Einunddreißig
Es war schon fast zehn, als ich in die Zufahrt einbog. Mir fiel sofort auf, wie dunkel das Haus war.
Die Lampen auf der vorderen Veranda, seitlich am Haus und die am Scheunentor waren an einen Timer angeschlossen und deshalb eingeschaltet. Doch hinter den Fenstern war keinerlei Licht zu sehen. Das Wohnzimmer lag im Dunkeln, ebenso der erste Stock. Nicht einmal der bläuliche Schimmer des Computers im Zimmer meines Bruders war zu sehen. Es war zwar eher unwahrscheinlich, aber vielleicht war er ja früher zu Bett gegangen.
Die Haustür war verschlossen. Ich sperrte auf, ging hinein und machte ein paar Lichter an. Dann lauschte ich. Alles still. Natürlich machte Thomas auch sonst nicht gerade viel Lärm. Whirl360 hatte keine Audiofunktion.
»Thomas?«, rief ich leise. Vielleicht schlief er. Ich wollte ihn nicht wecken. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er schon sehnsüchtig auf meine Rückkehr wartete, um zu hören, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Nicht viel, wie sich gezeigt hatte, doch das wusste er ja noch nicht.
Mein Blick fiel in die Küche. »Mist«, sagte ich leise.
Der ganze Tisch stand voll schmutzigem Geschirr. Nicht nur vom Frühstück, sondern auch vom Mittagessen. Was das Abendessen anging, war ich mir nicht so sicher. Ich legte die Hand auf die halbvolle Milchpackung, die ebenfalls noch auf dem Tisch stand. Raumtemperatur. Ich schnupperte daran.
»Iiih«, sagte ich und kippte sie in die Spüle. Dann entdeckte ich das mit Erdnussbutter verschmierte Messer, das neben dem offenen Glas auf der Arbeitsfläche klebte.
Ich ging nach oben und klopfte ganz leise an Thomas’ Tür. Nichts rührte sich. Vorsichtig öffnete ich sie.
Ich brauchte kein Licht anzumachen, um zu erkennen, ob er im Bett war. Mondlicht fiel durchs Fenster herein und beleuchtete die Decke. Das Bett war leer. Jetzt schaltete ich doch das elektrische Licht ein.
Der Computerturm summte noch, aber der Bildschirm war schwarz. Offensichtlich war er länger nicht mehr benutzt worden. Wenn Thomas Feierabend machte, fuhr er ihn ganz herunter.
Ich trat wieder auf den Flur und machte ein paar Schritte Richtung Bad. Die Tür stand offen. Ich machte Licht.
Auch hier keine Spur von ihm.
»Thomas!«, rief ich. Diesmal gab ich mir keine Mühe mehr, leise zu sein. »Thomas! Ich bin wieder da.«
Ein banges Gefühl beschlich mich. Ich hätte nie nach Manhattan fahren und ihn einen ganzen Tag lang allein lassen dürfen. Er hatte sich wieder in Schwierigkeiten gebracht. Aber was für Schwierigkeiten? Ich hoffte nur, dass die Leute vom FBI sich nicht noch mal herbemüht und ihn diesmal mitgenommen hatten.
Ich ging wieder nach unten. In der Küche gab es eine Tür, die in den Keller führte. »Thomas?«
Keine Antwort, trotzdem ging ich die Treppe hinunter. Mit dem Licht aus der Küche kam ich bis nach ganz unten, dort zog ich die Kette, die die nackte Glühbirne zum Leuchten brachte. Der Raum diente hauptsächlich zur Aufbewahrung. Unzählige Kisten mit Dingen, die meine Eltern im Lauf der Jahre zusammengetragen hatten, standen herum. Die zu sichten war ein schönes Stück Arbeit, das mir auch noch bevorstand. Ich ging herum, spähte hinter den Heizofen. Keine Spur von Thomas.
Ich ging durch die Küchentür hinaus in den Garten. Die Luft war kühl, sanftes Mondlicht lag über der Landschaft. Nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen, und hätte ich mich je mit Astronomie beschäftigt, hätte ich vielleicht außer dem Großen Wagen noch andere Sternbilder erkennen können.
»Thomas!«, rief ich noch einmal laut, dann sagte ich leise: »Verdammt.«
Ich überlegte, ob ich die Polizei rufen sollte, entschied mich aber, zunächst selbst noch einmal alles abzusuchen. Ich rannte zur Scheune hinüber und schob das hohe, breite Tor auf. Gleich neben dem Tor, an einen vertikalen Balken geschraubt, befand sich der große elektrische Schaltkasten. Ich machte das Licht an.
Es gab nicht viel zu sehen. Nur den Rasentraktor, mit dem unser Vater verunglückt war.
»Thomas! Verdammt, wenn du dich versteckst –«
Ich unterbrach mich. Versteckenspielen war so gar nicht seine Art. Überhaupt war Thomas nie ein verspielter Mensch gewesen. Ich lauschte. Da war das nächtliche Zirpen der Grillen, ein Geräusch, das immer da war, das man aber eigentlich nicht wahrnahm. Ganz in der Nähe raschelte es in den Strohresten, die schon jahrzehntelang hier herumlagen, seit den Tagen, in denen das Anwesen tatsächlich einem Farmer gehört hatte.
Eine Maus huschte über den Boden.
Als ich am Traktor vorbeikam, strich ich mit der Hand über die zerschrammte Motorhaube. In diesem Moment wünschte ich, Thomas hätte ein Handy, dann hätte ich versuchen können, ihn anzurufen.
Ich zerbrach mir den Kopf, wo er sonst sein könnte. Unten am Bach vielleicht, wo er Dad gefunden hatte? Ich löschte das Licht in der Scheune und rannte hinauf auf die Anhöhe hinter dem Haus. »Bist du da unten, Thomas?«
Nichts.
Wen konnte ich außer der Polizei noch anrufen? Thomas hatte keine Freunde, bei denen er hätte übernachten können.
Das Ganze war so untypisch für meinen Bruder.
Ich kehrte ins Haus zurück. Ich konnte nicht länger warten. Ich rief die Polizei in Promise Falls an und meldete Thomas als vermisst.
»Sir, wir schicken so schnell wie möglich jemanden zu Ihnen nach Hause«, sagte die Frau in der Notrufzentrale, »aber in der Zwischenzeit brauchen wir eine Beschreibung Ihres Bruders. Fangen wir mit dem Alter an. Wie alt ist er?«
Ich musste kurz überlegen. »Fünfunddreißig? Er ist zwei Jahre jünger als ich.«
»Und seit wann wird er vermisst?«
»Ich weiß nicht. Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin gerade erst nach Hause gekommen. Und er war nicht da.«
»Äh, Moment mal, Mr. Kilbride. Wir sprechen hier von einem erwachsenen Mann? Einem Fünfunddreißigjährigen, der möglicherweise das Haus verlassen hat, kurz bevor Sie zurückgekommen sind? Vielleicht wollte er schnell etwas besorgen oder ein bisschen durch die Gegend fahren.«
»Nein, so ist das nicht. Er verlässt das Haus nicht.«
»Vielleicht hatte er einfach die Nase voll vom ständigen Eingesperrtsein.«
Eine Erklärung würde zu lange dauern. »Thomas ist ein Psychiatriepatient. Also, kein richtiger Patient, aber er geht regelmäßig zum Psychiater, und es passt einfach nicht zu ihm, das Haus zu verlassen.«
»Sie haben einen Psychiatriepatienten allein gelassen?«
»Herrgott, so ist – könnten Sie einfach jemand herschicken, dem kann ich dann alles erklären.«
»Wir schicken Ihnen eine Wagen, Sir. Aber –«
»Ich muss Schluss machen.«
Ich wollte die Wartezeit bis zum Eintreffen der Polizei nicht mit Diskussionen mit der Telefonistin verplempern.
Allmählich wuchs sich mein banges Gefühl zur Panik aus. Ich trat auf die Veranda, von der aus ich die Straße beobachten und einen Blick auf das etwa dreihundert Meter entfernt gelegene Grundstück unseres nächsten Nachbarn werfen konnte. Der war vor ein paar Jahren gestorben, und jetzt lebte seine Witwe dort allein. Mehr konnte ich im Moment nicht tun, es sei denn, ich wollte sie aus dem Bett werfen.
Von der Stadt her kam ein Wagen angefahren. Als er sich unserer Zufahrt näherte, verringerte er die Geschwindigkeit und rollte auf das Bankett. Der Kies knirschte unter den Rädern.
Jetzt bog er in die Zufahrt ein und kam auf das Haus zu. Von Unruhe erfüllt ging ich dem Auto entgegen. Brachte da jemand Thomas oder schlechte Nachricht über ihn nach Hause?
Die Scheinwerfer blendeten mich. Ich konnte nicht erkennen, was für ein Wagen es war, und auch nicht, ob außer dem Fahrer noch jemand darin saß. Er parkte so neben meinem, dass ich, als die Beifahrertür aufging, zwar Thomas aussteigen, nicht aber sehen konnte, wer hinter dem Steuer saß.
»Thomas! Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
Er hielt etwas in der Hand. Es war etwa halb so groß wie ein Klemmbrett. Ich identifizierte es als einen Tablet-PC, eines dieser Hightech-Dinger, mit denen man tausend Dinge anstellen konnte, unter anderem im Web surfen. Thomas schien überhaupt nicht auf die Idee gekommen zu sein, dass ich mir Sorgen um ihn machen könnte. »Ich war essen. Fettuccine. Das Ding ist um Klassen besser als das GPS in deinem Auto. Was hast in New York rausgefunden? Ich will alles hören. Gehen wir rein, es ist kalt hier draußen.«
Er spazierte an mir vorbei, stieg die Verandastufen hinauf und ging ins Haus.
Ich hörte, wie eine Wagentür sich öffnete und zufiel. Sekunden später kam jemand auf mich zu und lächelte mich an.
»Hey«, sagte Julie. »Dein Bruder ist schon eine Nummer. Wir haben uns köstlich unterhalten. Und das mit dem Kopf in der Tüte, das ist ja eine abgefahrene Geschichte!«