Neunundsechzig

Wo ist Ray?«, fragte Julie Thomas. »Denk nach, ja? Denk nach.«

Sie saßen vor dem Laden ihrer Schwester bei laufendem Motor in Julies Wagen. Candace stand auf dem Bürgersteig, beobachtete sie und fragte sich offenbar, was hier los war.

»Es war dunkel, und ich bin gerannt«, sagte Thomas. Er zitterte am ganzen Leib, und seine Kleider waren schweißgetränkt. »Ich bin so schnell gerannt, ich hab überhaupt nicht aufgepasst. Erst an der St. Mark’s/Ecke First Avenue.« Er sah Julie an. »Es war genau wie auf Whirl360, aber man konnte alles berühren und riechen.«

»Konzentrier dich«, sagte Julie. »Du sagst, du bist auf die Gasse hinausgelaufen und dann vor zur Straße. Welche Richtung hast du dort eingeschlagen?«

»Rechts.«

»Du bist nicht an dem Laden vorübergelaufen, in den sie euch gebracht haben?«

»Nein, in die andere Richtung.«

»Was war das Erste, woran du vorbeigekommen bist?«

Thomas überlegte. »Das war eine Schneiderei. Dann ein Fahrradgeschäft. Dann …«

»Was ist?«

»Ich glaube, es hieß Mike’s Bikes«, sagte er.

»Sehr gut.« Julie nahm ihr Handy vom Armaturenbrett. »Ich seh mal nach, ob ich’s finde.«

»Warte«, sagte Thomas. Er hatte die Augen jetzt geschlossen. »Mike’s Bikes. Das ist neben der Schneiderei.« Ruckartig legte er den Kopf ein wenig schief, hielt inne, ruckte, hielt wieder inne.

»Was machst du da?«, fragte Julie.

»Ich gehe die Straße entlang«, antwortete Thomas. In seinem Kopf klickte er sich mit seiner Maus durch Straßenansichten auf Whirl360.

»Welche Straße?«

»4. Straße«, sagte er. »4. Straße Ost.«

Julie hatte bereits den Gang eingelegt. Ohne ihrer Schwester auch nur zuzuwinken, stieg sie aufs Gas und preschte los. Thomas’ Kopf flog gegen die Kopfstütze. Er öffnete die Augen.

»Ich kann dir sagen, wie du hinkommst«, sagte er.

»Das schaff ich auch selbst. Aber sag mir, wo da.«

Thomas schloss wieder die Augen. Sein Kopf fing wieder an zu rucken. »Ich bin bei einem Antiquitätenladen«, sagte er. »Ferber’s Antiques. Das im Schaufenster sieht aus wie Spielzeug.«

»Hausnummer?«

Er sagte sie ihr. »Ich glaube, das ist der Laden. Da drin ist Ray.«

Julie überfuhr eine rote Ampel, bog in eine Seitenstraße, gab wieder Vollgas.

»Hast du eine Pistole?«, fragte Thomas. Er hatte die Augen wieder geöffnet.

»Was?«

»Hast du eine Pistole? Der Mann hatte eine Pistole, und die Frau hatte einen Eispick.«

»Nein, hab ich nicht. Scheiße!«, fluchte Julie. Ihr war gerade klargeworden, dass sie diesen Laden nicht allein stürmen konnte.

Sie brauchte die Polizei und die Feuerwehr. Aber für Erklärungen hatte sie keine Zeit. Julie zeigte auf ihr Handy. »Wähl den Notruf, dann gib’s mir.«

Thomas nahm das Telefon. »Drückt man zuerst die Sprechtaste und dann die Nummer?«

Sie riss es ihm aus der Hand, blickte ein paarmal zwischen Handy und Windschutzscheibe hin und her, und hielt es sich dann ans Ohr.

Als sich die Notrufzentrale meldete, legte Julie alle ihr zu Gebote stehende Panik in ihre Stimme und sagte: »Es brennt! Hinten bei Ferber’s glaub ich! Dem Antiquitätenladen in der 4. Straße Ost! Und ich glaube, ich habe auch Schüsse gehört!« Sie gab die Hausnummer an, legte auf, bevor man ihr noch irgendwelche Fragen stellen konnte, und warf Thomas das Handy in den Schoß.

Hatte schon zu Schulzeiten funktioniert, wenn sie sich vor einem Test drücken wollte.