Siebzehn

Ich gehe hinauf zu Thomas. Er sitzt mit dem Rücken zur Tür und blickt unverwandt auf den Bildschirm. »Die waren ja ganz nett«, sagte er, »aber sie hätten jemand von der CIA schicken sollen.«

Ich trat neben seinen mit Landkarten und Computern überhäuften Schreibtisch, ging in die Hocke, langte an das Kabel der Steckerleiste und riss es aus der Steckdose. Es gab ein kaum hörbares »Pop«, und augenblicklich verstummte das leise Brummen des Computers.

»Hey!«, kreischte Thomas.

Dann griff ich noch ein Stück weiter nach hinten, packte das Telefonkabel, das dort in der Wand steckte, und riss auch das heraus. Fassungslos starrte Thomas die nun völlig schwarzen Bildschirme an.

»Mach sie an!«, schrie er. »Mach sie sofort wieder an.«

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, schrie ich noch lauter zurück. »Kannst du mir das vielleicht sagen? Was, in drei Teufels Namen, hast du dir dabei gedacht? Funkst einfach mal schnell die CIA an. Schreibst denen reihenweise E-Mails. Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«

Noch während ich es aussprach, wusste ich, dass es ein Fehler war. Aber ich konnte mich nicht zurückhalten.

»Herrgott im Himmel, es ist nicht zu fassen! Das FBI! Das gottverdammte FBI bei uns zu Hause! Du kannst von Glück sagen, dass sie dich nicht verhaftet haben, Thomas. Oder uns beide! Ich versteh gar nicht, dass die nicht gleich deinen Computer kassiert haben. Gott sei Dank hast du niemanden bedroht. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie’s heute auf der Welt zugeht? Du kannst nicht einfach hergehen und Regierungsbehörden mit E-Mails bombardieren, dass ein katastrophales Ereignis bevorsteht. Kannst du dir vorstellen, wie viele Alarmglocken da losschrillen?«

»Schließ ihn wieder an, Ray!« Schon war er aufgesprungen, hatte sich hingekniet und tastete hektisch nach dem Kabel der Steckerleiste.

Ich packte ihn bei der Schulter und zerrte ihn weg. »Nein! Das war’s, Thomas! Ich hab den Kanal voll! Es reicht!«

Doch Thomas krabbelte wieder los wie ein Krebs, schaffte es unter den Tisch. Ich packte ihn an den Beinen und zog ihn hervor.

»Ich hasse dich!«, schrie er. Tränen liefen ihm über die zornroten Wangen.

»Du hörst jetzt damit auf!«, sagte ich. »Ein für alle Mal. Du verlässt dieses Zimmer und gehst an die frische Luft! Du fängst jetzt an, wie ein normaler Mensch zu leben!«

»Lass mich in Ruh, lass mich in Ruh, lass mich in Ruh«, wimmerte er. Ich schleifte ihn in die Mitte des Zimmers. Dort lagen wir schließlich beide, alle viere von uns gestreckt. Es war nicht schwierig gewesen, ihn über den nackten Holzboden zu ziehen, doch dabei waren auch mehrere Landkarten und Ausdrucke mitgeschleift worden. Er holte eines der zerknitterten Blätter unter seinem Bein hervor, faltete es auseinander und bemühte sich, es auf seinem Schenkel glatt zu streifen.

»Schau, was du gemacht hast!«, sagte er.

Ich riss ihm die Karte aus der Hand, zerknüllte sie und schleuderte die Papierkugel quer durchs Zimmer.

»Nein!«, schrie mein Bruder.

Ich wusste, dass ich das nicht hätte tun dürfen. Thomas anschreien, den Computerstecker ziehen, und, was vielleicht am allerschlimmsten war, mit einer seiner kostbaren Karten wie mit einem benutzten Papierhandtuch umgehen. Ich hatte die Kontrolle verloren, über die Situation und über mich. Gut, ich hatte meinen Vater verloren, war hier hergekommen, um mir klarzuwerden, was mit dem Haus und Thomas geschehen sollte, und auf einmal standen auch noch zwei Agenten der Bundespolizei auf der Matte – das war mir einfach zu viel geworden. Aber derart auf Thomas loszugehen, dafür gab es keine Entschuldigung.

Vielleicht hätte ich darauf vorbereitet sein müssen, dass es Thomas genauso ging.

Wie aus der Kanone geschossen stürzte er sich mit ausgestreckten Armen auf mich und packte mich an der Kehle. Ich fiel hintenüber, und er landete auf mir. Unsere Beine waren ineinander verschlungen, seine Hände umklammerten immer noch meinen Hals.

»Du bist genau wie Dad!«, schrie er mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick. Ich bekam keine Luft mehr und packte seine Handgelenke, konnte seinen Griff aber nicht lösen.

»Thomas! Lass … los!« Ich konnte nur noch krächzen.

Da erwischte ich mit der rechten Hand sein linkes Ohr und riss mit aller Kraft daran.

Thomas heulte auf und ließ mich los. Mich zur Seite rollend schüttelte ich ihn ab. Der Schmerz am Ohr hatte ihn anscheinend in eine Art Schockzustand versetzt. Er sah sich das Chaos um uns herum an, dann mich, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, nein, nein«, sagte er, und statt seine Wut weiter an mir auszulassen, fing er an, sich selbst zu schlagen. Abwechselnd drosch er einmal mit dem linken, einmal mit dem rechten Handballen auf seine Stirn ein. Erbarmungslos.

»Thomas!«, sagte ich. »Hör auf!«

Ich versuchte, seine Arme festzuhalten, doch sie gingen auf und ab wie Kolben. Er trommelte so heftig auf seinen Schädel ein, dass es klang, als ob Holz gegen Holz schlüge. Ich warf mich auf ihn und drückte ihn zu Boden, damit er aufhörte.

Unverständliche Laute des Unmuts drangen aus seiner Kehle.

»Ist ja gut!«, sagte ich. »Thomas, hör auf.« In der Hoffnung, ihn zur Ruhe bringen zu können, indem ich seine Bewegungsfreiheit einschränkte, drückte ich ihn mit meinem ganzen Gewicht zu Boden.

»Ist ja gut«, wiederholte ich. »Es tut mir leid.«

Von einer Sekunde auf die andere hörte er auf, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Seine Stirn war rot und begann sich allmählich blau zu verfärben. Mit den Hieben, die er sich gerade selbst versetzt hatte, und den roten, geschwollenen Augen sah er aus, als hätte er gerade bei einer Kneipenschlägerei den Kürzeren gezogen.

Er weinte.

Ich spürte, wie ich die Fassung verlor. Meine Kehle wurde eng, mein Atem ging schneller.

Jetzt weinte auch ich.

»Thomas, es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir so leid. Ich geh jetzt von dir runter, ja?«

»Ja«, sagte er.

»Ich steh jetzt auf. Versprich mir, dass du dich nicht mehr schlägst, ja.«

»Versprochen.«

»Ja, so ist’s gut. Alles ist gut.« Ich half ihm, sich aufzusetzen, und strich ihm über den Rücken.

Er sah zur Steckerleiste hinüber. »Ich steck sie wieder an.«

»Lass nur, ich mach das.« Ich kroch zum Schreibtisch und schob den Stecker in die Dose. Der Computerturm fing an zu brummen. Ehe Thomas sich erheben konnte, sagte ich zu ihm: »Aber wir müssen uns auf ein paar Regeln einigen, ja? Bevor du dich wieder auf Entdeckungsreisen begibst.«

Er nickte langsam.

»Als Erstes brauchen wir einen Eisbeutel für deinen Kopf. Einverstanden?«

Er überlegte. »Einverstanden«, sagte er.

Ich streckte ihm eine Hand hin und war froh, als er sie ergriff. Mir fiel auf, dass auch seine Hände ganz blau waren. »Mensch, du hast dich ja ganz schön zugerichtet.«

Er sah mich an. »Wie geht’s deinem Hals?«

Er tat weh. »Gut«, sagte ich.

»Es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich umzubringen«, sagte er.

»Du hast nicht versucht, mich umzubringen. Du warst nur wütend. Ich war ein Arschloch.«

Er nickte. »Stimmt. Ein Wichser.«

Er saß am Küchentisch, während ich in der Kühltruhe einen Eisbeutel suchte. Dad hatte immer irgendeine Verspannung oder Muskelzerrung, und es gab genügend Eisbeutel, um eine ganze Pinguinkolonie glücklich zu machen. »Halt dir das an den Kopf«, sagte ich und reichte Thomas einen davon.

Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schulter.

»Das hätte ich nicht tun dürfen«, sagte ich.

»Nein«, sagte Thomas.

»Es ist irgendwie mit mir durchgegangen.«

»Hast du deine Tabletten genommen?«, fragte er mich.

Ich hatte kein einziges M&M genommen, seit wir bei Dr. Grigorin gewesen waren. »Nein, die hab ich ganz vergessen.«

»Du bekommst Probleme, wenn du deine Tabletten nicht nimmst«, sagte er.

Den Arm noch immer um seine Schulter gelegt sagte ich: »Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Ich weiß … ich weiß, du bist, wie du bist, und wenn ich dich anschreie, bringt das gar nichts.«

»Wie lauten die Regeln?«, fragte er.

»Ich möchte … ich will nur, dass du mir Bescheid sagst, bevor du irgendwelche Mails verschickst oder Leute anrufst. Aber du kannst so viele Städte abklappern, wie du willst. Kannst du damit leben?«

Er überlegte. Den Eisbeutel hielt er an die Stirn gepresst. »Ich weiß nicht.«

»Thomas, nicht alle in der Regierung verstehen, dass du nur helfen willst. Sie kapieren nicht, dass du ein anständiger Kerl bist. Ich will nur sichergehen, dass es keine Missverständnisse gibt. Dann würden wir nämlich alle beide Ärger bekommen, nicht nur du.«

»Wahrscheinlich«, sagte er. Er nahm den Eisbeutel von der Stirn. »Der ist ganz schön kalt.«

»Sieh zu, dass du’s noch ein bisschen aushältst. Das hilft gegen die Schwellung.«

»Na gut.«

»Ich hab dich noch nie so wütend gesehen«, sagte ich. »Ich meine, geschieht mir ja recht, aber ich wusste nicht, dass du so ausrasten kannst.«

Der Eisbeutel, den Thomas sich jetzt wieder an die Stirn hielt, verdeckte seine Augen.

»Ich mach mich wieder an die Arbeit«, sagte er, duckte sich unter meinem Arm durch und ging zur Treppe. Den Beutel ließ er auf dem Tisch zurück.

Mit dem Rücken zu mir fragte er: »Muss ich noch immer Abendessen machen?«

Das hatte ich ganz vergessen. »Nein«, sagte ich. »Mach dir darüber keine Gedanken.«