Siebenundvierzig
Julie erwartete mich vor dem Haus. Sie stand neben ihrem Wagen, als ich in die Einfahrt bog.
»Noch mal von vorn«, sagte ich gleich beim Aussteigen.
Sie wiederholte, was sie mir schon am Telefon erzählt hatte. Dass Kyle Billings, ein Mitarbeiter von Whirl360, und seine Frau in ihrem gemeinsamen Haus ermordet worden waren. Die Frau war mit einer Tüte erstickt worden. Dazu war mir natürlich sofort das Bild eingefallen, das Thomas im Internet gefunden hatte.
Es gab mir auch zu denken, dass Billings der Entwickler des Programms war, mit dem bei Whirl360 Gesichter unkenntlich gemacht wurden.
»Jemand wie er könnte dieses Foto bearbeitet haben«, sagte ich.
»Ja«, meinte Julie. »So was hab ich mir auch gedacht.«
»Keine Ahnung, was wir jetzt tun sollen«, sagte ich. »Du hast doch hoffentlich Thomas nichts davon gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Himmel, nein. Ich weiß nicht mal, ob er registriert hat, dass ich hier bin. Ich glaube, diese Neuigkeit würde ihn ziemlich beunruhigen.«
»Da wäre er bestimmt nicht der Einzige«, sagte ich. »Hast du sonst noch was erfahren?«
»Ich werde jetzt gleich wegen Allison Fitch herumtelefonieren. Mal sehen, ob sie noch als vermisst gilt.«
»Gut.« Ich legte ihr die Hände auf die Schultern. »Du weißt, du musst das nicht tun. Du musst dich da wirklich nicht mit hineinziehen lassen.«
»Aha. Ja gut«, sagte sie mit ausdrucksloser Miene. »Dann fahr ich jetzt. Meld dich mal wieder.«
Ich lächelte. »Warum tust du das?«
»Keine Ahnung. Weil’s Spaß macht?«
Ich lachte. »Dir vielleicht. Ich könnte gut drauf verzichten. Ist das dein einziger Grund?«
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht mag ich dich ja. Ich dachte, ich helfe dir, und vielleicht passiert da ja noch was, und es fängt an zu knistern, und es fliegen die Funken.«
»Wirklich.«
»Ja. Und von dem vielen Gefunke wird uns dann so heiß, dass es womöglich sogar noch zum Vollzug kommt.«
»Vollzug«, sagte ich. »Für mich klingt das immer wie Knast.«
Sie lächelte. »Ich mag dich, Ray. Und ich mag auch deinen Bruder. Ich helfe euch gerne. Und noch was muss ich dir sagen: Wenn Thomas wirklich etwas entdeckt hat, dann ist das eine Bombenstory.«
»Dann benutzt du mich also«, sagte ich.
»Ganz genau«, sagte sie. »Ich hab’s drauf angelegt, dich auszunutzen – sexuell und beruflich.«
»Damit kann ich leben. Aber ich weiß trotzdem nicht, was ich jetzt tun soll. Das mit der Polizei war ja nicht so der Hit.«
»Stimmt, das war nix. Aber, Menschenskind, das hier? Was da in Chicago passiert ist? Das muss doch jemanden interessieren.«
»Das Problem ist nur: Wie kriegst du diesen Jemand dazu, lange genug zuzuhören?«
Ich legte ihr einen Arm um die Schultern. Auf dem Weg ins Haus klingelte mein Handy. Es war die Kanzlei von Harry Peyton.
»Hi, Ray«, sagte Alice. »Ich bin gerade auf der Suche nach den Unterlagen zur Lebensversicherung Ihres Vaters. Kann es sein, dass Sie sie haben?«
Für so etwas hatte ich gerade gar keinen Kopf. »Hat das auch bis morgen Zeit?«
»Ja, normalerweise schon, aber ich habe morgen frei, und Harry hat einen Gerichtstermin.«
Mir fiel etwas ein. »Ist Harry da?«, fragte ich.
»Ja.«
»Also gut. Ich bin gleich da.« Ich legte auf und sagte zu Julie: »Ich hab eine Idee. Wartest du, bis ich wieder da bin?«
»Klar doch«, sagte sie. »Ich hab ja sonst nichts zu tun.«
Zehn Minuten später war ich mit der Versicherungspolice meines Vaters in Harrys Kanzlei. Ich hatte sie in einer der Küchenschubladen gefunden. Es war eigentlich gar nicht meine Absicht, aber vor lauter Anspannung knallte ich sie ihm förmlich auf den Tisch.
»Ray! Was ist denn los mit dir?«
»Das hier wollten Sie doch, oder?«
»Ja, das wollte ich. Aber was ist denn los? Es ist wegen Thomas, oder?«
Ich zwang mich, mich zu setzen. Ich hatte ein Gefühl, als hätte mir jemand Kaffee direkt in die Blutbahn gespritzt.
»Ja und nein. Also eigentlich nicht. Ich meine, es hat mit Thomas angefangen, aber inzwischen hat das Ganze eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Und darüber muss ich mit Ihnen reden.«
Er schloss einen Moment die Augen, wie um sich zu wappnen. »Schieß los.«
Ich musste selbst erst tief Luft holen. »Thomas hat etwas gesehen. Im Internet. Er spazierte durch die verschiedensten Straßen von New York und hat dabei etwas in einem Fenster im zweiten Stock entdeckt.«
Harry hörte sich alles bis zum Schluss an. Thomas’ Verdacht, Zeuge eines Mordes geworden zu sein. Meine Fahrt nach New York. Sein Anruf beim Vermieter. Das veränderte Foto und die Morde in Chicago. Die verschwundene Frau.
»Du liebe Zeit«, sagte Harry. »So was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.«
»Ich glaube, ich muss es der Polizei melden. Aber das hab ich schon mal versucht, und es war kein großer Erfolg.«
»Wer hätte das gedacht.«
Der nächste Witzbold.
»Ja, das war ein Reinfall«, sagte ich. »Aber jetzt hat das Ganze Dimensionen angenommen, da kann ich nicht einfach tatenlos rumsitzen. Darum dachte ich, Sie hätten vielleicht einen weisen Rat auf Lager. Vielleicht auch mehr als einen.«
»Nun, ich glaube, deine Überlegungen haben durchaus ihre Berechtigung. Wahrscheinlich wäre es vernünftig, jetzt die Polizei einzuschalten. Aber ich hätte da vorher noch ein paar Fragen.« Er setzte sich auf. »Erstens: Woher willst du wissen, dass die Straßenansichten bei Whirl360 nicht in regelmäßigen Abständen überprüft und eventuell bearbeitet werden, wenn das Programm etwas entdeckt, das es vorher übersehen hat?«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Ich weiß es natürlich nicht. Aber selbst wenn das der Fall ist, finde ich es schon erstaunlich, dass diese Bearbeitung ausgerechnet passiert, kurz nachdem Thomas das Foto entdeckt hat und ich an der Tür dieser Wohnung geklopft habe.«
»Da hast du vielleicht recht. Aber, Ray, wär’s eventuell möglich, dass es dieses Foto gar nicht gab?«
»Harry, Thomas hat sich das nicht eingebildet. Ich hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen. An dem Tag, als Thomas es gefunden hat.«
»Was ich damit meine: Wäre es möglich, dass Thomas es dort eingestellt hat?«
»Was?«, fragte ich ungläubig.
»Könnte Thomas dieses Bild, das du auf seinem Computer gesehen hast, manipuliert haben, dass es so aussieht, als würde da eine Frau am Fenster erstickt?«
Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Thomas versteht eigentlich nicht genug von Computern, um sich bei Whirl360 reinzuhacken und irgendwelche Bilder zu manipulieren.«
»Aha.« Harry nickte. »Und wenn er immerhin so viel Ahnung hätte, um das Bild nur auf seinem eigenen Computer zu bearbeiten? Keine Ahnung – irgendein Bild zu manipulieren und dort hineinzukopieren. Und das Bild, von dem du später dachtest, es sei verändert worden, war in Wirklichkeit das Originalfoto.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Das … das halte ich für ausgeschlossen.«
»Hast du dieses Foto je auf einem anderem Computer als dem von Thomas gesehen?«
Einen Moment war ich verunsichert. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber der Vermieter hat bestätigt, dass dort zwei Frauen gewohnt haben, und dass eine von ihnen als vermisst gemeldet wurde.«
»Was hat dir der Vermieter sonst noch erzählt?«
»Mir hat er nichts erzählt. Thomas hat mit ihm gesprochen.«
Harry Peyton schwieg.
»Ach, kommen Sie, Harry. Wollen Sie vielleicht behaupten, Thomas hat sich das mit dem Vermieter alles ausgedacht?«
»Das behaupte ich ja nicht, Ray«, sagte er. »Aber …«
»Der Name, den der Vermieter Thomas genannt hat, war derselbe, den ich in dem Artikel der Times gefunden habe.«
»Hat Thomas keinen Zugriff auf die Website der Times? Könnte er den Namen nicht schon gelesen haben, bevor er ihn dir gesagt hat? Ray, ich stelle dir nur die Fragen, die dir auch die Polizei stellen wird.«
Ich sank zusammen. »Nein, nein, das ist unmöglich. Ich glaube Thomas. Vielleicht mach ich mich damit auch zum Affen, aber ich glaube nicht, dass er irgendwelche Fotos manipuliert hat. Während ich sehr wohl glaube, dass er mit dem Vermieter telefoniert hat. Und noch etwas, Harry. Julie hat sich das mit diesem Mitarbeiter von Whirl360 nicht ausgedacht. Zwei Menschen wurden ermordet. Und es gibt eine Verbindung zwischen diesen beiden Menschen und dem Bild auf der Website.«
»Ich verstehe dich ja, Ray.«
»Ja, und ich verstehe, was Sie mir sagen wollen. Wenn ich mit unseren Vermutungen zur Polizei gehe, habe ich wahrscheinlich nicht mehr Glück als beim letzten Mal.«
Harry zuckte mit den Achseln und sah mich teilnahmsvoll an. »Sieh mal, ich will nicht behaupten, dass es so ist, aber was ist, wenn du dich in Thomas irrst? Was ist – und bitte verzeih mir, wenn ich das jetzt sage –, aber was ist, wenn ihm das, was er da gesehen hat, bei einem seiner Gespräche mit Präsident Clinton in den Sinn gekommen ist?«
Ich strich mir über die Stirn. Eine Gewitterfront war im Anmarsch und würde mir bald die heftigsten Kopfschmerzen bescheren. Einen Migränemonsun. »Ich weiß Ihre Einwände zu schätzen, Harry. Aber an dieser Sache ist definitiv was dran. Es muss einen Weg geben, diese Information an die Polizei weiterzuleiten. Die müssen sich die ganze Geschichte erst einmal anhören, bevor sie sie beiseiteschieben.«
Harry überlegte. »Ich habe einen Freund. Barry Duckworth, ein Detective hier in Promise Falls. Vielleicht sollte ich mich an ihn wenden, als Vermittler sozusagen. Barry kennt mich, und er vertraut mir. Ich könnte ihm alles erklären, und wenn er glaubt, dass mehr hinter der ganzen Geschichte steckt, dann kann er sich ja bei dir melden, und ihr könnt dem nachgehen. Oder er kann sich mit den Kollegen in New York in Verbindung setzen. Ihm wird schon jemand zuhören.«
Der Vorschlag gefiel mir. Harry war ein vertrauenswürdiges, angesehenes Mitglied der Gemeinde. Mir würde Duckworth vielleicht nicht lange genug zuhören, aber Harry konnte die Geschichte vielleicht zu Ende erzählen, ohne dass Duckworth auflegte oder ihn hinauswarf. Und Duckworth wiederum würde bei einer anderen Polizeibehörde glaubwürdig wirken.
»Ja«, sagte ich. »Gut.« Ich nickte. Plötzlich war ich ganz begeistert. Eine schwere Last war mir von den Schultern genommen worden. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Harry.«
»Kein Problem.«
Ich stand auf, doch etwas hielt mich noch zurück.
»Hast du noch etwas auf dem Herzen?«, fragte Harry.
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich es erwähnen soll«, sagte ich. »Aber vielleicht hat Dad ja mal mit Ihnen darüber gesprochen.«
»Worüber?«
»Thomas hat zu mir gesagt – ich versuche mich an den genauen Wortlaut zu erinnern –, er sagte was von ›Dingen, die an Fenstern passieren‹. Und später, als er sauer auf mich war, weil ich mich seiner Meinung nach in New York nicht genug bemüht hatte, der Sache auf den Grund zu gehen, warf er mir vor, mich genauso zu verhalten wie früher einmal, als jemand hilflos an einem Fenster stand.«
Harry presste die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Klingt, als hätte er von sich selbst gesprochen.«
»Den Eindruck hatte ich auch«, sagte ich. »Und da ist noch was. Len Prentice hat mir das erzählt.«
»Und zwar?«
»Len kam vorbei, während ich in New York war. Thomas hat sich schrecklich über ihn aufgeregt, weil Len ihn zum Mittagessen ausführen wollte, er aber nicht mit ihm gehen wollte. Und da hat er Len praktisch eine gescheuert.«
Harry riss die Augen auf. »O nein.«
»Es ist eigentlich nichts passiert, und Len macht da jetzt auch keine Affäre draus. Aber er meinte, Dad habe ihm erzählt, Thomas hätte ihn die Treppe hinuntergestoßen. Und als ich Thomas darauf ansprach, hat er es mehr oder weniger zugegeben.«
»Davon hat dein Vater mir nie etwas erzählt«, sagte Harry.
»Thomas hat gesagt, Dad habe sich entschuldigen wollen für etwas, das geschehen ist, als Thomas dreizehn war. Aber er habe nicht darüber reden wollen, und da habe er Dad gestoßen. Dad sei auf den Rücken gefallen.«
»Lieber Gott«, sagte Harry.
»Aber Dad war nicht böse. Sagt Thomas wenigstens. Anscheinend sagte Dad sogar, er würde es verstehen, wenn Thomas ihm nicht verzeihen könne.«
»Hast du Thomas gefragt, was das damals war?«
»Ja, aber er wollte es mir nicht sagen. Ich werde es ein andermal versuchen. Was kann Dad denn getan haben, dass er nach so langer Zeit das Bedürfnis hatte, sich bei Thomas zu entschuldigen?«
Harry sah verstohlen auf die Uhr.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich klinge wie aus einer Seifenoper. Danke für alles, Harry.«
Ich war schon auf dem Weg zum Auto, da klingelte mein Handy.
»Ich bin’s«, sagte Julie.
»Bist du noch bei uns?«
»Ja.«
»Mit Thomas alles in Ordnung?«
»Ja. Ich war bei ihm oben und hab ihn gebeten, mir auf Whirl360 zu zeigen, wo meine Schwester Candace ihren Laden hat. Ich hab ihm nur den Namen gesagt, und dass er in New York ist, und er hat ihn gleich gefunden.«
»Was für einen Laden?«
»Sie hat eine Konditorei, spezialisiert auf Cupcakes. In Greenwich Village. Und sie wohnt auch gleich über dem Laden.«
»Du meinst doch nicht diese berühmte Konditorei, wo die Leute immer Schlange stehen? Die mal in Sex and the City vorkam?«
»Du hast dir Sex and the City angesehen?«
»Hm, ein-, zweimal vielleicht.«
»Das war eine andere. Jedenfalls hat Thomas die von meiner Schwester sofort gefunden, in der 8. Straße. Sie heißt Candy’s, falls du mal dahin willst. Und, wie war’s beim Anwalt?«
Ich erzählte ihr, dass Harry Peyton sich als Vermittler zwischen der Polizei und mir angeboten hatte.
»Hört sich doch gut an. Ich kenne Duckworth. Hab ihn schon ein paarmal zitieren dürfen. Hör mal, Ray«, sagte Julie, und ihre Stimme klang plötzlich sehr ernst. »Ich hab noch was rausgefunden. Über Allison Fitch. Ich hab heute Vormittag schon mal nach ihr gesucht, aber nichts gefunden. Jetzt am Nachmittag hab ich’s noch mal am Laptop von deinem Dad probiert. Und es gab einen Treffer.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Nur ganz kurz. Aus Tampa. Eine Frau dieses Namens wurde dort tot in einem Hotel aufgefunden.«
Nicht schon wieder. Jedes Mal, wenn Julie sich auf die Suche nach Menschen begab, die mit dieser mysteriösen Geschichte zu tun hatten …
»Bist du noch dran, Ray?«
»Ja. Ja, ich bin noch da.«
»Kann ich dir was sagen, Ray?«
»Klar.«
»Das Ganze wird mir langsam verdammt unheimlich.«