Neunundzwanzig

Thomas wusste, dass er sich das Frühstück und das Mittagessen selbst machen musste. Ray hatte ihm gesagt, das sei jetzt seine Aufgabe. Ray hatte gesagt, wenn er zu nachtschlafender Zeit aufstehen musste, um mit dem Zug nach Manhattan zu fahren und diesem Hirngespinst hinterherzujagen (Thomas war ziemlich sicher, dass Ray das Wort Hirngespinst gebraucht hatte), dann war das Mindeste, was Thomas tun konnte, sich sein Essen selbst zu machen.

»Ist gut«, sagte Thomas. »Was haben wir denn im Haus?«

»Es gibt Brot und Marmelade und Erdnussbutter und Thunfisch. Schau nach. Mach die Schränke auf und nimm dir, was du brauchst.«

»Wenn ich Thunfisch will, wo ist der Dosenöffner?«

»Thomas, schau mich an.«

»Ja, Ray?«

»Benutz deinen Kopf. Wenn du etwas nicht gleich siehst, dann such es.«

»Ist gut.«

Ray war offensichtlich nicht besonders scharf darauf, sich dieses Fenster in der Orchard Street anzusehen, aber er hatte es versprochen, und Thomas war froh. Er war sich gar nicht so sicher, dass er noch eine Nachricht an die CIA geschickt hätte, um seine Besorgnis über den Tütenkopf zum Ausdruck zu bringen – seine Beziehung zur CIA sollte über das Berufliche nicht hinausgehen. Wenn man an höchster Stelle den Eindruck bekam, dass er immer gleich Alarm schlug, wenn er etwas Verdächtiges auf Whirl360 entdeckte, dann würde man seine Dienste vielleicht nicht mehr so gern in Anspruch nehmen, wenn das Große Ding passierte, was immer dieses Große Ding auch war.

Unabhängig davon wurde Thomas von Woche zu Woche zuversichtlicher, dass er bereit war. Jeden Abend, wenn er Whirl360 schloss, die Chronik seines Computers löschte, das Licht ausmachte und den Kopf aufs Kissen legte, durchstreifte er in Gedanken die Straßen einer Stadt, die er kürzlich erforscht hatte, bis er darüber einschlief. In der letzten Nacht war er mit geschlossenen Augen durch San Francisco gewandert. Er ging die Hyde Street entlang, bog rechts ab und schlenderte die wie ein Korkenzieher gewundene Lombard Street bergab auf den in der Ferne liegenden Coit Tower zu. Oder er blieb auf der Hyde Street, die dann ebenfalls bergab führte, und sah in der Ferne etwas, das Alcatraz sein musste. Dann überquerte er die Chestnut Street, wo die Häuser links den Blick freigaben auf eine Fläche, auf der es eigentlich nichts zu sehen gab und die sich Russian Hill Open Space nannte. Und wenn er die Hyde Street immer geradeaus ging, dann war er bald …

Eingeschlafen.

Ray steckte gegen fünf den Kopf in sein Zimmer und weckte ihn. »Ich fahre jetzt«, sagte er. »Mach keinen Unsinn.«

»Alles klar«, murmelte Thomas in sein Kissen.

Als er schließlich aufstand, schien die Sonne schon zum Fenster herein. Noch ehe er ins Bad ging, um sich schnell zu duschen, und sich anzog, schaltete er den Computer ein und machte Whirl360 auf.

In der Küche betrachtete er einen Augenblick unschlüssig die Schränke und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er war ziemlich sicher, dass die Frühstücksflocken im Schrank neben dem Kühlschrank waren. Er öffnete ihn zögernd, als rechne er damit, dass eine Ratte herausspringen würde. Doch da stand nur die Packung Cheerios, die er zu finden gehofft hatte.

Die Milch war im Kühlschrank. So viel wusste er schon. Er holte sich eine Schale, schüttete die Cheerios hinein, goss Milch dazu, aß alles auf und kehrte in sein Zimmer zurück. Die benutzte Schale ließ er auf dem Tisch, das Getreide und die Milch auf der Arbeitsplatte stehen. Allerdings nicht aus Schlamperei. Es war nur so, dass Ray von Wegräumen nichts gesagt hatte. Er hatte Thomas nur eingeschärft, dass er sich um sein Essen selbst kümmern musste. Wahrscheinlich wollte Ray selbst aufräumen, damit auch alles so gemacht wurde, wie er es haben wollte. So war es jedenfalls bei ihrem Vater gewesen. Adam Kilbride wollte immer über das Aufräumen bestimmen. Er ließ Thomas nie das Geschirr spülen. Deshalb wusste Thomas nicht, wie man den Geschirrspüler belud, den Staubsauger bediente, Wäsche wusch, den Boden schrubbte oder Staub wischte. Die einzige der Arbeiten in Haus und Garten, die Thomas gereizt hätte, war das Rasenmähen, doch sein Vater ließ ihn nicht mit dem Traktor fahren. Und jetzt wollte er ohnehin nie wieder damit fahren, selbst wenn Ray ihn gelassen hätte.

Nach dem Frühstück setzte er die Erkundung von San Francisco fort. Er spazierte durch die Stadtteile Sunset, Richmond und Haight-Ashbury, dann über die Golden Gate Bridge. Dazu brauchte er ganz schön viele Mausklicks. Dieser Teil der Stadtwanderung fesselte seine Aufmerksamkeit so, dass er fast vergessen hätte, sich um sein Mittagessen zu kümmern.

Kurz vor eins stand er wieder in der Küche. Die Vorstellung, sich ein Thunfisch-Sandwich zu machen, überforderte ihn, denn dazu hätte er den Dosenöffner benutzen müssen, und schon sein Vater hatte immer geflucht, wenn der Deckel endlich aufsprang und das Öl in alle Richtungen spritzte. Also entschied sich Thomas für Erdnussbutter und Brot. Er war gerade dabei, sich ein Brot zu schmieren, als es klopfte.

Erst tat er gar nichts, denn normalerweise war jemand da, der die Tür öffnete, doch dann wurde ihm klar, dass im Moment außer ihm niemand im Haus war. Er legte also das erdnussbutterbeschmierte Messer hin und ging nachsehen.

»Hallo, Thomas.«

Es war Len Prentice, oder Lenny, wie Adam Kilbride seinen früheren Arbeitgeber oft genannt hatte.

»Ah, hi, Mr. Prentice.«

Thomas sah dessen Wagen vor der Veranda stehen, aber es saß sonst niemand drin. Er war allein gekommen. Der Mann stand da, als wolle er hereingebeten werden, aber Thomas wollte das nicht. Er hatte Len Prentice noch nie leiden können.

»Ist dein Bruder da?«, fragte er.

»Er ist heute in New York«, antwortete Thomas.

»Was macht er denn da?«

»Er sieht nach, ob jemand mit einer Tüte erstickt wurde.«

Das verschlug Len einen Augenblick lang die Sprache. »Hä?«, machte er. Dann sagte er: »Du hast echt ’ne Meise, Thomas, was? Kann ich reinkommen?«

Thomas zögerte. »Ist wahrscheinlich nichts dabei«, sagte er dann.

»Ich kam gerade vorbei und dachte, schau ich doch mal, wie’s euch Jungs so geht.«

Thomas sagte nichts. Len Prentice hatte ihm ja keine Frage gestellt.

»Hast du vielleicht ein Bier?«

»Ich weiß nicht«, sagte Thomas in aller Aufrichtigkeit.

»Macht nichts. Ich seh selbst nach.« Len ging durchs Wohnzimmer in die Küche, öffnete den Kühlschrank und fand das Gesuchte.

»Na, Thomas, was treibst du denn den ganzen Tag?«, fragte er, öffnete die Flasche und nahm einen Schluck.

»Ich arbeite am Computer.«

Len nickte wissend. »Ach ja, stimmt. Mehr oder weniger rund um die Uhr.«

»Ich hab zu tun.«

»Wie war das noch mal mit Ray? Was macht der?«

»Er ist in New York.«

»Schon, aber das andere. Was hast du da gesagt?«

»Er trifft sich mit einem Freund wegen seiner Arbeit, und er versucht, rauszufinden, was mit der Person am Fenster passiert ist.«

Len trank noch einen Schluck von seinem Bier. »Der sie eine Tüte über den Schädel gezogen haben?«

Thomas nickte.

»Dein Vater hat sich bei mir alles von der Seele geredet«, sagte Len. »Ich war nämlich nicht nur sein Boss. Er und ich, wir waren Freunde. Und er hat mir erzählt, dass du ständig irgendwelche Fotos im Internet findest, und dann bist du ganz aus dem Häuschen. Er hat sogar überlegt, ob er dir den Zugang zum Internet kappen soll, aber solange du am Computer warst, musste er sich wenigstens keine Sorgen machen.«

Thomas wollte, dass Len Prentice endlich ging, damit er sich sein Erdnussbutterbrot fertig schmieren und mit nach oben nehmen konnte.

»Marie hat gesagt, ich soll vorbeischauen. Sie meinte, es wäre nett, wenn du und dein Bruder zum Abendessen kämt.«

»Da muss ich mit Ray reden«, sagte Thomas. Er wollte da nicht hin, wagte das aber nicht zu sagen. Er würde Ray bitten, sich darum zu kümmern.

»Dein Dad hat immer gesagt, er hat keine Ahnung, warum du so bist, wie du bist. Du hockst am liebsten den ganzen Tag zu Hause vor dem Computer. Und wenn du mal rausgehst, dann nur zu deiner Psychiaterin. Wie heißt die noch mal? Gargamel?«

»Grigorin.«

»Was mir einfach nicht in den Kopf will: Nicht mal zur Beerdigung deines eigenen Vaters bist du gegangen. Bist du so computerfixiert, dass du ihm nicht einmal die letzte Ehre erweisen konntest?«

Thomas blinzelte. »Warum sagen Sie solche Sachen, Mr. Prentice?«

»Keine Ahnung. Eigentlich nur, um überhaupt was zu sagen. Ich bin ein einfacher Mann, Thomas. Mit dem ganzen Psycho-Hokuspokus kenn ich mich nicht aus. Ich dachte, ich weiß, was dieses Schizodingsda ist, was du hast, nämlich dass du eine gespaltene Persönlichkeit hast, aber dein Vater hat gesagt, das ist ein allgemeines Missverständnis und stimmt gar nicht. Was ich nicht kapiere: Wenn du weißt, dass du ein Problem hast, warum tust du dann nichts dagegen?«

»Ich hab kein Problem«, sagte Thomas.

Len lachte leise. »Ein Sohn, der nicht zur Beerdigung des eigenen Vaters geht? In meinen Augen hat der ein ganz gewaltiges Problem.«

»Ich hatte zu tun. Und außerdem …«

»Außerdem was, Thomas?«

»Außerdem waren da Leute, die ich nicht treffen wollte.«

»Wer zum Beispiel? Meinst du vielleicht mich, Thomas? Ich war doch immer nett zu dir, oder etwa nicht?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Ich muss mir mein Mittagessen machen. Ich mach mir gerade ein Erdnussbutterbrot.«

»Ich hab eine Idee«, sagte Len Prentice. »Ich lade dich irgendwohin zum Essen ein.«

»Was?«

»Ich meine, du kommst jetzt mit mir aus dem Haus, und wir fahren mit dem Auto irgendwohin zum Essen.«

»Ich hab doch schon angefangen, mir ein Brot zu machen«, sagte Thomas und zeigte auf die Arbeitsplatte.

»Na und? Das hebst du dir eben für den Nachmittag auf. Ich fahr dich ein bisschen spazieren. Es würde dir guttun, mal rauszukommen.«

»Nein.«

Len stellt sein Bier ab und sagte. »Ich bestehe darauf.«

»Ich will aber nicht.«

Len kam auf ihn zu. »Ich glaube, da hat dein Vater einen Fehler gemacht. Er hat dir immer deinen Willen gelassen. Er hätte strenger sein müssen, dich mit neuen Dingen konfrontieren. Wir könnten nach Promise Falls hineinfahren und dort zu McDonald’s gehen oder uns eine Pizza holen. Wir könnten auch zu mir nach Hause fahren, und Marie soll dir was zu essen machen.«

Thomas trat einen Schritt zurück.

»Weißt du, nach dem, was ich gehört habe, musst du dich sowieso an den Gedanken gewöhnen, dieses Haus zu verlassen. Was ist, wenn dein Bruder es verkauft?«

»Vielleicht tut er das gar nicht.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass er dich hier allein wohnen lässt? Das wäre keine sehr schlaue Idee.«

»Vielleicht bleibt er auch hier wohnen. Wir könnten alle beide hier wohnen.« Aber noch während er es aussprach, kamen Thomas Zweifel, ob er das wirklich wollte. Er liebte seinen Bruder, aber der war manchmal so schwierig. Wie ihr Vater. Der hatte auch immer rumgenörgelt, wegen Dingen, für die Thomas nichts konnte.

»Na egal, ihr werdet schon das Beste draus machen«, sagte Len. »So, brauchst du noch eine Jacke oder so? Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich hätte Lust auf Kentucky Fried Chicken. Magst du KFC?«

Und ob Thomas KFC mochte. Nur wollte sein Bruder ihm nie Sachen von da holen. Ihr Vater hatte es manchmal getan. Aber mit Len Prentice wollte er nirgendwohin gehen. Er spürte, wie er ganz kribbelig wurde, als hätte er irgendwelche kleinen Tiere unter der Haut. Seine Atmung beschleunigte sich. Wurde flach. Er wäre ja vielleicht auch gern mal ausgegangen. Nicht lange. Und mit Leuten, die er mochte, denen er vertraute. Len Prentice mochte und vertraute er nicht.

Und sein Vater hatte ihn auch nicht besonders leiden können. Ja, sie waren so was wie Freunde gewesen. Hatten sich manchmal getroffen und gemeinsam Sport geguckt, ein Bier getrunken. Doch jedes Mal, wenn Adam Kilbride danach nach Hause gekommen war, hatte er gesagt: »Mensch, der Typ kann einem wirklich den letzten Nerv töten.«

Len streckte die Hand aus und packte Thomas am Arm. Nicht grob, aber bestimmt. »Auf geht’s, Partner. Amüsieren wir uns ein bisschen.«

Thomas riss sich los. Er legte mehr Kraft in die Bewegung als notwendig gewesen wäre und traf Len mit der flachen Hand unabsichtlich im Gesicht.

Len erstarrte, dann rieb er sich die Wange und sagte: »Das hättest du lieber nicht tun sollen, Thomas.«