Dreiundzwanzig
Der Staubsauger hat den Rand geschluckt«, sagte Thomas, als ich ins Haus kam. Dads Laptop hatte ich auf der Veranda gelassen. Allem Anschein nach hatte die Elektrobürste den halben Läufer inhaliert, der zwischen der Haustür und der Küche lag. Durch die Verstopfung hatte sich das Gerät ausgeschaltet.
»Zieh den Teppich halt raus, Thomas.«
»Mit der Hand?«
»Ja.«
»Und wenn er sich wieder einschaltet und meine Finger einsaugt?«
»Das wird nicht –«
Das Telefon klingelte.
»Verdammt noch mal.« Ich hob ab. »Ja.«
»Spreche ich mit Ray Kilbride?« Eine Frauenstimme.
»Ja.«
»Ray, hier ist Alice. Kanzlei Harry Peyton. Wir wollten fragen, ob Sie Zeit hätten, kurz vorbeizukommen und ein paar Papiere zu unterschreiben. Es geht um den Nachlass Ihres Vaters.«
»Äh, ja, klar«, sagte ich und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. »Selbstverständlich. Wann soll ich denn kommen?«
»Also, im Moment ist es ziemlich ruhig. Wenn es Ihnen nicht ganz ungelegen kommt, dann wäre jetzt –«
»Ist gut. Ich bin gleich da.«
Ich legte auf. Als ich mich umdrehte, wäre ich fast mit Thomas zusammengestoßen, der mit dem außer Gefecht gesetzten Staubsauger dicht hinter mir stand und auf Anweisungen wartete.
»Was ist los?«, fragte er.
»Ich muss zum Anwalt und ein paar Papiere unterschreiben.«
»Ich mach mich wieder an die Arbeit«, sagte Thomas mit einem Blick nach oben. »Ich bin ganz schön im Rückstand.«
»Gut. Ich kümmere mich nachher um den Staubsauger.«
Auf der Fahrt in die Stadt zerbrach ich mir den Kopf, warum in aller Welt mein Vater das Netz nach Informationen über Kinderprostitution durchforstet hatte. Die ersten beiden Suchbegriffe leuchteten mir ja noch ein. Er hatte davon gesprochen, sich ein neues Handy zuzulegen, mit dem er ins Internet gehen und fotografieren und sonst alles Mögliche tun konnte. Und nach dem, was ich von Harry und Len aufgeschnappt hatte, war es gut möglich, dass Dad unter Depressionen litt. Durchaus denkbar, dass er selbst auch zu dieser Diagnose gekommen war.
Aber Kinderprostitution?
Mir fiel einiges dazu ein, doch nichts, womit ich mich beschäftigen wollte.
Ich bemühte mich, einen plausiblen Grund zu finden, warum Dad darüber recherchiert hatte. Es musste einen geben.
Denk nach.
Also gut. Vielleicht hatte er etwas im Fernsehen gesehen, irgendwas in den Nachrichten, über die sexuelle Ausbeutung von Kindern. Und er war so entsetzt über das, was er gesehen hatte, dass er mehr darüber wissen wollte. Und was wäre der Grund dafür? Vielleicht wollte er eine Wohltätigkeitsorganisation unterstützen, deren Ziel es war, Kinder in aller Welt aus dieser Versklavung zu befreien.
Klang das nach meinem Vater? Hat er sich je für Organisationen interessiert, denen er etwas spenden konnte?
Nein.
Er war ein guter Mensch, daran bestand kein Zweifel. Wenn jemand Hilfe brauchte, half er. Ich erinnerte mich, als ich ein Kind war, brach bei unseren Nachbarn ein Feuer aus. Nicht bei den Hitchens, sondern im Haus der Nachbarn auf der anderen Seite. Die Feuerwehr war schnell genug da, um den größten Teil des Hauses zu retten, doch die Küche war verwüstet. Unsere Nachbarn waren nicht versichert und hatten auch kein Geld, um jemanden kommen zu lassen, der die Küche instand setzte. Also wollten sie es selbst machen. Leider stand ihre Kompetenz in keinem Verhältnis zu ihrer Entschlossenheit. Auch mein Vater war kein gelernter Installateur oder Zimmermann, aber ein ziemlich guter Heimwerker, das hatte er wiederum von seinem Vater gelernt. Einen Monat lang arbeitete mein Vater in jeder freien Minute an dieser Küche.
Er war also durchaus ein hilfsbereiter Mensch, aber einer, der zupackte. Seine Zeit und seine Energie stellte er gern zur Verfügung, aber er war nicht der Typ, der irgendwo anrief und irgendwelchen Hilfsorganisationen seine Kreditkartennummer auf die Nase band.
Spendenbereitschaft als Motiv für seine Recherchen schied also aus.
Vielleicht hatte er ja gehört, dass Kinderprostitution sich im Staat New York zum Problem entwickelt hatte und wollte sich vergewissern, dass es nicht auch in Promise Falls so weit kam. Dieses Motiv schien mir noch weiter hergeholt.
Was gab es sonst noch?
Das Motiv, mit dem ich mich am wenigsten auseinandersetzen wollte, war, dass Dad selbst sich für das Thema interessierte.
Wenn ich vom Anwalt zurückkehrte, wollte ich in der Chronik der besuchten Websites nachsehen, wohin Dads Recherchen ihn geführt hatten. Vielleicht kam ich seinen Beweggründen mit ihrer Hilfe auf die Spur.
Im Laufe meines Lebens hatte ich immer wieder Geschichten gehört von Leuten, die nach dem Tod ihrer Eltern alle möglichen Geheimnisse entdeckt hatten. Der eine hatte eine Mutter, die ihr Kind zur Adoption freigegeben hatte, bevor sie heiratete. Die andere einen Vater, der ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt hatte. Die dritte eine Mutter, die jahrelang ihre Tablettensucht verheimlichen konnte. Der vierte einen Vater, der ein Doppelleben geführt und in einem anderen Teil des Landes eine Zweitfamilie hatte, von der niemand etwas geahnt hatte.
Auf so etwas nach dem Tod der Eltern zu stoßen war für die Kinder zweifellos ein Schock, aber nichts im Vergleich zu der Entdeckung, dass der eigene Vater ein Perverser war.
Wofür ich keinerlei Anhaltspunkte hatte. Und was ich auch nicht glauben konnte.
Eine Möglichkeit gab es noch.
Es war nicht Dad, der sich über Kinderprostitution informiert hatte.
Jemand anderer hatte seinen Laptop benutzt.
»Alles in Ordnung mit dir, Ray?«, fragte Harry Peyton, als ich meinen Stuhl näher an seinen Schreibtisch heranrückte, um ein paar Dokumente zu unterschreiben.
»Alles bestens«, sagte ich.
»Du siehst erschöpft aus.«
Ich kritzelte meine Unterschrift dahin, wohin sein Finger zeigte.
»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Den Papierkram haben wir bald erledigt. Da läuft alles reibungslos.«
»Schön zu hören.«
»Und bei euch zu Hause? Wie geht’s Thomas?«
Ich legte den Stift auf den Tisch und lehnte mich zurück. »Wie geht’s Thomas?«, wiederholte ich, ohne Harry anzusehen. »Gute Frage.«
»Was hast du auf dem Herzen, Ray?«
»Harry«, sagte ich, »in gewisser Weise sind Sie doch auch mein Anwalt, oder?«
»Aber natürlich.«
»Ich meine, ich weiß, Sie waren Dads Anwalt, und Sie kümmern sich um den Nachlass und das ganze Zeug, aber sind Sie auch in anderen Dingen mein Anwalt?«
»Ja«, sagte er. »Ich bin dein Anwalt. Mit mir kannst du reden.«
Das wollte ich auch, aber ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Sicher nicht mit Dad und dem, was ich auf seinem Computer gefunden hatte. Aber schließlich war diese Entdeckung nicht das Einzige, was mich in den letzten vierundzwanzig Stunden aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
»Das FBI war bei uns«, sagte ich.
»Was? Mensch, Ray, du hättest mich anrufen sollen. Hatten sie einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Sie haben mir nur ihre Ausweise gezeigt.«
»Du meine Güte.«
Ich erzählte ihm alles. Wie sie einfach ins Haus gekommen waren und Thomas und mir Fragen gestellt hatten. Wie ich von den unzähligen an Bill Clinton adressierten E-Mails erfahren hatte, die Thomas an die CIA geschickt hatte. Über das imaginäre Gespräch zwischen meinem Bruder und dem früheren Präsidenten, das ich belauscht hatte.
Harry legte die Hände flach auf den Tisch. »Unfassbar. Du hast ganz schön was am Hals, Ray.«
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte ich.
»Raus mit der Sprache.«
»Es geht um Dad.«
»Ja?«
»Hat er je … wissen Sie eigentlich irgendwas über sein Privatleben?«
»Was meinst du mit Privatleben? Etwa sein Liebesleben?«
»Mhm.«
Harry zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Du meinst nach dem Tod deiner Mutter?«
Eigentlich nicht. »Ja«, sagte ich.
»Da bin ich echt überfragt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemanden mit nach Hause gebracht hat, und er war auch nie länger weg. Wegen deines Bruders. Über Nacht war er bestimmt nie weg. Aber wenn er jemanden kennengelernt hätte, hätte er sich natürlich auch tagsüber mit ihr treffen können. Da traute er sich schon mal, deinen Bruder ein paar Stunden allein zu lassen.«
»Haben Sie ihn je mit einer Frau gesehen? Hat er mal erzählt, dass er jemanden kennengelernt hat?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ein Mann in seinem Alter, da gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass er nicht mehr, na ja, sexuell aktiv war. Darf ich fragen, warum das für dich ein Thema ist, Ray? Denkst du vielleicht, dass bei euch plötzlich eine Frau hereinschneit und Ansprüche auf euer Erbe anmeldet?«
»Nein. Nein, schon gut«, sagte ich. »Wissen Sie was? Vergessen Sie, dass ich überhaupt gefragte hab. Es ist nichts.«
Vielleicht hätte auch ich das tun sollen. Es einfach vergessen. So tun, als hätte ich dieses Wort nie auf dem Computer meines Vaters gesehen.
Aber zuerst wollte ich mir noch anschauen, auf welche Webseiten ihn seine Suche geführt hatte. Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. Aber ich musste es wissen.
Als ich heimkam, war Thomas da, wo ich ihn vermutet hatte. Dads Laptop stand zugeklappt auf dem Küchentisch. Thomas musste es von der Veranda hereingebracht und ausgeschaltet haben.
Ich klappte den Deckel hoch, drückte auf die Taste und wartete die halbe Minute, die der Computer zum Hochfahren brauchte. Dann öffnete ich den Browser.
Ich tippte einen Buchstaben ins Suchfeld, um mir die letzten Suchbegriffe anzeigen zu lassen.
Da war nichts.
Nichts über Smartphones, Depression oder Kinderprostitution.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte ich leise.
Ich bewegte den Cursor nach oben und klickte »Chronik« an. Die Liste sämtlicher Websites, die von diesem Computer aus aufgerufen worden waren, war gelöscht.