Kilbride.

»Eine noch«, sagte Agent Driscoll.


Sehr geehrter Herr ehemaliger Präsident Clinton, ich bin sicher, Sie stehen mit allen Regierungsbehörden in Kontakt, nicht nur mit der CIA. Deshalb bitte ich Sie dringend, zu veranlassen, dass diese Behörden prüfen, welche Art von Katastrophe da auf uns zukommen wird. Es wäre sinnvoll, jetzt damit zu beginnen, denn wenn es einmal so weit ist, wird alles viel schwieriger. Da ja Computer betroffen sein werden, möchte ich Ihnen eine Telefonnummer geben, unter der Sie mich erreichen können, und meine Adresse. Rufen Sie mich einfach an und sagen Sie mir, von welcher Stadt Sie einen Plan brauchen, und ich mache mich sofort an die Arbeit. Mit freundlichen Grüßen, Thomas Kilbride.

Telefonnummer und Adresse folgten. Bis zu diesem Moment hatte ich mich gefragt, ob das FBI die E-Mails über eine IP-Adresse oder etwas Ähnliches zu uns zurückverfolgt hatten, doch offensichtlich war so viel Hightech bei dieser Ermittlung gar nicht nötig gewesen.

»Thomas«, sagte Agent Parker, »hatten Sie schon mal Ärger?«

Er schob die Zunge in die Wange. Dann fragte er: »Was denn für Ärger?«

War dies das Gefühl, das einen befiel, wenn man mit dem Auto ins Wasser stürzte?

»Ich weiß nicht, Thomas. Ärger mit der Polizei vielleicht?«

»Nein, ich hatte noch nie Ärger mit der Polizei.«

»Wie war das 1997?«, fragte Driscoll.

O nein.

»Was war 1997?«, fragte Thomas zurück.

»Gab es da nicht einen Vorfall? Bei dem die Polizei eine Rolle spielte?«

Thomas sah mich an. Ich antwortete an seiner statt. »Das war doch nichts. Unfassbar, dass Sie das wieder ausgraben. Es wurde nie ein Strafantrag gestellt.«

»Möchten Sie uns davon erzählen, Thomas?«, fragte Parker.

»Ray«, sagte Thomas leise, »könntest du’s ihnen erzählen? Ich erinnere mich nicht mehr an alles.«

»Als wir … als Thomas und meine Eltern noch in der Stadt wohnten – ich war damals gerade ausgezogen –, da gab es ein Missverständnis mit den Nachbarn.«

Parker und Driscoll warteten.

»Thomas hatte die Originalvermessungspläne für unser Haus gefunden, Sie wissen schon, die Pläne, die man bekommt, wenn man ein Grundstück kauft oder verkauft. Auf diesen Plänen ist eingezeichnet, wo genau das Haus auf dem Grundstück steht. Und es waren auch die Häuser links und rechts von uns zu sehen und die gegenüber.«

»Sie waren falsch«, sagte Thomas.

Ich sah ihn an und lächelte. »Ja, Thomas glaubte nicht, dass die Grundstückspläne genau waren, also wollte er nachmessen und neue Pläne für unser Grundstück und die der Nachbarn zeichnen. Er hat sich ein Maßband besorgt und –«

»Ich habe es noch«, sagte Thomas. »Wollen Sie es sehen?«

»Nein, schon gut«, sagte Parker.

»Er hat sich also dieses Maßband besorgt und alles auszumessen begonnen. Wie weit die Häuser vom Gehsteig und voneinander entfernt waren, wie groß sie waren. Er hatte aber niemandem gesagt, was er vorhatte. Er hat einfach damit angefangen. Und es stellte sich heraus, dass er recht hatte. Einige der Maßangaben waren nicht ganz richtig, aber die Abweichungen waren minimal. Trotzdem wäre es eine Genugtuung gewesen. Leider wurde Thomas entdeckt, als er vor einem Fenster im Erdgeschoss unserer Nachbarn auf der Südseite zugange war, und –«

»Das waren die Hitchens«, warf Thomas ein.

»Genau. Und zwar vor dem Schlafzimmerfenster, und Mrs. Hitchens zog sich gerade an.«

»Hmm«, machte Parker.

»Sie war nackt«, bemerkte Thomas sachlich. »Dieses Fenster war genau 8 Meter und 76 Zentimeter vom Gehsteig entfernt. Auf den Plänen stand aber 8 Meter und 83 Zentimeter.«

»Mrs. Hitchens hat sich ziemlich aufgeregt und die Polizei gerufen. Meinen Eltern gelang es, sie und die Polizei davon zu überzeugen, dass Thomas in völlig harmloser Mission unterwegs gewesen war, aber es war nicht mehr so wie früher zwischen Thomas und den Nachbarn. Für meine Eltern wurde es immer peinlicher, und da beschlossen sie, hier heraus zu ziehen.«

»Die Pläne für das Grundstück hier sind auf den Millimeter genau«, sagte Thomas.

Wieder wechselten Parker und Driscoll einen Blick. Ich wusste schon nicht mehr, wie oft sie das in der vergangenen Stunde getan hatten. »Jetzt wollen wir Sie aber nicht länger von der Arbeit abhalten«, sagte Parker zu Thomas. »Ihr Bruder wird uns hinausbegleiten.«

»Gut«, sagte er und wandte sich wieder seiner Maus und der Tastatur zu.

Wir gingen nach unten.

»Was nun?«, fragte ich Parker.

»Wir werden Bericht erstatten«, antwortete sie. »Dieser Besuch diente zur Einschätzung des Gefahrenpotenzials, Mr. Kilbride. Ich glaube nicht, dass Agent Driscoll eine drohende Gefahr sieht, und ich würde mich ihm anschließen. Die Regierung der Vereinigten Staaten bekommt Tag für Tag Nachrichten von«, sie unterbrach sich, um ihre Worte sorgfältig zu wählen, »Personen, die oft eine recht eigenwillige Interpretation davon haben, was um sie herum geschieht. Zu neunundneunzig Prozent stellen sie keine erkennbare Bedrohung dar – sie sind harmlos, aber wir investieren viel Zeit, die aufzuspüren, die nicht harmlos sind.«

Ich hatte das Gefühl, die letzte Stunde mit angehaltenem Atem zugebracht zu haben. Ich deutete Parkers Worte als gute Nachricht, trotzdem hatte mein Adrenalinpegel ungeahnte Höhen erreicht. Außerdem war ich stinksauer auf Thomas. Ich wusste, ich musste Nachsicht mit ihm haben. Aber auch, wenn er uns das FBI auf den Hals hetzte? Das Blut, das durch meine Adern rauschte, war elektrisch geladen.

»Ihr Bruder muss sich ein anderes Hobby suchen«, fuhr Parker fort. »Wenn er weiterhin Regierungsstellen mit seinen Geschichten über einen bevorstehenden Totalausfall sämtlicher Computersysteme bombardiert, werden Sie bald wieder Besuch bekommen. Wenn nicht von uns, dann von jemand anderem.«

»Alles klar.«

»Es ist nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren«, sagte sie. »Heute nimmt so was niemand mehr auf die leichte Schulter. Schauen Sie sich an, was in Tucson passiert ist. Thomas hat vorhin von einer Psychiaterin gesprochen. Geht er da regelmäßig hin?«

»Ja.«

Schon hatte sie wieder ihr Notizbuch in der Hand. »Name?«

Ich wollte ihn ihr nicht sagen, doch wie lange hätte sie gebraucht, um ihn selbst herauszufinden? Fünf Minuten? Zehn, maximal. Ich konnte nur hoffen, dass Laura Grigorin Thomas in einem möglichst günstigen Licht zeichnete. Oder die beiden einfach zum Teufel jagte.

Ich gab Parker den Namen.

»Guten Tag, Mr. Kilbride«, sagte sie.

Driscoll nickte, sagte aber nichts. Ich sah den beiden nach, wie sie die Verandastufen hinabstiegen und zu ihrem Dienstwagen zurückgingen.

Auf das, was ich als Nächstes tat, bin ich nicht stolz.