Fünfundsechzig
Thomas stürzte hinaus. Vor ihm stand der weiße Kastenwagen. Er blockierte die schmale Gasse vollständig. Thomas blinzelte ein paarmal, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann blickte er links und rechts, entdeckte die Straße und rannte los.
An der Ecke bog er rechts ab. Es war eine reine Instinkthandlung. Er lief an einem Fahrradgeschäft vorbei, einem Schneider, anderen Läden, ohne darauf zu achten. Er konnte nur an eines denken: Er musste hier weg. Er musste hier weg, so schnell er konnte, und Hilfe holen.
Normalerweise hätte er sofort gewusst, wo er sich befand, doch im Augenblick arbeiteten zwei Faktoren gegen ihn. Erstens hatte er panische Angst. Zweitens war es Nacht. Auf Whirl360 gab es nur Tagaufnahmen.
Die ersten beiden Straßenzüge rannte er in vollem Tempo, doch das beizubehalten war unmöglich für jemanden, der seit Jahren nur in seinem Zimmer am Computer saß und körperliche Bewegung im Freien mied.
Und so wechselte Thomas von Galopp zu flottem Marsch. Mehrmals bog er ab. Bei dieser Querstraße links. Bei der nächsten rechts.
Nur weg, nur weg, nur weg.
Dann musste er haltmachen. Er beugte sich vor, legte die Hände auf die Knie und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Er keuchte. Seine Brust schmerzte.
Er richtete sich auf, ging ein paarmal langsam im Kreis, und als er wieder genügend Luft bekam, blickte er sich um. Es war zwar dunkel, doch es gab genügend Straßenlampen, um Dinge erkennen zu können. Schaufenster. Straßenschilder.
An einer Ecke Stromboli Pizza. An der Mauer die Schrift: »Dieser Augenblick ist kostbarer, als du denkst.« Daneben gab es ein vegetarisches Restaurant. Auf der anderen Straßenseite ein Schuhgeschäft mit den verschiedensten Turnschuhen im Schaufenster.
Ohne auf das Straßenschild zu sehen, sagte Thomas: »St. Mark’s Place Ecke First Avenue.«
Dann gestattete er sich einen Blick auf das Schild. Er hatte recht.
»Ich weiß, wo ich bin«, sagte er laut. »Ich weiß, wo das hier ist.«
Ein kleiner Mann mit schulterlangem Haar, der gerade vorüberschlenderte, sagte: »Schön für dich.«
Thomas war zu fasziniert von seiner Umgebung, um von dem Mann Notiz zu nehmen.
»Das ist New York«, sagte er. »Das ist Manhattan. Ich weiß, wo ich bin.«
Er ging auf die Pizzeria zu, stellte sich direkt vor die Fensterscheibe und berührte sie mit den Fingerspitzen.
Er konnte sie spüren.
Thomas spürte das Glas unter seinen Fingern.
In diesem Fenster sah er etwas, das er in keinem der Fenster der Städte, die er schon erkundet hatte, je gesehen hatte.
Er sah sein Spiegelbild.
Auf Whirl360 hatte er das nie erlebt. Er konnte die Wohnhäuser, die Läden, die Schilder, die Bänke, die Briefkästen sehen. Er konnte sogar heranzoomen, um sie zu vergrößern und genauer zu betrachten. Doch er konnte sich nur vorstellen, wie diese Dinge sich anfühlten.
Er roch etwas.
Gebackenes Brot. Teig. Pizzateig. Das Restaurant war geschlossen, es war schon sehr spät. Aber die Düfte waren noch da.
Es roch so gut. So appetitlich. Thomas merkte plötzlich, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte. Vor dem Bildschirm hatte er nie etwas von dem riechen können, was er gerade ansah.
Hinter ihm rumpelte ein Lastwagen vorbei. Thomas wirbelte herum, sah ihm nach, wie er die First Avenue entlangfuhr. Hier bewegten sich die Lastwagen. Machten Lärm. Die Menschen gingen. Und ihre Gesichter waren zu erkennen.
Seine Whirl360-Welt war geräuschlos. Geruchlos. Nichts, das man berühren konnte.
Voller Staunen betrachtete Thomas alles um sich herum. Hier zu stehen, an der Ecke St. Mark’s Place und First Avenue, war wie in seinem Computerbildschirm drinnen zu sein, nur echter. Es war überwältigend.
Er dachte an all die anderen Städte, in denen er schon gewesen war. Auf der ganzen Welt. Tokio. Paris. London. Bombay. San Francisco. Rio de Janeiro. Sydney. Auckland. Kapstadt.
Und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, wie es wäre, an diesen Orten zu sein, wirklich körperlich dort zu sein. Sie zu riechen. Zu hören. Ihre Straßen unter den Füßen zu spüren.
Verwunderung erfüllte ihn.
Ließ ihn beinahe vergessen, was er tun musste. Aber nur beinahe.
»Ray«, sagte er. »Ich muss Ray helfen.«
Aber wie?
Er sah keine Polizeiwagen. Und auch keine Telefonzellen. Und selbst wenn er eine gesehen hätte: Er hatte kein Geld bei sich. Keine Münzen, kein Papiergeld, keine Brieftasche voller Kreditkarten. Thomas besaß nicht einmal eine Kreditkarte. Hätte sie auch nicht zu benutzen gewusst.
»Taxi!«
Thomas drehte sich um. Er erblickte einen Mann, der einen Arm gehoben hatte, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen, der eines dieser gelben Autos fuhr. Der Mann sprang hinein, und das gelbe Auto fuhr los.
Thomas hatte auch kein Handy. Damit hätte er wahrscheinlich die Polizei rufen können. Ray hatte sein Handy immer dabei, und ihr Vater hatte eines gehabt, und Julie hatte eines. Er konnte also davon ausgehen, dass die meisten Leute eines hatten. Die meisten Leute, die hier unterwegs waren, hatten vermutlich ein Handy bei sich.
Von Süden staksten zwei junge Mädchen auf ihren hohen Absätzen daher, Arm in Arm, als müssten sie einander stützen.
»Entschuldigung«, sagte Thomas und stellte sich ihnen mitten in den Weg. »Ich wette, ihr habt Handys. Könnte ich mir eines leihen, um den Notruf zu wählen?«
Abrupt blieben die Mädchen stehen, blinzelten. Thomas hatte den Eindruck, die beiden hätten vor etwas Angst. Schnell lösten sich die beiden voneinander und gingen links und rechts an ihm vorbei. »Spinner«, murmelte die eine.
Hatten wahrscheinlich doch keine Handys dabei. Also versuchte Thomas es bei zwei anderen Leuten. Der erste war ein alter Mann in zerlumpten Klamotten, der sich eingehend für den Inhalt eines Mülleimers interessierte. Jedenfalls mehr für den halbvollen Pappbecher, den er gefunden hatte, als für Thomas’ Frage. Die zweite Person war eine Frau mittleren Alters, die ihre Tasche fester an den Busen drückte und ihren Schritt beschleunigte, als Thomas ihr Handy verlangte.
Vielleicht hatten sie in New York keine Handys. Thomas hätte jetzt gerne Julie an seiner Seite gehabt. Er mochte Julie. Julie wüsste, was zu tun war.
Doch wie sollte er sich mit ihr in Verbindung setzen? Selbst wenn er ein Telefon gehabt hätte, er wusste ihre Nummer nicht. Was konnte er also –
Moment mal.
Julie hatte eine Schwester, die in New York wohnte. Die hatte einen Laden und verkaufte Cupcakes. Wie hieß sie noch mal? Was hatte Julie gesagt? Candace? Genau! Und ihr Laden hieß Candy’s Cupcakes. Julie hatte gesagt, Candace wohne über dem Laden.
In der 8. Straße. West.
Thomas schloss die Augen. Er konnte ihn sehen. Das Schaufenster voller Kuchen. Die rot-weiß gestreifte Markise. Die zwei schmiedeeisernen Tische mit Stühlen, die vor dem Laden auf dem Gehsteig standen.
Candace wüsste bestimmt, wie er Julie erreichen konnte. Er musste zu Candace.
Jetzt musst er nur irgendwie in die 8. Straße kommen. West.
Thomas blickte die Straße entlang. Da sah er noch eines dieser gelben Autos kommen. Er trat also auf die Straße, mitten auf die Fahrbahn, streckte beide Hände in die Luft und rief: »Taxi!«
Der Fahrer machte eine Vollbremsung, und der Wagen kam quietschend zum Stehen.
»Komplett verrückt geworden, oder was?«, schrie der Taxifahrer.
Thomas ging zu ihm. »Sir, Sie müssen mich zu Candy’s Cupcake bringen. 8. Straße, West, New York City.«
»Und wo zum Teufel denken Sie, dass wir jetzt sind?«
»Wir sind St. Mark’s Place Ecke First Avenue«, sagte Thomas und dachte, dass ein Mann, der ein Taxi fuhr, so etwas wissen sollte.
»Steigen Sie ein«, sagte der Taxifahrer.
Thomas rannte um den Wagen herum, um auf der Beifahrerseite einzusteigen.
»Hinten!«, rief der Fahrer und schüttelte den Kopf. Thomas setzte sich auf den Rücksitz. Und obwohl es schon lange her war, seit er zuletzt einen Film gesehen hatte, sagte er, was man seiner Meinung nach in so einer Situation sagte: »Geben Sie Gas.«
Der Fahrer gab Gas.
»Ich muss meinem Bruder helfen, der wird nämlich gefangen gehalten«, sagte Thomas.
»Mhm«, sagte der Fahrer.
»Deshalb hab ich’s auch so eilig. Es ist alles wegen dieser Frau, die am Fenster ermordet wurde.«
»Hör mal, Kumpel, wir haben alle unsere Probleme.«
Thomas las die Straßenschilder, an denen sie vorüberfuhren. »Ich glaube, es gibt da einen schnelleren Weg.«
»Hör ich heute zum ersten Mal«, sagte der Taxifahrer.
Es gab so wenig Verkehr, dass das Taxi in kürzester Zeit vor der Konditorei stand. »Sieht mir ziemlich zu aus«, sagte der Fahrer. »Wenn Sie den Cupcake so dringend brauchen, dann wüsste ich ein paar Lokale, die die ganze Nacht offen haben.«
Thomas sah zu den Fenstern im ersten Stock. Dort oben musste Candace wohnen. Doch wie sollte er da hinaufkommen? Vielleicht gelangte man ja durch den Laden in die Wohnung. Wenn er richtig laut an die Tür hämmerte, wachte sie vielleicht auf und kam herunter.
Thomas öffnete die Tür und setzte einen Fuß auf den Gehsteig.
»Halt!«, sagte der Taxifahrer. »Können Sie nicht lesen? Macht fünf achtzig.«
»Was?«
»Sie schulden mir fünf achtzig.«
»Ich habe kein Geld«, sagte Thomas. »Ich brauche keines, weil ich immer zu Hause bin.«
»Fünf achtzig!«
»Mein Bruder hat Geld«, sagte Thomas. »Wenn er nicht mehr entführt ist, könnte er Sie bezahlen.«
»Raus aus meinem Taxi«, sagte der Fahrer und gab Vollgas, kaum dass Thomas die Tür zugeschlagen hatte.
Er ging zur Tür von Candy’s Cupcakes und hieb mit der Faust gegen das Glas. Im Laden war es dunkel, aber Thomas glaubte, hinten Licht zu sehen.
»Hallo!«, rief er. »Candace?«
Und klopfte ununterbrochen weiter, dass das Glas schepperte. Endlich kam ein kleiner schwarzer Mann daher, schloss auf und öffnete die Tür einen Fußbreit.
»Geht’s noch?«, schrie er Thomas an.
»Candace muss Julie anrufen«, sagte Thomas. Kuchenaroma schlug ihm entgegen, und was der Mann da auf dem Hemd hatte, sah aus wie Teigspritzer. Arbeitete er mitten in der Nacht?
»Was?«, fragte der Mann.
»Ich muss mit Julie reden. Es geht um Ray. Sie haben ihn an einen Stuhl gefesselt.«
»Hau ab!«, sagte der Mann und wollte die Tür schließen, doch Thomas stemmte sich dagegen.
»Ich muss mit Candace reden!«, schrie er. »Hat sie Julies Handynummer?«
Der Mann schrie nach hinten in den Laden: »Chefin! Hey, Chefin!«
Sekunden später tauchte eine Frau mit einer weißen Schürze und einem Haarnetz auf.
Sie kam zur Tür und fragte: »Was ist los?«
»Der Spinner hier schreit die ganze Zeit nach Ihnen. Irgendwas mit einer Schwester. Julie?«
Die Frau schob den Mann beiseite und zog die Tür weiter auf. »Wer sind Sie?«
»Thomas.«
»Thomas, und wie noch?«
»Thomas Kilbride. Sind Sie Julies Schwester?«
»Ja.«
»Müssen Sie mitten in der Nacht arbeiten?«
»Was zum Teufel wollen Sie? Was ist mit Julie?«
»Haben Sie ihre Handynummer?«
»Wieso?«
»Sie muss mir helfen, Ray zu retten.«
Candace schüttelte entnervt den Kopf und holte ein Handy aus der Schürzentasche. Sie rief eine Nummer auf, drückte auf die Wahltaste und hielt sich das Telefon ans Ohr.
Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass ihre Schwester so schnell abhob.
»Hey, hör mal, ich bin’s. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich um diese Zeit anrufe, aber hier ist so ein Verrückter, der sagt, er muss mit – äh, Thomas. Er sagt, er heißt Thomas. Ist gut.« Sie gab ihm das Handy. »Sie will mit Ihnen sprechen.«
Thomas nahm es und sagte: »Hi, Julie, sie haben mich und Ray entführt und haben uns hierhergebracht, und ich bin entkommen und sie haben noch Ray und er hat mir geholfen, mich loszumachen, aber da war keine Zeit mehr, ihn loszumachen und –«
»Bist du in der Konditorei?«, fragte Julie ungläubig.
»Ja.«
»Ich kann in zwei Minuten da sein. Bleib, wo du bist!«
Thomas gab Candace das Handy zurück. »Sie ist gleich da.«
Candace sah ihn völlig entgeistert an und sagte: »Meine Schwester ist in New York? Warum ruft sie mich dann nicht an?«