Siebenunddreißig

Ich verstehe nicht, warum du auf der Party gestern Abend unbedingt dieses rote Kleid tragen musstest«, sagte Kyle Billings zu seiner Frau Rochelle.

»Du weißt, dass ich dieses Kleid mag«, sagte sie. »Ich mag, wie ich mich darin fühle.«

»Wie denn? Wie eine Nutte? So willst du dich also fühlen?«

»Leck mich«, sagte Rochelle und stürmte aus dem Bad – Jacuzzi, Doppeldusche, Doppelwaschbecken, Bidet, verteilt auf acht Meter – in das direkt angrenzende Schlafzimmer mit den zur baumbestandenen Straße gelegenen, gebogenen Fenstern. Dort verschwand sie im Kleiderschrank.

Sie hatten beide ihren eigenen begehbaren Schrank, und jeder davon war größer als die Kellerwohnung in Chicago South Side, in der Kyle vor zehn Jahren gelebt hatte. Mit Mäusen und Schimmel, und den Mietern in der Wohnung über ihm, die beinahe jeden Abend rumbrüllten wegen allem und jedem – angefangen von zu wenig Butter auf dem Toast bis hin zu seinen nächtlichen Sauftouren mit Freunden.

Mittlerweile musste Kyle sich keine streitenden Nachbarn mehr anhören, und von den Nachbarn musste niemand sich die Auseinandersetzungen zwischen Kyle und Rochelle anhören. Sie bewohnten ein millionenteures Anwesen an der Forest Avenue in Oak Park, gleich neben einem wahrhaftigen Frank-Lloyd-Wright-Haus, einem von mehreren in der Straße. Kyle Billings war überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis eines der von Wright entworfenen Häuser auf den Markt kam, und dann würde er zuschlagen. Das würde dann wohl endlich auch seinem Vater imponieren, dem es anscheinend völlig am Allerwertesten vorbeigegangen war, dass sein Sohn es mit seinem genialen Händchen bei Whirl360 schon zum Multimillionär gebracht hatte, obwohl er noch keine dreißig war. Billing senior hatte nur einen Gott, der hieß Frank Lloyd Wright und war der größte aller amerikanischen Architekten, ob tot oder lebend. »Warum hast du dieses Haus gekauft und nicht das da?«, hatte er Kyle gefragt und dabei auf das am nächsten gelegene Wright-Haus gezeigt.

Arschloch.

Kyle Billings folgte seiner Frau in ihren Kleiderschrank. »Du weißt genau, dass du alle Blicke auf dich ziehst, wenn du so rumläufst. Du hast alle in Fahrt gebracht. Die Typen, die gestern da waren – denen hing die Zunge regelrecht bis zum Boden. Jeder Einzelne von ihnen hat dich mit seinen Blicken gevögelt.«

Abrupt drehte sie sich um. Barfuß, in Jeans-Shorts und einem roten T-Shirt stand sie da und stemmte die Hände herausfordernd in die Hüften. »Ich kann mir ja eine Burka zulegen, wenn du möchtest. Willst du, dass ich so rumlaufe?«

»Herrgott!«, sagte Kyle. Im Grunde seines Herzens wusste er, wie idiotisch er sich aufführte. Warum war er denn damals so auf Rochelle – Kesterman, bevor sie ihn heiratete – abgefahren? Vor fünf Jahren, bei dieser Software-Messe in San Francisco, als sie auf ihren Bleistiftabsätzen auf der Bühne herumtänzelte und mehr Aufmerksamkeit erregte als die Raffinessen der neuesten und absolut unentbehrlichen Handy-App.

Sie war heute noch genau so ein Hingucker wie damals, mit ihrem schwarzen Haar, das ihr bis zum Po reichte, den langen Beinen und den kleinen, aber keck aufgerichteten Brüsten, die einem direkt in die Augen guckten. Die Farbe ihrer Haut, hellbraun wie Milchkaffee, verlieh ihr etwas Exotisches. Er hatte keine Zeit verschwendet und war nach ihrer Präsentation sofort hinter den Vorhang gegangen, um sie kennenzulernen. Er hatte sie zu einem Drink eingeladen und ganz nebenbei Bemerkungen über seinen beruflichen Erfolg, seinen 911 Turbo und die Eigentumswohnung in Chicago mit Blick auf den Lake Michigan fallenlassen. Und dass sein neues Projekt, mit dem man, bequem zu Hause am Computer sitzend, Städte auf der ganzen Welt würde erforschen können, ihn steinreich machen würde.

Diese Bemerkung gefiel Rochelle ganz besonders.

Fünf Monate später waren sie verheiratet.

Kyle war sich bewusst, dass er nicht der Einzige war, dem sie den Kopf verdrehen konnte. Eine Zeitlang konnte er ganz gut damit leben, dass auch andere Männer sich den Hals nach ihr verrenkten. Wenn sie dann ihn ansahen, schenkte er ihnen dieses Lächeln, das sagte: Gaffen kannst du, so viel du willst, aber derjenige, der diese Vollblutstute heute Nacht reitet, das bin ich.

Und was für Ritte das waren.

Der Sex mit Rochelle war sagenhaft. Sie war phantasievoll und ganz und gar uneigennützig. Und als ob das noch nicht genug wäre, war sie auch noch erstaunlich biegsam. Während ihrer Highschool-Zeit und auch später im College war sie Kunstturnerin gewesen. Das hatte sie inzwischen zwar aufgegeben, machte aber immer noch viermal die Woche Sport und war so gelenkig wie eh und je.

Kyle wusste, dass er unverschämtes Glück hatte. Andere Männer würden morden, um sie zu bekommen.

Doch im Lauf der Zeit hatte seine Reaktion auf die bewundernden Blicke, die seine Frau auf sich zog, sich verändert. Aus Stolz war Eifersucht und Unsicherheit geworden. Wenn sie jeden haben konnte, wie lange würde sie sich mit ihm zufriedengeben? Er hatte Geld. Sie hatten dieses Haus. Sie flogen zwei-, dreimal im Jahr nach Europa, stiegen in den besten Hotels ab. Er hatte ihr für zweihunderttausend Dollar diesen Mercedes mit den Flügeltüren gekauft.

Leider war er nicht der Einzige, der Geld hatte. Wenn das alles war, was sie interessierte – in seiner Branche gab es genügend andere, die über Nacht Millionäre geworden waren. Liebte sie ihn? Oder das Leben, das er ihr bot?

Es gab nicht den geringsten Hinweis, dass es etwas anderes war als Ersteres. Doch das reichte ihm nicht, er quälte sich weiter. War sie nicht vielleicht doch ein wenig zu freizügig? Jetzt hätte er es gern gesehen, wenn sie einen Gang zurückgeschaltet, sich ein wenig gemäßigt hätte. Einen kurzen Rock anziehen? Warum nicht? Aber doch nicht unbedingt einen, der so kurz war, dass jeder ihr Schamhaar-Styling bewundern konnte, wenn sie in ihren Christian Louboutins umknickte.

»Du machst mich wahnsinnig, weißt du«, sagte sie, während sie eine Reihe von Anziehsachen, neunzig Prozent davon schwarz, über die Kleiderstange warf. »Vielleicht habe ich mich ja so angezogen, um dich in Fahrt zu bringen und nicht irgendwen anderen? Hast du schon mal daran gedacht? Verdammt, wo sind diese Hosen?«

»Du sendest Signale aus«, belehrte er sie. »Auch wenn das vielleicht nicht deine Absicht ist, aber glaub mir, bei den Typen kommen sie an.«

Sie nahm einen Bügel von der Stange, inspizierte die Hosen, hängte ihn wieder auf. »Mist, wo sind die denn?«

»Hörst du mir eigentlich zu?«

Rochelle hielt inne und funkelte ihn an. »Nein. Weil du nämlich nur Scheiße redest. Du spinnst komplett.« Sie zwängte sich an ihm vorbei aus dem Schrank, ging zu ihrem Nachttisch, um ihr Handy zu holen und sagte: »Mir wird das hier zu eng mit dir. Ich brauche Platz. Ich bin draußen auf der Terrasse, falls dir dämmern sollte, was für ein blöder Wichser du bist, und du dich entschuldigen willst.«

Sie rauschte aus dem Zimmer. Er ließ sich auf die Bettkante fallen und sah ihr nach. Der Anblick ihres Hinterteils ließ ihn noch immer nicht kalt. Das war das Positive, wenn sie sauer auf ihn war: Er bekam Gelegenheit, ihren Hintern zu bewundern.

»Idiot«, sagte er und meinte damit nicht seine Frau. »Verdammter Vollidot.« Im Grunde seines Herzens wusste er, dass er mit seiner besitzergreifenden Art genau das Gegenteil von dem erreichen würde, was er eigentlich wollte. Er hatte es bei einigen seiner Freunde erlebt. Je mehr sie klammerten, desto weiter entfernten sich ihre Frauen von ihnen.

Zehn, zwanzig Minuten saß er da und überlegte, ob er zu ihr hinausgehen und sich entschuldigen oder einfach das Haus verlassen, in seinen Ferrari steigen und ein paar Stunden durch die Gegend fahren sollte. Nein. Wegfahren vielleicht, aber nur um mit Blumen wiederzukommen oder etwas viel Tollerem. Wie wär’s mit einem Abstecher auf die Magnificent Mile? Heimkommen mit etwas Teurem, Glänzendem. So um die zehntausend vielleicht. Die Rechnung ganz zufällig irgendwo liegen lassen, wo sie sie finden konnte.

Nach einer guten Dreiviertelstunde hatte er sich dazu durchgerungen, seinen Stolz zu überwinden und ihr zu sagen, dass es ihm leidtat. Seinetwegen könne sie sich auch in Zukunft anziehen, wie es ihr passe, allerdings müsse ihr klar sein –

Ding!, machte sein Handy. Das Zeichen für eine eingehende SMS. Er stand auf und holte das Handy. Ein Foto begrüßte ihn, Absender »Rochelle«.

Rochelle hatte ihm ein Foto geschickt.

Ein sehr sonderbares Foto.

Es war das Foto einer Frau – Kyle war nicht nur ziemlich sicher, dass es eine Frau war, er war sich auch ziemlich sicher, dass es seine Frau war. Das rote T-Shirt, die Jeans-Shorts. Ganz sicher war er sich allerdings nicht, denn da war diese Plastiktüte, die sich straff über den Kopf legte. Kinn, Lippen, Nase, Augenbrauen – ein Relief ihrer Gesichtszüge.

Er konnte sie auch nicht komplett sehen, nur bis zu ihren Armen. Da war etwas Silbriges auf ihnen. War das Klebeband? War sie damit an einen Stuhl gefesselt? Terrassenstuhl war es keiner. Denn das war keine Außenaufnahme. War das nicht einer von den Stühlen im Keller?

»Was soll das denn?«, sagte er laut.

Was war das wieder für ein Spielchen?

»Rochelle!«, rief er.

Er war schon auf dem Sprung zur Treppe, da gab das Telefon in seiner Hand neuerlich einen Ton von sich. Keine SMS diesmal. Sondern ein richtiger Anruf.

Wieder von Rochelles Handy.

»Hey«, sagte er. »Was schickst du denn für –«

»Mr. Billings.«

»Hä?« Die Stimme einer Frau. Sie klang allerdings nicht wie Rochelle.

»Mr. Billings, Sie müssen jetzt gut zuhören.«

»Rochelle?«

»Hier ist nicht Rochelle. Und Sie müssen sehr gut zuhören.«

Er lief bereits die Treppe hinunter. Jetzt blieb er wie angewurzelt stehen.

»Ihre Frau kann noch atmen«, sagte die Frau. »Gerade noch. Aber wenn ich die Tüte noch enger zusammenziehe, dann bekommt sie keinen Sauerstoff mehr.«

»Wer zum Teufel sind Sie? Was ist da los, verdammt noch mal? Ich komm jetzt runter –«

»Wenn Sie runterkommen, stirbt sie. Haben Sie verstanden, Kyle? Sie wird sterben.«

Er stand unten an der Treppe, nicht weit von der Haustür. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Sie müssen zuhören, Kyle«, sagte die Frau ruhig. »Unbedingt. Sonst stirbt Rochelle.«

»Um Gottes willen.« Er spürte, wie seine Knie nachgaben. Mit der freien Hand klammerte er sich an das Treppengeländer.

»Alles wird gut. Sie müssen nur zuhören und genau tun, was man Ihnen sagt.«

»Ich habe Geld«, sagte er schnell. »Ich kann Geld auftreiben.« Und dann fiel es ihm ein. Scheiße, heute ist Sonntag. Aber er würde einen Weg finden. Er wusste, es gab einen. Für jemanden, der so viel Geld hatte wie er, war die Bank auch sonntags geöffnet.

»Es geht nicht um Geld«, sagte die Frau.

»Worum dann? Um die Autos. Wollen Sie die Autos? Nehmen Sie sie. Aber bitte, bitte, tun Sie Rochelle nichts. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Ich will nichts, was Ihnen gehört. Ich will, dass Sie etwas für mich tun. Als Erstes die Grundregeln: Sie rufen nicht die Polizei. Sie werden niemanden über das informieren, was passiert. Egal wie. Was immer Sie tun: Wenn irgendwer mitkriegt, was los ist, wird Ihrer Frau die Luft ausgehen, und sie wird sterben.«

»Verstanden. Verstanden. Was wollen Sie? Was soll ich tun?«

»Sie werden ein Foto für mich finden. Eines, das dem sehr ähnlich sieht, das Sie gerade bekommen haben. Und dann werden Sie es verschwinden lassen.«

Dann erläuterte Nicole die Einzelheiten.


»Sie hier, Mr. Billings? An einem Sonntag?«, sagte der Mann vom Wachdienst am Empfang von Whirl360, als Kyle das Foyer betrat. »Das ist ja ganz was Neues.«

»Hi, Bob«, sagte Kyle. »Bin auch gleich wieder weg.«

Bob drückte auf einen Knopf, und sich überlappende Plexiglasscheiben glitten auseinander, um Billings durchzulassen. Ein paar Meter weiter drückte Billings die Aufzugtaste. Beim Betreten der leeren Aufzugkabine tippte er auf das Bluetooth-Gerät an seinem Ohr.

»Lassen Sie mich mit Rochelle sprechen«, sagte Kyle.

Die Stimme in seinem Ohr sagte: »Sekunde. Sagen Sie was.«

»Kyle?« Seine Frau klang, als stände sie etwas entfernt von ihrer Geiselnehmerin, so, als hielte die Frau das Handy in die Luft.

»So«, sagte diese. »Sie haben sie gehört. Es geht ihr gut. Ich habe ihr die Tüte abgenommen, damit sie leichter Luft bekommt. Und das mit Bob war sehr gut. Sie klangen sehr natürlich. Sie machen das sehr gut.«

»So, gleich geht die Tür auf.«

»Gut«, sagte Nicole. »Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen.«

Kyle betrat das Hauptbüro von Whirl360. Es sah hier nicht aus wie in anderen Firmen. Natürlich gab es auch in diesem Großraumbüro jede Menge Computerarbeitsplätze, aber es gab nicht viele Unternehmen, in denen der Arbeitsbereich von Billard- und Kicker- und Videospieltischen eingerahmt war. Wenn die Mitarbeiter von Whirl360 eine Pause brauchten, dann rollten sie von ihren eigenen Bildschirmen zu jenen im Außenbereich und spielten eine Runde virtuelles Golf, bekämpften Außerirdische oder entspannten sich vor dem 3-D-Fernseher. Und wenn sie genügend Energie getankt hatte, machten sie sich wieder an die Arbeit.

Heute war es ruhig im Büro. Nur eine Handvoll Mitarbeiter saßen vor ihren Terminals und gaben die neuesten von den Whirl360-Wagen übertragenen Bilder ein. Jede einzelne Sekunde jeder einzelnen Minute jeder einzelnen Stunde des Tages wurden in Städten rund um den Globus Straßen fotografiert.

»Hey, Kyle.«

»Was ist denn los, Kyle?«

»Wie geht’s, Kyle?«

Alle fühlten sich verpflichtet zu grüßen.

Er nickte jedem Einzelnen zu. Schließlich stand er vor seinem eigenen Arbeitsplatz. Einzelbüros gab es hier nicht. Jeder, egal auf welcher Stufe der Firmenhierarchie er sich befand, arbeitete hier im Hauptbüro.

Am liebsten wäre es Kyle gewesen, die Forderungen der Geiselnehmerin gleich von zu Hause aus zu erfüllen. Doch Whirl360 besaß eines der am besten gegen Hackerangriffe gesicherten Computersysteme der Welt. Ein Zugriff von außerhalb des Firmensitzes war unmöglich.

»Ich bin jetzt an meinem Schreibtisch«, sagte Kyle so leise, dass es niemand im Raum hören konnte.

»Hervorragend«, sagte Nicole. »Hier ist alles bestens.«

»Ich mach das hier für Sie, und wir hören nie wieder was von Ihnen«, flüsterte er.

»Genau. Sie löschen dieses Bild, Sie eliminieren es aus dem System, als wäre es nie dagewesen, und alles ist in Butter.«

»Ich habe Ihr Wort darauf?«

»Selbstverständlich.«

»So, ich bin drin.« Er hämmerte in die Tasten. »New York … Orchard Street … Sollte nicht lange dauern.«


Nicole nahm das Handy vom Ohr und legte die Hand aufs Knie. Wenn Kyle etwas zu sagen hatte, dann würde sie es hören. Sie war optimistisch. Sie merkte, dass er das so schnell wie möglich über die Bühne bringen, ihr alles recht machen wollte. Er würde es nicht verbocken.

»Macht er’s?«, fragte Rochelle. Wie Nicole gesagt hatte, hatte sie Rochelle die Tüte vom Kopf gezogen, von den Fesseln befreit hatte sie sie allerdings nicht. Rochelle saß nach wie vor mit Gewebeband gefesselt auf dem teuren Lederstuhl in dem teuer eingerichteten Keller der Billings. Hier gab es alles. Einen Billardtisch. Eine Bar. Einen 3-D-Großbildfernseher. Eine aufwendig gestaltete Modelleisenbahnanlage mit Bergen und Häusern und Brücken. Das Ding musste an die zwanzig Quadratmeter groß sein. Unglaublich.

»Er macht das sehr gut.« Nicole saß Rochelle gegenüber auf einem Pendant zu deren Stuhl. Auch heute trug sie eine Schirmmütze und eine Sonnenbrille, um ihr Gesicht so gut wie möglich zu verbergen. Ihre Hände steckten in Latexhandschuhen, seit sie das Haus betreten hatte. Die Alarmanlage war kein Problem gewesen. Mit solchen Dingen kannte Nicole sich aus.

»Er wird tun, was Sie ihm sagen«, sagte Rochelle. »Ganz bestimmt.«

»Darauf zähle ich.«

»Wir werden zu niemandem ein Wort sagen. Niemals. Versprechen Sie mir, dass Sie ihm nichts tun.«

»Ich glaube, dazu besteht kein Anlass.« Nicole hörte ein Geräusch aus dem Telefon und hielt es sich wieder ans Ohr.

»Ich hol mir Kaffee, Kyle. Magst du auch einen?« Die Stimme eines Kollegen.

»Nein. Nein danke«, sagte Billings.

»Weißt du noch, der Jaguar, von dem ich dir erzählt habe? Wir haben gestern eine Probefahrt gemacht. Fährt sich echt gut und hat auch alles Drum und Dran, aber er war rot, und ich finde, in den sechziger Jahren, da hat so ein XKE vielleicht gut ausgesehen, aber heutzutage? Also, da ist mir rot doch irgendwie zu krass. Warst du eigentlich gestern bei diesem Tamtam im Hyatt?«

»Sehen Sie zu, dass Sie ihn loswerden«, sagte Nicole.

»Ja. Sind ziemlich spät heimgekommen.«

»Das war was für die Obdachlosen, stimmt’s?«

»Ja. Ist ein Haufen Geld zusammengekommen.«

»Was hast du denn da auf dem Monitor?«

»Nichts, nur … ich probier gerade was aus. Ich versteh nicht, warum nicht immer alle Nummernschilder und Gesichter ganz verpixelt werden. Hängt vermutlich vom Winkel ab. Wenn die Software nicht erkennt, was es ist, dann wird’s nicht richtig verzerrt.«

»Muss ich es Ihnen noch mal sagen?«, meldete sich Nicole.

»Hör mal, ich würd wirklich gern mit dir plaudern, aber ich hab hier noch ’ne Menge zu tun. Aber danke, dass du gefragt hast.«

»Mach’s gut.«

»Sowieso.«

»Ist er weg?«, fragte Nicole.

»Ja«, flüsterte Kyle. »Die Luft ist rein.«

Nicole atmete auf. Sie bemerkte, dass Rochelle sie eingehend betrachtete. Schon zum wiederholten Mal.

»Was ist?« Nicole legte sich das Handy wieder aufs Knie, diesmal mit dem Display nach unten.

»Es geht mich überhaupt nichts an, was Sie tun. Und warum Sie es tun. Ist mir auch egal«, sagte Rochelle. »Wirklich ganz egal.«

»Gut.«

»Deshalb will ich, dass Sie wissen, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen, wenn ich’s Ihnen sage. Ich möchte nur … ich will nur, dass Sie’s wissen.«

Was war das denn für ein Blick, mit dem Rochelle sie ansah? Nicole kannte ihn, hatte ihn aber schon sehr, sehr lange nicht mehr gesehen. Das gute Gefühl, das sie bezüglich des Verlaufs der Dinge gehabt hatte, begann sich zu verflüchtigen.

»Ich wollte Ihnen nur sagen«, fuhr Rochelle fort, »dass ich Sie toll fand.«

»Wie bitte?«

»In Sydney«, sagte Rochelle. »Ich hab mir alle Wettbewerbe angeschaut. Aber vor allem das Turnen.«

»Tatsächlich«, sagte Nicole.

»Gleich, als ich Sie gesehen habe, auch mit der Brille, da war was – ich glaube, es ist Ihr Kinn, wie Sie’s halten. Immer wenn Sie auf den unteren Holm gesprungen sind, da haben Sie so eine Bewegung mit dem Kinn gemacht. Danach hatten Sie so einen entschlossenen Ausdruck.«

»Das hat mir noch nie jemand gesagt. Aber wenn ich jetzt daran denke … ich weiß, was Sie meinen.«

»Ich habe die ganze Highschool hindurch geturnt, auch noch auf dem College, aber so gut wie Sie war ich nie. Nicht mal annähernd. Ich war Ihr größter Fan.« Rochelle rang sich trotz ihrer misslichen Lage ein bewunderndes Lächeln ab. »Wie gesagt, ich weiß nicht, wie es gekommen ist, dass Sie jetzt tun, was Sie tun, aber ich bin sicher, es gibt immer einen Grund, warum Dinge sich so entwickeln. Jeder geht seinen eigenen Weg, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Nicole.

»Was ich damit sagen wollte: Man hat Sie bestohlen«, fuhr Rochelle fort.

Plötzlich empfand Nicole ein Gefühl von … was war es? Trauer? Sie empfand Trauer. Große Trauer. Darüber, was ihr in Sydney widerfahren war. Und wegen allem, was danach gekommen war. Bei dem Gedanken, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie Gold gewonnen hätte. Wo sie jetzt sein könnte. Sicher nicht hier, in diesem Keller in Chicago.

Und da war noch ein Gefühl.

Rührung.

»Danke«, sagte Nicole, und sie meinte es auch. »Danke, dass Sie das gesagt haben. Genau dieses Gefühl hatte ich, aber so was sagt man nicht laut, dann glauben nämlich alle, man sei einfach ein schlechter Verlierer.«

»Oh, Sie haben große Klasse bewiesen«, sagte Rochelle. »Sie standen erhobenen Hauptes da auf dem Podest, als man Ihnen die Silbermedaille umhängte. Aber wissen Sie was?«

»Was?«

»Ich hab’s gesehen. Ich hab’s Ihnen angesehen. Sie waren am Boden zerstört.«

Nicole rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Wollte nicht, dass Rochelle ihre Augen sah.

»Na ja, es war ein sehr emotionsgeladener Moment«, sagte Nicole, die auch jetzt mit ihren Emotionen zu kämpfen hatte.

»Ich wette, wenn man das untersuchen würde … dann wette ich, es würde sich rausstellen, dass die Kampfrichter irgendwie bestochen wurden. Die russischen vielleicht. Oder die französischen.«

»Das kann ich nicht sagen. Da gab es nie irgendwelche Andeutungen.«

»Also ich glaube das jedenfalls«, sagte Rochelle mit Nachdruck. »Aber nach so vielen Jahren wäre es sicher schwierig, so eine Untersuchung einzuleiten.«

»Ich glaube, Sie haben recht. Geschehen ist geschehen«, bestätigte Nicole. »So was hat mir noch nie jemand gesagt.«

»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«

»Nein, ist schon in Ordnung.«

»Ich habe immer mal wieder im Internet nach Ihnen gesucht, wollte wissen, was aus Ihnen geworden ist. Aber ich habe nie etwas gefunden. Es gibt schon seit Jahren nichts mehr über Sie.«

»Nein«, sagte Nicole. »Dieses Leben habe ich hinter mir gelassen. Ich habe alles … hinter mir gelassen.«

»Ich habe aber einiges darüber gefunden, was man sich alles von Ihnen erwartet hat, über den Druck, den man Ihnen gemacht hat.«

Nicole lächelte. Dass sich daran noch jemand erinnerte. »Mein Trainer war fuchsteufelswild. Und mein eigener Vater hat kein Wort mehr mit mir gesprochen. Er hat mich enterbt.« Nicole schwieg einen Augenblick. »Ich glaube, er wollte seinen Traum durch mich leben, und ich hab ihn platzen lassen.«

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte Rochelle. »Das ist ja schrecklich.«

»Tja«, sagte Nicole.

»Warum ich Ihnen das alles erzähle … ich weiß, das klingt jetzt vielleicht blöd, aber Sie waren damals ein richtiges Vorbild für mich. Ich hatte ein Poster von Ihnen bei mir im Zimmer hängen.«

»Ein Poster von mir?«

»Ich habe es noch. Nicht mehr an der Wand. Aber ich hebe vieles auf. Irgendwo habe ich es noch, zusammen mit jeder Menge Zeitungsausschnitte über Sie. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren. Ich würde nämlich nie, nie im Leben, über etwas reden, das der großartigen Annabel Kristoff irgendwie schaden könnte.«

Das war einmal ihr Name gewesen.

Nicole lächelte. Doch es war kein frohes Lächeln. »So hat mich schon lange niemand mehr genannt.« Sie schluckte, um den Kloß loszuwerden, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Dann drehte sie das Handy um und hielt es sich ans Ohr.

»– da? Sind Sie noch dran? Hallo?«, flüsterte Kyle.

»Ich bin da«, sagte Nicole.

»Erledigt.«

»Das Bild ist verschwunden?«

»Ja. Der Kopf ist nicht mehr zu sehen, das Fenster ist jetzt dunkel.«

»Gibt es noch frühere Versionen, auf die man zugreifen kann?«

»Nein, alles weg. Der Datensatz ist gelöscht.«

»Hervorragend.« Nicole lächelte Rochelle zu, die mit feuchten Augen zurücklächelte. »Gut, Kyle, ich glaube, wir sind fertig. Danke. Sie werden Rochelle im Keller finden, wenn Sie nach Hause kommen.«

»Geht’s ihr gut?«

»Bestens. Sagen Sie was, Rochelle.« Nicole hielt ihr das Handy hin.

»Hi, Schatz! Ich liebe dich! Tut mir wirklich leid wegen heute Morgen.«

»Ich dich auch, Kleines. Ich war echt ein Arschloch. Wir kriegen das wieder hin.«

Nicole zog das Handy wieder weg. »So, Kyle. Tschüs.«

Sie legte auf und ließ das Handy, Rochelles Handy, auf den Teppich fallen. Und dann blieb sie einfach sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und blickte zu Boden.

Und überlegte.

»Was ist?«, fragte Rochelle. »Wollen Sie jetzt nicht gehen? Er hat doch getan, was Sie wollten, oder nicht?«

»Doch«, sagte Nicole. »Hat er.«

Du musst es trotzdem tun, sagte sie sich. Auch wenn sie ein Fan ist.

Nicole hob die Plastiktüte auf, die sie der Frau vorhin über den Kopf gezogen hatte.

»Was machen Sie damit?«, fragte Rochelle.

Es dauerte viel länger, als es ihr lieb war. Die Frau wehrte sich, heftiger als die meisten. Sie warf den Kopf vor und zurück, mit aller Kraft, bis ihr schließlich die Luft ausging. Lange genug, dass eine einzelne Träne Zeit hatte, auf die Außenseite der Tüte zu tropfen.

Als es endlich vorbei war, setzte Nicole sich wieder auf ihren Stuhl und wartete auf Kyle Billings’ Rückkehr.