Neunundvierzig

Nicole rief Lewis noch am Vormittag aus Florida an und sagte, alles sei erledigt. Lewis wies sie an, den nächstmöglichen Flug nach Norden zu nehmen. Während sie Allison Fitch aufgespürt habe, habe er den Mann ausfindig gemacht, der der Wohnung der Fitch einen Besuch abgestattet hatte. Sein Name sei Ray Kilbride, und sie würden ihn gemeinsam abholen.

»Abholen?«, wiederholte Nicole.

»Wir müssen wissen, was er weiß. Wir müssen wissen, warum er dort war. Mein Auftraggeber will mit ihm sprechen.«

»Mir auch recht.«

»Du fliegst übrigens nicht nach New York«, fügte Lewis noch hinzu. Er nannte ihr ein anderes Ziel, näher an dem Ort, wo sie Kilbride finden würden. »Wir treffen uns dort.«

»Alles klar«, sagte sie und legte auf.

Dann meldete Lewis sich bei Howard Talliman.

»Sie wurde gefunden. Und sie ist kein Problem mehr«, sagte Lewis. Er hatte keine Bedenken, solche Dinge mit Howard am Telefon zu besprechen, denn er wusste, dass der einen Sicherheitsexperten hatte, der sein Büro jeden Morgen nach Wanzen absuchte.

»Das ist eine große Erleichterung, Lewis.«

»Und ich mach mich jetzt auf den Weg nach Norden, um mich um unser anderes Problem zu kümmern.«

»Für eine Entwarnung ist es noch zu früh.«

»Seh ich auch so.«

»Wir müssen wissen, warum Kilbride dieses Foto hatte. Wir müssen wissen, warum er da war. Hast du Grund zu der Annahme, dass er nicht ist, was zu sein er vorgibt?«

»Er ist Illustrator. Mehr nicht.«

»Gelegentlich trügt der Schein, Lewis.«

»Ich weiß. Aber ich habe sein ganzes Leben zerpflückt, seit ich rausgefunden habe, dass er unser Mann ist. Ich habe seine Sozialversicherungsnummer. Seine Visa Card ist mit 54 Dollar belastet. Er lebt bescheiden. Er hat seine Hypothek abbezahlt. Letztes Jahr hat er sein Einkommen mit 73675 Dollar angegeben. Er fährt einen Audi Q5. In den letzten zehn Jahren hat er vier Strafzettel für zu schnelles Fahren kassiert, das ist alles, was er auf dem Kerbholz hat. War nie verheiratet. Hat einen Bruder namens Thomas, der mit ihrem Vater in Promise Falls lebt. Klingt das für dich nach einem verdeckten CIA-Ermittler?«

»Nein, aber es gibt keine plausible Erklärung, warum jemand, der sich seinen Lebensunterhalt mit albernen Zeichnungen verdient, am Schauplatz eines Mordes mit diesem Foto auftaucht. Ist er im Internet darüber gestolpert und war einfach nur neugierig oder hatte er schon davor eine Ahnung, was in dieser Wohnung geschehen ist? Beunruhigend sind beide Szenarios, aber das zweite noch mehr als das erste. So was tut kein Illustrator. Ein Privatdetektiv, ja. Ein FBI-Agent, ja.« Er machte eine Pause, als müsse er sich für seinen nächsten Gedanken wappnen. »Oder jemand von der CIA.«

»Howard, ich hab dir gesagt, was ich weiß. Wenn du den Hurensohn vor dir hast, kannst du ihn fragen, was immer du willst. Ich flieg jetzt da rauf und miete mir einen Van.«

»Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Howard und beendete das Gespräch.

Er hatte immer damit gerechnet, dass ihnen die Goldsmith-Sache einmal um die Ohren fliegen könnte, auch wenn der Mann selbst tot war. Aber weshalb sollte die CIA in der Orchard Street rumschnüffeln? Es musste in Langley Leute geben, die bereits alles über Goldsmiths Deal mit Morris wussten. Himmelherrgott, dort haben sie sich das Ganze doch ausgedacht. Das war doch nicht Morris’ Idee gewesen.

War es möglich, dass die, die nach Goldsmiths Tod jetzt auf der Abschlussliste standen, ihren Arsch zu retten versuchten, indem sie Morris noch mehr anhängten? Aber selbst wenn, wie hätten sie eine Verbindung zwischen Morris und der Orchard Street herstellen sollen? Hatten sie vielleicht auch Bridget beobachtet? Das mit ihr und Allison Fitch herausgefunden? Was sie wiederum ins Internet geführt haben könnte, zu dem Foto und –

Klang schon ziemlich weit hergeholt.

Aber es gab Tatsachen, und über die konnte man nicht hinwegsehen. Dieser Ray Kilbride war vor Allison Fitchs Wohnung aufgetaucht. Was ihn dort hingeführt hat, war vermutlich das Bild von dem Mord an Bridget Sawchuck, das er im Internet gefunden hatte.

Howard kam zu dem Schluss, er müsse mit Sawchuck sprechen. Auf den Busch klopfen, ohne Fitch oder Kilbride oder die Ereignisse in der Orchard Street zu erwähnen, denn Morris hatte noch immer keinen Schimmer, wie seine Frau tatsächlich ums Leben gekommen war.

Dass sie sich nicht umgebracht hatte. Sondern dass sie einem Mord zum Opfer gefallen war, der das direkte Ergebnis einer Maßnahme war, die sein bester Freund in die Wege geleitet hatte.

Morris hob beim dritten Klingelton ab. »Bin gerade auf dem Weg zum Mittagessen mit dem Bürgermeister«, sagte er. »Was gibt’s?«

»Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast, Morris. Dass du meinst, es sei Zeit. Ich weiß, du glaubst, ich höre dir nicht zu, aber ich tu’s. Ich weiß, wie’s dir geht.«

»Interessant, dass du das sagst, Howard. Ich habe mich nämlich schon gefragt, was in letzter Zeit mit dir los ist. Ich habe mich gefragt, was aus dem Howard geworden ist, den ich kannte. Der gern auf Risiko geht und ein bisschen die Kacke aufrührt.«

»Ich hab nichts dagegen, die Kacke aufzurühren, aber ich habe was dagegen, dass du reintrittst«, sagte Howard. »Deshalb passe ich in letzter Zeit gut auf, wo ich hintrete. Du bist mein Freund, Morris. Wenn ich dir einen Rat gebe, dann gebe ich ihn dir vor allem als Freund. Ich möchte, dass du das weißt.«

Morris antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Gut.«

»Ich habe nachgedacht. Du möchtest wieder loslegen, und ich glaube, das Einzige, was uns noch zurückhält, ist die Ungewissheit in dieser Goldsmith-Sache.«

»Stimmt.«

»Ich muss mir einigermaßen sicher sein, Morris, dass das ausgestanden ist.«

»Da sind wir uns einig. Und ich sage dir, Howard, nachdem Goldsmith – der arme Barton, Gott hab ihn selig – sich das Leben genommen hat, ist das Risiko minimal. Der ganze Skandal, als Verräter an der eigenen Regierung hingestellt zu werden, das hat er nicht ertragen – und auch nicht verdient. Ihm ging es immer nur um eins, um Amerika und die Sicherheit seiner Bürger.«

Howard schwieg. Dann sagte er: »Morris, hältst du es für denkbar, dass irgendjemand bei der CIA nach dieser Geschichte einen Grund hätte, dich zu überwachen?«

»Ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Nur mal angenommen, rein hypothetisch, die CIA lässt dich überwachen. Was für Gründe könnte es geben? Spielen wir das mal durch.«

»Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, dass Vertraute von Goldsmith, die wussten, was er tat, Vertraute, die daran beteiligt waren, sich Sorgen machen, ich könnte an die Öffentlichkeit gehen. Aber die wüssten auch, dass das politischer Selbstmord wäre.«

Howard stimmte ihm zu. »Kannst du dir vorstellen, dass Barton ganz am Anfang, bevor ihr den Deal vereinbart habt, dass er da vielleicht Leute auf dich angesetzt hat? Und, keine Ahnung, vielleicht sogar auf Bridget?«

»Warum in aller Welt sollten sie mich oder Bridget denn überwachen? Gibt’s da irgendwas, von dem ich nichts weiß?«

»Aber woher! Du weißt, ich erzähle dir alles.«

»Das ist doch Quatsch, Howard. Du erzählst mir alles, was ich wissen muss. Und was ich besser nicht weiß, das erzählst du mir erst gar nicht.«

Auch da musste Howard zustimmen. »Die Sache ist die: Bevor du wieder in den Ring steigst, müssen wir einfach bestimmte Szenarios in Betracht ziehen, und wenn sie noch so unwahrscheinlich sind. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.«

»Einverstanden. Aber das ist doch Humbug. Hör mal, vergiss diese Goldsmith-Geschichte. Da müssen wir uns keine Sorgen mehr machen. Aber wir verschwenden kostbare Zeit, wenn wir Däumchen drehen, bis wir ganz sicher sind, dass die Gefahr gebannt ist. Wir müssen uns zusammensetzen und unseren nächsten Schritt planen. Wir müssen entscheiden, wen wir an Bord holen, wer uns am meisten nützt. Wir müssen langsam anfangen, die Schwächen unserer Gegner unter die Lupe zu nehmen. Mensch, Howard, das muss ich dir doch nicht sagen. Die Regieanweisungen sind doch von dir.«

»Ich weiß.«

»Treffen wir uns heute Abend.«

Howard wusste, was damit gemeint war. Eine ihrer seit Jahren bewährten Strategiesitzungen. Sie trafen sich nach Mitternacht und arbeiteten durch bis zum nächsten Morgen. In diesen Stunden, wenn sie keinerlei Unterbrechungen befürchten mussten, hatten sie ihre besten Ideen.

»Okay«, sagte Howard. »Das machen wir.«

»Gut. Bis später, mein Freund. Schnür schon mal die Boxhandschuhe.«

Morris legte auf.

Vielleicht, so hoffte Howard, gab es ja noch vor diesem Treffen Klarheit über die Rolle, die Ray Kilbride bei dem Ganzen spielte.


Lewis wollte gerade das Flugzeug besteigen, da klingelte sein Handy.

»Hallo«, sagte er.

»Du hast versucht, mich zu erreichen«, sagte ein Mann.

»Victor«, sagte Lewis. »Danke, dass du zurückrufst.«

»Was kann ich für dich tun?«

»Es geht um jemanden, der mal für dich gearbeitet hat.«

»Lebt er noch?«

»Ja.«

Das engte die Auswahl ein. Es gab nur sehr wenige Leute, die aus Victors Diensten ausschieden. »Verstehe«, sagte er.

»Sie hat was für mich erledigt und einen sehr großen Fehler gemacht.«

»Tatsächlich.«

»Hat ein schlechtes Licht auf mich geworfen. Sie bringt das jetzt wieder in Ordnung, aber wenn dieses Problem gelöst ist, muss ich die Sache endgültig aus der Welt schaffen. Ich habe einen Ruf zu verteidigen.«

»Kann ich verstehen.«

»Aber ich dachte, ich bin es dir schuldig, dich über meine Absichten in Kenntnis zu setzen. Wenn du Einwände hast, werde ich nichts unternehmen.«

»Ich hätte das selbst tun sollen, aber ich war schwach«, sagte Victor. »Ich habe sie aufgenommen und wie eine Tochter behandelt. Und wie dankt sie es mir? Sie geht einfach. Von mir hast du hier nichts zu befürchten.«

»Danke. Wie läuft’s in Vegas?«

»Zu viele Leute bringen ihre Kinder mit.«

Lewis verabschiedete sich, steckte das Handy ein und bestieg das Flugzeug.