Vierundfünfzig

Schmeckt gut«, sagte Thomas und schaufelte sich noch eine Gabel voll Thunfischauflauf in den Mund.

»Ja, nicht schlecht«, sagte ich. Doch mit Marie war auch mein Appetit verschwunden. Mir ging nicht aus dem Kopf, was Len zu ihr gesagt und sie mir weitererzählt hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas ausheckte. Dass er Thomas etwas anhängen wollte, das der nicht getan hatte.

»Davon nehm ich mir noch was«, sagte Thomas.

»Mach das. Und hinterher könntest du vielleicht abräumen.«

»Findest du das in Ordnung?«, fragte er.

»Wie meinst du das? Natürlich finde ich das in Ordnung.«

»Aber du hast das Essen ja gar nicht gemacht. Ich dachte, du machst Essen, und ich räume ab. Oder ich mache Essen, und du räumst ab. Aber Marie hat das Essen gemacht.« Er schaufelte noch mehr in sich hinein.

»Wenn ich deine Logik also richtig verstehe«, sagte ich, »dann heißt das: Wenn jemand uns etwas von unserer Hausarbeit abnimmt, dann ist das, was übrig bleibt, immer noch meine Arbeit?«

Er kaute langsam, als lege er sich ein Argument zurecht. »Na ja«, sagte er, »so habe ich das zumindest verstanden.«

»Dann sollten wir vielleicht alle beide abräumen«, sagte ich. »Wie wär’s damit? Du räumst den Tisch ab und stellst die Sachen in den Geschirrspüler, und ich mach diese Auflaufform sauber. So, wie du reinhaust, wird eh nichts übrigbleiben.«

»Einverstanden«, sagte er.

Zehn Minuten später standen wir Seite an Seite an der Arbeitsplatte. Ich ließ Wasser in die Spüle ein, und Thomas räumte Gläser und Besteck in den Geschirrspüler. Wir streiften einander immer wieder und hatten sogar so etwas wie einen gemeinsamen Rhythmus. Wir redeten nicht miteinander, trotzdem fühlte ich mich ihm so nahe wie in den ganzen Tagen seit meiner Ankunft nicht.

Aber später, als er den Tisch abwischte, fragte Thomas mich: »Kennst du das Gefühl, dass jemand, der mal dein Freund war, gar nicht mehr dein Freund ist?«

Dabei sah er nicht mich an, sondern konzentrierte sich darauf, den Tisch blitzblank zu wischen.

»Ja, das ist mir schon ein paarmal passiert. Von wem reden wir hier?«

»Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf.«

»Das geht schon klar. Wenn du’s mir nicht sagen darfst, wem dann?«

Er sah mich an. »Vom Präsidenten«

»Clinton?«

Thomas nickte, kam herüber, spülte den Wischlappen aus und hängte ihn über den Wasserhahn. »Er war immer nett zu mir, aber die letzten beiden Male war’s irgendwie anders.«

»Wie anders?«

»Ich weiß auch nicht. Er setzt mich ziemlich unter Druck.«

»Vielleicht solltest du nicht mehr mit ihm reden.«

»Wenn sich ein Präsident bei einem meldet, muss man doch mit ihm reden«, sagte Thomas.

»Na ja, da hast du wahrscheinlich recht.«

»Aber er sagt, ich darf über bestimmte Dinge nicht sprechen. Die haben aber mit meiner Aufgabe gar nichts zu tun.«

Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Möchtest du mit Dr. Grigorin darüber reden? Morgen vielleicht? Ich könnte versuchen, kurzfristig einen Termin zu bekommen.«

»Das wär nicht schlecht«, sagte er. »Ich mag nicht, wenn der Präsident sagt, ich stehe als Schwächling da.«

»Als Schwächling?«

»Na, weil ich zum Beispiel über bestimmte Sachen rede, und das ist nicht gut für mich. Nicht mal dir darf ich davon erzählen.«

»Was erzählen?«

»Von damals, als ich an dem Fenster stand. Als ich dir zuwinkte, und du mich nicht gesehen hast. Weil du nicht nach oben geschaut hast.«

Wir standen nebeneinander an die Arbeitsplatte gelehnt. »Wann war das, Thomas?«

»An dem Tag, an dem du mich gesucht hast. Wo du mein Fahrrad in dieser Seitengasse gefunden hast. Erinnerst du dich?«

»Ja«, sagte ich. »Ich bin die ganze Stadt abgeradelt. Ich hab sogar nach dir gerufen.«

»Ich hab dich gehört«, sagte Thomas leise. »Da konnte ich mich losreißen und zum Fenster laufen. Ich wollte dich rufen, aber ich wusste, das würde ihn wütend machen. Aber wenn du mich gesehen hättest, dann hätte Dad mir geglaubt.«

»Dich losreißen? Thomas, was war da los?«

»Er hat mir weh getan«, sagte er. Er fasste sich kurz an den Hosenboden. »Hier hinten.«

Ich legte Thomas beide Hände auf die Schultern und drückte sie. »Erzähl mir, was passiert ist. Jemand hat dir was getan? Wer? Wer hat dir weh getan?«

»Dad hat sich so aufgeregt«, sagte Thomas. »Er ist so wütend geworden, als ich es ihm erzählt hab. Er hat gesagt, ich soll aufhören, Sachen zu erfinden. Er hat gesagt, wenn ich noch einmal darüber rede, dann wüsste er nicht, was er täte. Aber ich wusste, es wäre etwas ganz Schlimmes. Vielleicht würden er und Mom mich weggeben. Und darum hab ich nie darüber geredet.«

Ich umarmte ihn. »Thomas, es tut mir ja so leid.«

»Und ich glaube … ich glaube, ich kann jetzt darüber reden. Aber der Präsident sagt, ich darf nicht. Er sagt, wenn ich es irgendjemandem erzähle, passiert was Schlimmes.«

»Würdest du’s Dr. Grigorin erzählen?«

»Ich wollte, aber dann hab ich’s doch nicht getan. Weißt du, wem ich’s erzählen würde?«

»Wem?«

»Julie.«

»Julie würdest du’s erzählen?«

Er nickte. »Sie ist nett zu mir. Sie redet mit mir wie mit einem ganz normalen Menschen.«

»Gut, sie kommt heute Abend noch mal vorbei, ziemlich spät zwar, aber ich bin sicher, sie wird mit dir reden.«

»Kommt sie wieder, damit sie mit dir Sex haben kann?«, fragte er.

»Erst mal nicht, würde ich sagen.« Ich musste lächeln. »Ich glaube, es wäre gut, wenn du mit ihr redest. Wirklich. Darf ich dabei sein, oder möchtest du lieber mit ihr allein reden?«

Er überlegte. »Sie würde es dir später sowieso erzählen, oder?«

»Wenn du sie bittest, es nicht zu tun, dann glaube ich nicht, dass sie’s tun würde.«

Er sah zu Boden. Überlegte wieder. »Ich hätte nichts dagegen, wenn du dabei wärst.«

»Gut. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis sie kommt. Möchtest du fernsehen oder so?«

»Nein. Ich muss wieder an die Arbeit. Auch wenn ich nicht mag, wie der Präsident in letzter Zeit zu mir ist, meine Arbeit muss ich trotzdem machen.«

»Klar.«

»Aber bevor Julie kommt, möchte ich ein paar Bilder holen, um sie ihr zu zeigen.«

»Was für Bilder?«

»Unsere Fotoalben. Damit sie weiß, wie ich früher ausgesehen habe. Und wie du ausgesehen hast. Sie sind im Keller.«

»Wenn du willst. Du weißt, wo sie sind?«

Er nickte, dann ging er hinauf in sein Zimmer. Ich setzte mich auf die Veranda. Fast eine halbe Stunde blieb ich da, bis es so dunkel war, dass man die Sterne sehen konnte. Schließlich ging ich hinein und hockte mich vor die Glotze. Ich zappte mich durch alle Kanäle, aber nichts konnte meine Aufmerksamkeit fesseln. Kein Wunder. Ich hatte andere Dinge im Kopf. Ich dachte an Julie. An meinen Vater. An Len Prentice.

An ein Gesicht am Fenster und zwei Tote in Chicago. Und an die verstorbene Allison Fitch.

Daran, dass ich mich mit solchen Dingen nicht beschäftigen müsste, wenn mein Bruder ein anderes Hobby hätte. Briefmarkensammler wurden nie Zeugen eines möglichen Mordes. Wenigstens soweit ich wusste. Gartenliebhaber und Bastler wahrscheinlich auch nicht.

Ich hätte gerne gewusst, ob Harry Peyton schon mit diesem Duckworth gesprochen hatte. Barry Duckworth. Warum hatte ich noch von keinem der beiden gehört? Weil Harry ihm schon alles erzählt hatte und Duckworth jetzt gerade recherchierte? Oder weil Duckworth sich alles angehört und dann gesagt hatte, das sei der größte Schwachsinn, der ihm je untergekommen sei.

Ich sah keinen Grund, warum ich das nicht selbst herausfinden sollte.

Ich schaltete den Fernseher aus, nahm das Laptop und suchte die Polizei von Promise Falls. Ich fand eine Büronummer und wählte.

»Polizei Promise Falls«, sagte eine Frauenstimme.

»Ich hätte gerne mit Detective Duckworth gesprochen.«

»Ich glaube, er ist schon nach Hause gegangen«, sagte sie. »Wer spricht denn?«

»Ray Kilbride.«

»Ich seh mal nach.« Während ich wartete, kam Thomas die Treppe herunter.

»Was machst du?«, fragte ich mit der Hand über der Sprechmuschel.

»Ich geh die Fotoalben suchen«, sagte er und verschwand im Keller.

»Hallo?«, sagte die Frau von der Zentrale. »Mr. Kilbride?«

»Ja?«

»Ich habe Detective Duckworth zu Hause erreicht. Bleiben Sie dran, ich verbinde Sie.« Es gab eine Pause, dann sagte jemand: »Ja, bitte?«

»Hallo? Detective Duckworth?«

»Wer spricht da? Sie haben gesagt, Sie heißen Kilbride?«

»Genau.«

»Soll das ein Witz sein? Doch nicht Adam Kilbride?«

»Nein, Sir. Ich bin sein Sohn.«

»Welcher Sohn?«

»Ray.«

»Ah ja. Sie sind der aus … wo wohnen Sie noch mal? Irgendwo in Vermont, oder?«

»Burlington.«

»Und Thomas, das ist Ihr Bruder?«

»Ja.« Ich nahm an, er wusste das alles von Harry Peyton.

»Verzeihen Sie mir wegen eben«, sagte er. »Mich hat’s nur fast umgehauen, als die Zentrale mich anrief und sagte, Mr. Kilbride wolle mich sprechen. Das mit Ihrem Dad tut mir leid.«

»Ja, danke. Und danke, dass Sie Zeit für mich haben. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich stecke hier in einem ziemlichen Schlamassel, wie Sie vielleicht wissen.«

»Ja, Ihr Vater und ich, wir haben schon darüber gesprochen«, sagte Duckworth.

Ich hatte das Gefühl, als habe jemand meinen Kopf in einen Farbmischer gesteckt. »Wie bitte?«, fragte ich. »Wann war denn das?«

»Vor zwei Wochen oder so«, sagte Duckworth.

Aus dem Keller schrie Thomas: »Ray!«

»Mein Vater hat vor zwei Wochen mit Ihnen gesprochen?«, fragte ich.

»Genau. Ist das nicht der Grund Ihres Anrufs?«

»Nein – ich meine, ja. Ich wollte nur mal nachfragen.«

»Ich habe Ihrem Vater gesagt, wenn er gerichtlich vorgehen will, würde es ziemlich schwierig werden, etwas zu beweisen.«

»Ray!«, rief Thomas wieder.

»Warte einen Moment!«, rief ich zurück. »Entschuldigen Sie. Mein Bruder sucht etwas im Keller. Sie sagten gerade, es würde schwierig, etwas zu beweisen.«

»Nach so langer Zeit. Und die Aussage Ihres Bruders wäre auch nicht ganz unproblematisch, das werden Sie sicher verstehen. Ihr Vater war sich dessen bewusst. Außerdem war er sich nicht wirklich sicher, ob er Ihrem Bruder das zumuten wollte. Netter Mann, Ihr Vater. Ich habe zwar nur dieses eine Mal mit ihm gesprochen, aber er scheint mir ein anständiger Kerl gewesen zu sein, ein guter Vater. Der es bestimmt nicht einfach hatte.«

»Detective Duckworth, Sie werden es nicht glauben, aber mir dämmert erst jetzt, wovon Sie eigentlich reden«, sagte ich. »Mein Bruder wurde missbraucht, stimmt’s?«

»Ihr Vater hat Ihnen nichts davon gesagt?«

»Nein. Aber seit ich hier bin, seit Dad tot ist, habe ich einiges gehört, und ich frage mich, was da eigentlich los ist. Es betraf meinen Bruder, und es war so schlimm, dass mein Vater sich Sorgen machte, Thomas würde es ihm vielleicht nie verzeihen. Und …« Ich überlegte, ob ich auch damit noch anfangen sollte, aber dann tat ich es einfach. »Mein Vater hatte auf dem Computer über Kinderprostitution recherchiert, aber ich weiß nicht, welche Seiten er sich dann tatsächlich angesehen hat. Mein Bruder hat die Chronik gelöscht, bevor ich es herausfinden konnte.«

»Ja, also … das passt schon ins Bild«, sagte Duckworth. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mit Ihnen darüber sprechen soll, Ray, und, ehrlich gesagt, es gibt da eine ziemlich wichtige Information, die Ihr Vater mir vorenthalten hat. Nämlich wer –«

»Ray!«

»Herrgott«, murmelte ich. »Haben Sie vielleicht eine Nummer, unter der ich Sie zurückrufen kann? In ein paar Minuten? Ich muss wirklich dringend mit Ihnen reden.«

»Klar.«

Ich holte mir einen Stift aus einer Küchenschublade und kritzelte die Nummer auf einen Schmierblock. »Ich rufe Sie gleich wieder zurück.«

»Ich bin da.«

Ich beendete das Gespräch und ließ das Telefon in der Küche liegen. Auf dem Weg zur Kellertür rief ich: »Herrgott noch mal, Thomas, ich war gerade am Telefon.« Ich ging die Treppe hinunter, konnte ihn aber nirgends sehen. Unser Keller war L-förmig, und wahrscheinlich stand er irgendwo hinter dem Knick.

»Wo bist du denn, verdammt noch mal?«

»Hier drüben«, sagte er.

Ich bog um die Ecke, und da stand er, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Seine Arme waren nicht zu sehen, als hätte er die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Und er war nicht allein. Schräg hinter ihm stand eine Frau. Mit der linken Hand hatte sie Thomas an den Haaren gepackt. In der rechten hielt sie etwas, das wie ein Eispick aussah. Sie hielt ihm die Spitze vorne an den Hals, direkt unter dem Kinn.