Einundsiebzig
Im Laufe der folgenden vierundzwanzig Stunden mussten Thomas, ich und Julie eine Menge Fragen beantworten. Gestellt von allen möglichen Behörden. Getrennt und gemeinsam. Von der Polizei der Stadt New York, von der Polizei des Staates New York, vom FBI. Vielleicht auch noch von der Hafenpolizei. Möglich wär’s. Später erfuhr ich, dass sogar jemand vom Heimatschutz da gewesen war. Doch es waren so viele gewesen, die uns Löcher in den Bauch gefragt hatten, dass ich sie nicht mehr hatte auseinanderhalten können.
Als wir einen Augenblick allein waren, brachte Thomas seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass sich niemand von der CIA blicken ließ. »Man sollte doch meinen, dass sich einer dafür interessiert, wie’s mir geht«, flüsterte er. Ich sah den Ausdruck in seinen Augen. Er war gekränkt.
Das Gute an diesen stundenlangen Befragungen war, dass auf diese Art auch wir mitbekamen, was geschehen war. Die Lücken füllten sich Stück für Stück, hauptsächlich deshalb, weil die Feuerwehr und der Notarzt noch rechtzeitig gekommen waren, um Howard Talliman und Morris Sawchuck zu retten. Man hatte sie beide blutend auf dem Boden im vorderen Teil des Spielzeugladens gefunden.
Talliman, der in kritischem Zustand war, hatte sich noch nicht sehr gesprächig gezeigt. Sawchuck jedoch, der einen Lungenschuss erlitten hatte und dessen Zustand als ernst beschrieben wurde, erzählte den Strafermittlern alles, was er wusste. Er hing an diversen Geräten, die seine Atmung unterstützten, deshalb tippte er die Antworten auf die Fragen, die man ihm stellte, so schnell er konnte in das Laptop, das man ihm auf die Intensivstation gebracht hatte.
Die Erklärung für vieles von dem, was sich ereignet hatte, hatten wir noch während unserer Entführung erhalten. Fitchs Erpressungsversuch führte zu dem Mordauftrag. Was sie wirklich gewusst oder zu wissen behauptet hatte, erschloss sich uns allerdings nie wirklich. Bridget Sawchuck wurde versehentlich getötet. Das Ehepaar in Chicago war Nicole im Laufe ihrer Mission, das Foto der erstickten Frau aus dem Internet verschwinden zu lassen, zum Opfer gefallen.
Das war’s im Großen und Ganzen.
Lewis Blocker war natürlich tot.
Und Nicole konnte nicht mehr gerettet werden. Es stellte sich heraus, dass Nicole nicht ihr richtiger Name war. Es hieß, in einem früheren Leben sei sie Sportlerin gewesen und hätte sogar an irgendwelchen Olympischen Spielen teilgenommen – das erklärte den kraftvollen Tritt –, aber da war noch viel Ermittlungsarbeit zu leisten.
Ich war nicht stolz darauf, die Frau umgebracht zu haben. Ich wusste, ich hatte keine Wahl gehabt, aber es war mir keine Genugtuung, dass sie tot war. Ich würde bestimmt eine Zeitlang Alpträume deswegen haben.
Das A und O des Ganzen war jedoch: besser sie, als ich. Oder Thomas.
Viele der Fragen, die man mir stellte, als ich allein befragt wurde, betrafen Thomas und seinen seltsamen Zeitvertreib. Ich wusste, sie hatten sich mit Dr. Grigorin in Verbindung gesetzt, und auch unseren Freunden Parker und Driscoll vom FBI hatten sie ihre Aufwartung gemacht. Sie bestätigten meine Aussage im Großen und Ganzen: Thomas war sicher ein Unikum, aber keine Gefahr, weder für sich noch für andere. Zu guter Letzt sah es sogar so aus, als seien die verschiedenen Vollzugsbehörden überzeugt, dass Thomas nicht nur harmlos, sondern sogar ein Held war. Der Mord an Bridget Sawchuck wäre ohne seine Entdeckungsreisen im Internet nie ans Licht gekommen.
Was nicht thematisiert wurde, war, dass ebendiese Entdeckungsreisen Kyle und Rochelle Billings schließlich das Leben gekostet hatten. Ob Thomas das in den Sinn gekommen war, konnte ich nicht sagen, und ich vermied tunlichst, ihn darauf hinzuweisen. Vielleicht, weil ich an ihrem Tod genauso schuld war wie er. Ich war schließlich der Idiot, der den Ausdruck gut sichtbar in der Hand gehalten hatte, als ich an die Tür von Allisons ehemaliger Wohnung klopfte, und offensichtlich von einer Überwachungskamera dabei gefilmt wurde.
Nur von dem Anruf, den Lewis in Thomas’ Zimmer entgegengenommen hatte, wusste niemand etwas. Thomas sagte mir, er habe ihn nicht erwähnt, und ich ebenso wenig.
Nach allem, was passiert war, zog Thomas sich noch mehr in sich zurück. Ereignisse wie diese wären sicher für jeden traumatisch gewesen. Trotzdem fragte ich mich, ob Thomas womöglich gerade aufgrund seiner besonderen Veranlagung besser damit zurechtkam. Normalerweise schottete er sich von der Welt ab, außer von jenem Teil, der online zugänglich war. Vielleicht hatte diese Mauer um ihn herum ihn auch ein wenig vor dem wahren Ausmaß des Grauens geschützt.
Ich wusste es nicht.
Er war jedoch ziemlich grüblerisch. Vielleicht hatte es aber weniger mit unseren jüngsten Erlebnissen zu tun als mit dem, wovon er mir hatte erzählen wollen, bevor Nicole und Lewis uns überfielen. Von diesem Vorfall, als er dreizehn gewesen war, dem Auslöser für das Zerwürfnis zwischen Dad und ihm.
Damals hatte er gesagt, er könne sich vorstellen, mit Julie darüber zu reden, doch noch war es nicht so weit. Wir mussten uns erst wieder fangen, ehe wir uns dem nächsten ernsten Thema zuwenden konnten.
Außerdem ging auch mir so einiges im Kopf herum.
Ich hatte in Betracht gezogen, hierzubleiben und mit Thomas im Haus unseres Vaters zusammenzuwohnen, zumindest für eine Weile. Doch als ich Thomas meine Idee vortrug, war er zu meiner Überraschung nicht besonders angetan.
»Ich glaube nicht, dass ich mit dir zusammenwohnen möchte«, sagte er. »Schau dir an, in was für Schwierigkeiten du mich gebracht hast.« Er wolle lieber in dieses Heim ziehen, das ich mir für ihn angesehen hatte, vorausgesetzt, er dürfe seinen Computer behalten.
Trotzdem blieb mir immer noch die Möglichkeit, meine Wohnung in Burlington zu verkaufen und in Dads Haus zu ziehen. Dann wäre ich in Thomas’ Nähe und könnte nach ihm sehen, so oft ich wollte. An unserem letzten Morgen in New York City redeten wir beim Frühstück übers Reisen. Thomas sagte, er würde gerne das Schaufenster einer bestimmten Konditorei in Paris berühren.
»Ich glaube, wenn wir schon so weit wegfahren, dann wollen wir auch hineingehen und von den Köstlichkeiten probieren«, meinte ich.
»Könnten wir machen«, sagte er.
Doch unsere Zukunftspläne waren nicht alles, woran ich immer wieder denken musste. Auch dieser Anruf ging mir nicht aus dem Kopf.
Julie brachte uns in ihrem Wagen nach Hause.
Bei unserer Rückkehr zum Haus meines Vaters stand ein Polizeiwagen quer in der Einfahrt. Ich hätte es mir eigentlich denken können. Die Presse hatte Wind von unserer Geschichte bekommen und sich an unsere Fersen geheftet. Bis jetzt hatten wir einen großen Bogen um Journalisten gemacht, und das nicht nur, weil ich keine Lust auf den ganzen Rummel hatte. Ich wollte auch sicherstellen, dass Julie vor allen anderen Gelegenheit bekam, detailliert und aus erster Hand über uns zu berichten. Ein Exklusivbericht, wie man ihn sich sensationeller nicht wünschen konnte.
Der Uniformierte hinter dem Lenkrad stieg aus, um zu sehen, wer wir waren. Als er unsere Ausweise kontrolliert hatte, machte er uns den Weg frei. Julie fuhr vors Haus und hielt an. Thomas stieg als Erster aus. Er war zwar nicht gerade jemand, der seine Gefühle offen zeigte, dennoch bemerkte ich, wie froh er war, wieder zu Hause zu sein.
Als er sich der Veranda näherte, rief ich ihm nach: »Rühr das Telefon in deinem Zimmer nicht an.«
»Warum?«
»Darum«, sagte ich. »Halt dich am besten fern davon.«
Er erhob keine Einwände. Aus Telefonen machte er sich ohnehin nicht besonders viel. Was er wirklich kaum ertrug, war die Tatsache, dass er keinen Computer mehr hatte, an den er sich flüchten konnte. Er hatte mich auf der Heimfahrt mindestens zehnmal gefragt, wann wir ihm einen neuen besorgen würden.
Ich ging zur Fahrertür. Julie ließ das Fenster herunter.
»Danke«, sagte ich und beugte mich zu ihr hinein.
»Das sagst du ziemlich oft.«
»Das ist, weil du so verdammt hilfsbereit bist.«
»Ich fahr gleich ins Büro. Ich muss einen Artikel schreiben. Hab ich dir schon davon erzählt?«
»Ein bisschen.«
»Vielleicht ruf ich dich später an.«
»Kann’s gar nicht erwarten«, sagte ich, beugte mich noch weiter vor und küsste sie.
Ich sah ihr nach, dann ging ich ins Haus. Ich wollte eigentlich gleich hinauf zu Thomas gehen, doch dann sah ich das Lämpchen am Telefon in der Küche blinken und beschloss, davor noch schnell die Nachrichten abzuhören.
Es gab fünf.
»Hey, Ray. Hier ist Alice. Harry hat noch ein paar Sachen für Sie zum Unterschreiben. Melden Sie sich bitte.«
Piep. Ich drückte auf die 7, um die Nachricht zu löschen.
»Ray? Hey, hier ist Harry. Alice hat dir gestern aufs Band gesprochen. Ruf mich zurück.«
Piep. Wieder drückte ich auf die 7.
»Ray, Menschenskind, Harry hier. Ich hab die Nachrichten gesehen. Ich hoffe, euch geht’s gut. Hör mal, ruf mich zurück, wenn ihr wieder da seid.«
Piep. Wieder die 7.
»Hi, ich hätte gerne mit Thomas oder Ray Kilbride gesprochen. Mein Name ist Tricia, und ich bin Produzentin von Today, und wir würden sehr gerne mit Ihnen reden. Es ist sehr wichtig, dass –«
Diesmal wartete ich nicht bis zum Piep. Drückte die 7.
»Hallo, hier ist Angus Fried von der New York Times. Ich –«
7.
Ich war völlig ausgedörrt. Ich ließ das Wasser laufen, bis es ganz kalt war, dann füllte ich ein Glas und trank es in einem Zug aus.
Es war Zeit.
Ich hatte keine Ahnung, was ich erfahren würde, wenn ich mir ansah, wer Thomas unter seiner eigenen Nummer angerufen hatte. Vielleicht nichts. Vielleicht war die Nummer des Anrufers unterdrückt, und seine Identität würde für immer ein Geheimnis bleiben.
Ich stellte das leere Glas in die Spüle und ging zur Treppe.
Es klopfte.
Ein übergewichtiger Mann mittleren Alters stand vor der Tür und hielt mir seinen Ausweis hin. Er trug einen zerknitterten Anzug, sein Hemdkragen stand offen, die Krawatte hatte er gelockert.
»Mr. Kilbride?«, sagte er. »Unser Mann unten an der Einfahrt hat mir gesagt, dass Sie wieder da sind. Wie ich höre, haben Sie ein paar ziemlich turbulente Tage hinter sich. Wir beide hatten leider keine Gelegenheit, unser Telefongespräch zu Ende zu führen. Ich bin Barry Duckworth von der Polizei in Promise Falls. Sie haben ganz schön was mitgemacht. Ich habe alles darüber gehört. Aber warum ich hier bin: Ich würde gern noch mal mit Ihnen über Ihren Vater sprechen.«