Fünfundzwanzig

Ich klopfte bei Thomas, um ihm zu sagen, dass das Abendessen bald fertig sei.

»Was gibt’s?«, fragte er.

»Burger vom Grill.«

Als das Essen vorbei und das schmutzige Geschirr in der Spülmaschine verstaut war, legte ich Thomas die Hand auf den Arm, damit er nicht gleich wieder vom Tisch aufsprang und nach oben rannte.

»Ich muss jetzt wirklich wieder«, sagte er.

»Ich muss etwas mit dir besprechen.« Ich zog meine Hand zurück. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass er mir jeden Moment entwischen konnte.

»Was willst du besprechen?«

»Du hast Dads Laptop von der Veranda hereingebracht.«

Er nickte. »Sonst hätte es doch jemand mitnehmen können.«

»Was hast du damit gemacht?«

»Ich hab es in die Küche gestellt.«

»Ich meine, hast du irgendwas an dem Laptop gemacht?«

Er nickte. »Ich hab’s ausgeschaltet. Bis du wieder da gewesen wärst, hätte der Akku längst leer sein können.«

»Hast du sonst noch was damit gemacht?«

»Wie zum Beispiel?«

»Mit der Chronik vielleicht?«

»Die hab ich gelöscht«, sagte Thomas.

»Ach so?«

Er nickte.

»Und warum?«

»Das mach ich immer«, sagte er. »Ich lösche immer die Chronik, bevor ich einen Computer ausschalte. Jeden Abend, bevor ich ins Bett gehe, lösche ich die Chronik auf meinem Computer. Das ist wie, keine Ahnung, wie Zähneputzen oder so was. Damit der Computer am nächsten Tag wieder sauber ist.«

Ich war plötzlich sehr müde.

»Also gut, das machst du mit deinem Computer. Aber warum mit Dads?«

»Weil du weggefahren bist.«

»Hast du auch sonst seine Chronik immer wieder gelöscht?«

»Nein. Dad hat den Computer nämlich immer selbst runtergefahren. Kann ich jetzt gehen? Ich hab da was wirklich Wichtiges auf dem Bildschirm.«

»Das kann warten. Hast du dir die Chronik angeschaut, bevor du sie gelöscht hast?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Wieso hätte ich das tun sollen?«

»Thomas«, sagte ich streng. »Ich möchte, dass du jetzt ganz ehrlich bist. Das hier ist nämlich sehr wichtig.«

»Ja, gut.«

»Benutzt du manchmal Dads Laptop?«

Er schüttelt energisch den Kopf. »Nein. Nie. Ich hab doch meinen eigenen Computer.«

»Hat Dad seinen Computer jemals verliehen? Oder hat ihn mal jemand benutzt, der zu Besuch war?«

»Ich glaub nicht. Kann ich jetzt gehen?«

»Noch eine Sekunde.«

»Ich hab schon heute Morgen so viel Zeit verloren. Mit dem blöden Staubsauger.«

»Thomas, bitte. Wenn seit Dads Tod niemand diesen Computer benutzt hat, warum gab es da noch eine Chronik, als ich ihn heute Vormittag angemacht habe? Warum hattest du die nicht gelöscht?«

»Weil Dad sein Laptop immer selbst ausgemacht hat, wenn er fertig war. Ich hab ihm immer wieder gesagt, er soll die Chronik löschen, aber ihm war das nicht so wichtig wie mir.«

Ich lehnte mich zurück. »Gut. Danke.«

»Dann kann ich jetzt gehen?«

Doch er ging nicht. Er blieb sitzen, als sei jetzt er derjenige, der eine Frage hatte.

»Was ist?«

»Ich weiß, du bist noch immer sauer wegen der Sache mit dem FBI. Und ich hab seither auch keine E-Mails mehr an die CIA oder Präsident Clinton geschickt.«

»Gut zu wissen.«

»Aber was ist, wenn ich etwas gesehen habe, das ich ihnen unbedingt sagen muss?«

»Und zwar?«

»Wenn ich etwas gesehen habe, was die CIA wirklich erfahren sollte, ein Verbrechen zum Beispiel, darf ich dann eine E-Mail schicken? Nur eine? Ganz kurze?«

»Thomas, und wenn du gesehen hast, wie jemand eine Atombombe in einen Schulbus gesteckt hat – du schreibst nicht an die CIA!«

Die Enttäuschung auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen. »Thomas? Was ist denn jetzt wieder? Noch ein Parkschaden oder was in der Art?«

»Nein, etwas viel Ernsteres.«

»Ganz anders als das, worüber du dich beim letzten Mal so aufgeregt hast. Das war ja völlig bedeutungslos.«

»Aber das jetzt ist was ganz anderes.«

»Nämlich?«

»Es geht um ein Fenster.«

»Ein Fenster.«

»Genau.«

»Jemand hat ein Fenster eingeschlagen, und du willst es der CIA melden?«

Er schüttelte den Kopf. »Es geht um etwas, das hinter einem Fenster passiert. Manchmal passieren nämlich Dinge hinter Fenstern.«

»Thomas, hör zu, was es auch ist, mach dir keine Gedanken deswegen.«

Da stieß er seinen Stuhl zurück und stand auf. »Na gut.« Er marschierte zur Treppe.

»Thomas, ich beschwöre dich, schick keine Mail an die CIA!«

Er blieb stehen, die Hand schon auf dem Geländer. »Du bist der, der nicht zuhört, Ray. Ich bemüh mich, mit dir zu reden. Ich bemüh mich zu tun, worum du mich gebeten hast. Du willst nicht, dass ich die CIA einschalte, also frag ich dich, was ich tun soll wegen dem, was da hinter diesem Fenster passiert, und du hörst mir nicht zu.«

»Ist ja gut. Willst du, dass ich es mir anseh?«

»Ja«, sagte er.

»Gut. Ich seh’s mir an.«

Ich folgte ihm die Treppe hinauf. Doch ehe ich sein Zimmer betreten konnte, forderte er mich auf, mir einen Stuhl zu holen, damit ich ihm nicht ständig über die Schulter gucken musste. Das Ganze würde also eine Weile dauern.

In Dads Kleiderschrank gab es einen Plastikklappstuhl. Ich holte ihn und kehrte in Thomas’ Zimmer zurück. Er saß schon am Computer und schnippte gegen die Maus, um die Bildschirme wieder zum Leben zu erwecken. Ich klappte meinem Stuhl auf und stellte ihn neben seinen.

»Also, wo sind wir denn heute Abend?«, fragte ich.

»In der Orchard Street.«

»Und wo ist diese Orchard Street?«

»In New York. Lower Manhattan.«

»Alles klar«, sagte ich. »Zeig mir, was du entdeckt hast.«

Thomas zeigte mit dem Finger auf ein Fenster auf dem Bildschirm. Eines von mehreren in regelmäßigen Abständen aneinandergereihten Fenstern in einem Gebäude mit insgesamt anscheinend vier Etagen. Eins dieser alten Mietshäuser, spätes 19. Jahrhundert schätzte ich, obwohl die New Yorker Architektur dieser Epoche nicht gerade mein Spezialgebiet war.

»Siehst du das Fenster da?«, fragte Thomas. »Im zweiten Stock?«

Ich guckte genauer hin. Im unteren Teil des Fensters war irgendetwas Weißes zu sehen. »Ja, ich seh’s.«

»Was glaubst du, was das ist?«

»Keinen Schimmer.«

»Ich zoom mal ran.« Thomas klickte zweimal auf das Bild. Es wurde größer, verlor jedoch ein wenig an Schärfe. Aber langsam nahm etwas Gestalt an.

»Und? Wie sieht das für dich aus?«, fragte mein Bruder.

»Sieht irgendwie … das sieht wie ein Kopf aus«, sagte ich. »Aber mit irgendwas drum herum.«

»Genau. Und wenn du hier guckst, siehst du die Konturen der Nase und des Mundes. Da ist das Kinn, und das da oben ist die Stirn. Es ist ein Gesicht.«

»Ich glaub, du hast recht, Thomas. Es ist wirklich ein Gesicht.«

»Was hältst du davon?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sieht aus wie jemand mit einer Tüte über dem Kopf.«

Thomas nickte. »Ja. Aber man kann die Einzelheiten recht gut erkennen, das heißt, die Tüte muss richtig eng anliegen.«

»Wahrscheinlich. Vielleicht ist es eine Maske oder so was.«

»Aber es gibt keine Löcher für die Augen oder den Mund oder die Nase. Wenn das eine Maske ist, wie soll der Mensch dann Luft holen?«

»Kannst du’s noch ein bisschen vergrößern? Näher rangehen?«

»Ich könnte es schon noch größer machen, aber es ist schon ziemlich unscharf. Das ist das Beste, was ich rausholen kann.«

Ich starrte das Bild an und wusste nicht, was ich davon halten sollte. »Tja, Thomas, was soll ich sagen. Es ist, was es ist. Jemand, der mit einer Tüte auf dem Kopf rumkaspert. Die Leute machen einen Haufen Unsinn. Vielleicht wusste der da, dass der Whirl360-Wagen unterwegs war, und wollte irgendeinen Scheiß für die Kamera machen, als sie vorüberfuhr.«

»Im zweiten Stock? Wenn du dich zum Affen machen willst, dann würdest du doch runter auf die Straße gehen, oder?«

»Vielleicht. Keine Ahnung.«

»Ich glaub nicht, dass der hier rumkaspert«, sagte Thomas.

»Also gut, dann sag mir, was deiner Meinung nach hier los ist.«

»Ich glaube, dass dieser Mensch gerade umgebracht wird«, sagte Thomas. »Hier findet ein Mord statt.«

»Klar doch. Komm schon, Thomas.«

»Dieser Mensch wird gerade erstickt.«

Jetzt starrte ich statt dem Bildschirm meinen Bruder an. »Das glaubst du also.«

»Ja.«

»Und was zum Teufel soll ich jetzt tun?«

»Du sollst dem auf den Grund gehen.«

»Auf den Grund gehen«, wiederholte ich.

»Genau. Du sollst da hinfahren.«

»Ich soll also nach New York fahren und mir ansehen, was es mit diesem Fenster auf sich hat«, sagte ich. »Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Tja, dann muss ich halt ein bisschen herumtelefonieren«, sagte Thomas. »Und mir wird leider auch nichts anderes übrigbleiben, als der CIA eine Mail zu schicken, damit die sich darum kümmern.«

»Thomas, jetzt hör mir ganz genau zu. Erstens wirst du niemanden anrufen. Nicht die CIA, nicht den Heimatschutz, und auch nicht die Feuerwehr von Promise Falls. Und wenn du glaubst, dass ich extra nach New York fahre, um mir dieses dämliche Fenster anzusehen, dann bist du schief gewickelt.«

Ich ging hinunter.

Ein paar Minuten später, ich machte es mir gerade auf der Couch gemütlich und überlegte, was ich mir auf Dads Riesenbildschirm ansehen sollte, kam auch Thomas herunter.

Er sagte kein Wort, blickte nicht einmal in meine Richtung. Er ging zum Garderobenschrank neben der Haustür und holte eine Jacke heraus. Er schlüpfte hinein und zog gerade den Reißverschluss zu, da fragte ich ihn: »Wo soll’s denn hingehen?«

»Nach New York.«

»Tatsächlich.«

»Ja.«

»Und wo dahin?«

»Ich geh mir dieses Fenster ansehen.«

»Und wie kommst du dahin?«

»Zu Fuß.« Pause. »Ich kenne den Weg.«

»Das kann eine Weile dauern«, sagte ich.

»Es sind 309,5 Kilometer«, sagte er. »Wenn ich einunddreißig Kilometer pro Tag gehe, bin ich in –«

»Ich bitte dich, hör auf.«