Siebenundzwanzig
Howard Talliman schlief schlecht.
Howard schlief schon seit neun Monaten schlecht. Seit Ende August hatte er keine Nacht mehr durchgeschlafen.
Abgenommen hatte er auch. Acht Kilo. Das waren zwei Löcher in seinem Gürtel. Wären da nicht die Ringe unter seinen Augen und sein aschfahler Teint gewesen, hätte er sogar richtig gut ausgesehen, soweit man bei jemandem, der in etwa die Figur eines Gartenzwergs hatte, von gut aussehen sprechen kann.
Tallimans äußere Erscheinung und seine Gereiztheit, beides die Folge von Schlafmangel, waren ihm selbst am unangenehmsten, waren sie doch ein Hinweis, dass ihn etwas belastete, und Howard wollte keinesfalls, dass jemand auf die Idee käme, irgendetwas bereite ihm Sorgen.
Sich Sorgen zu machen entsprach nicht Howards Charakter. Er bereitete anderen Sorgen. Auch Nervosität war kein Wesenszug von Howard. Er machte andere nervös.
Schwere Zeiten für jemanden, der den Schein wahren wollte.
»Du siehst grauenhaft aus«, sagte Morris immer wieder zu ihm. »Warst du mal beim Arzt?«
»Mir geht’s gut«, sagte Howard dann. »Um dich mache ich mir Sorgen. Du warst für mich schon immer die Hauptsache.«
Normalerweise blühte Howard richtig auf, wenn es eng wurde. Druck war sein Lebenselixier. Bei den Wahlkampagnen, die er betreute, spielte es keine Rolle, wie schlecht die Chancen für seinen Kandidaten standen, wie hoch sein Rückstand war. Howard gab nie auf. Er geriet nie ins Schwitzen, auch wenn alle um ihn herum sagten, es sei vorbei. Er analysierte Probleme. Und er löste sie. Einmal, als ein Stadtrat sich zur Wiederwahl stellte, war seine gefährlichste Herausforderin eine Frau, die sich auf die umfangreiche Erfahrung berief, die sie in den verschiedenste Ehrenämtern gesammelt hatte. Hunderte von Stunden hatte sie sich für die Armen und sozial Benachteiligten engagiert, während der elende Schmarotzer, dessen Kampagne Talliman leitete, es sich auf Kosten anderer gutgehen ließ.
»Wir müssen einen Weg finden, ihr Engagement für andere gegen sie zu kehren«, sagte Talliman.
Die allgemeine Reaktion im Wahlkampfteam war: »Häh?«
Talliman sagte, wenn man John Kerry aus seinem Einsatz in Vietnam einen Strick drehen konnte, dann war alles möglich. Es galt, die Stärke der Frau zu ihrer Schwäche zu machen. Talliman setzte Blocker darauf an. Er fand gewisse Hinweise, aus denen sich konstruieren ließ, dass das soziale Engagement der Frau zu Lasten ihrer Kinder und ihres Ehemannes ging. Ihr pubertierender Sohn war wegen Kokainbesitz verhaftet worden, wenn auch der Fall nie vor Gericht gekommen war. Ihr Mann verbrachte auffallend viel Zeit in den Bars seines Wohnviertels, und das Hinterteil einer Kellnerin war für ihn stets eine Aufforderung, hineinzukneifen. Talliman sorgte dafür, dass diese Information an die Presse durchsickerte, hütete sich aber, sie direkt weiterzugeben. Wenn Geschichten wie diese kein Beweis dafür waren, dass die Frau blind war für die Nöte ihrer nächsten Angehörigen, was dann? Noch zwei Wochen vor der Abstimmung überschwemmte Talliman den Wahlbezirk mit Handzetteln, in denen er seinen Kandidaten als ausgesprochenen Familienmenschen darstellte und gleichzeitig durchblicken ließ, dass der Gegenkandidatin das Wohlergehen Fremder wichtiger war als die eigene Familie.
Dass einem Mann Karriere vor Familie ging, interessierte niemanden. Aber bei einer Frau?
Es war eine unappetitliche, feige Kampagne, und noch dazu eine Verkehrung der Tatsachen. Und sie wirkte. »Karl Rove hätte es nicht besser deichseln können«, sagten seine Bewunderer ebenso wie seine Widersacher, nachdem die Frau die Wahl mit mehr als dreitausend Stimmen Rückstand verloren hatte.
Ungefähr um diese Zeit bekam Lewis Blocker seine Festanstellung bei Howard.
Für Lewis hätte sie zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, denn er brauchte Geld. Er war aus dem Polizeidienst ausgeschieden, noch ehe er einen Pensionsanspruch erworben hatte. Zusammen mit anderen Kollegen war er zu einer Geiselnahme gerufen worden. Ein Mann hatte sich in seiner Wohnung verschanzt und drohte, seine Familie umzubringen. Schüsse wurden aus der Wohnung abgefeuert. Dann flog die Tür auf und jemand stürmte heraus. Lewis, der im Flur postiert war, schoss.
Pech nur, dass er den sechzehnjährigen Sohn des Schützen erwischt hatte, der einen Fluchtversuch gewagt hatte.
Es wurde zwar keine Anklage erhoben, doch Lewis Blockers Polizeikarriere war damit zu Ende.
Manchmal, sinnierte Howard Talliman, gab es einen Grund, warum etwas geschah. Wenn ein junger Mann sterben musste, damit Lewis Blocker bei der Förderung der politischen Karriere großer Männer mitwirken konnte, tja, wer war er, Howard Talliman, die göttliche Vorsehung in Frage zu stellen?
Aber dass die Dinge letzten August den Lauf nahmen, den sie schließlich genommen hatten, dachte Howard weiter, das konnte unmöglich Gottes Wille sein.
Die Aktion, die er damals genehmigt hatte, die Maschinerie, die in Gang zu setzen er Lewis gestattet hatte, um Morris Sawchuck zu schützen, hatte ein Zerstörungspotenzial, das für sie alle das Ende bedeuten konnte.
Sawchuck war für Howard mehr als ein enger Freund. Er war Tallimans Eintrittskarte zur ganz großen Show. Wenn Sawchuck einmal Gouverneur von New York war, das wusste Howard, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis er von da die Leiter ganz nach oben kletterte. Sawchuck besaß die Persönlichkeit, die Strahlkraft – bis hin zu den Zähnen –, um es bis ins Weiße Haus zu schaffen.
Howard hatte befürchtet, dass Bridgets lesbische Beziehung zu Allison Fitch und – noch schlimmer – das, was diese über Morris’ politische Probleme wusste, all diese Aussichten zunichtemachen könnten. Er hatte auf Lewis’ Instinkt vertraut: dass er wusste, was getan werden musste. Und dass er wusste, wer am besten geeignet war, zu tun, was getan werden musste.
Nicht, dass Howard damit gerechnet hatte, dass mit der Erledigung des Auftrags automatisch auch alles andere erledigt wäre. Wenn eine junge Frau ermordet oder vermisst wurde, dann blieb das nicht unbeachtet.
Die Times schrieb, die Polizei bitte um Informationen über den Verbleib von Allison Fitch, die nicht zur Arbeit erschienen war. Sie schrieb auch, dass Fitch aus Dayton stammte und ihre dort lebende Mutter ebenfalls ohne Nachricht von ihr wäre.
Auch in der New York Post stand etwas, ganz weit hinten, unmittelbar vor dem Sport. Und eines Tages brachte sogar NY1 etwas darüber. Fünf Sekunden lang war das lächelnde Gesicht der Fitch auf dem Bildschirm zu sehen.
Danach nichts mehr. Eine vermisste Person hatte in Manhattan keinen anhaltenden Nachrichtenwert. Eine junge Frau aus Ohio erscheint eines Tages nicht zur Arbeit? Sehr spannend! Sie hat’s halt nicht gepackt in der großen Stadt und ist wieder nach Hause gegangen. Solange niemand über eine Leiche stolperte, überlebte eine Vermisstenmeldung nicht einmal die Zeitspanne von einer Nachrichtensendung zur nächsten.
Leider war niemand über eine Leiche gestolpert.
Unter anderen Umständen wäre das für Howard Talliman ein Grund gewesen, sich zu entspannen. Wenn auch der Rest der Welt nicht gewusst hätte, was Allison Fitch zugestoßen war, er hätte es gewusst.
Leider wusste er es nicht.
Ebenso wenig wie Lewis.
Lange Zeit wusste es überhaupt niemand.
Kurz nachdem Nicole losgeschickt worden war, um ihren Auftrag auszuführen, hatte Lewis bei Howard angerufen.
»Sie hat sich bei mir gemeldet. Es gibt ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
Lewis hatte ihm erklärt, dass Allison Fitch, die nachts arbeitete, gewöhnlich tagsüber zu Hause war und schlief, während ihre Mitbewohnerin, diese Courtney Walmers, die einen normalen Tagesjob hatte, außer Haus war.
An dieser Stelle hatte Howard Talliman bereits eine böse Ahnung.
An diesem Tag jedoch, so berichtete Lewis weiter, war etwas Unvorhergesehenes geschehen.
»Die Frau in der Wohnung war nicht Allison Fitch. Es erwischte die Falsche.«
Howard hatte in seinem Büro gesessen und sich bemüht, die Ruhe zu bewahren. Mein Gott, die Mitbewohnerin? Tot? Jemand, der nie eine Bedrohung dargestellt hatte? Jemand, den er nicht einmal kannte? Sicher, auch in der Vergangenheit hatte Howard schon Kollateralschäden verursacht. Seine politischen Machenschaften hatten mehr als den Ruf seiner Gegner zerstört. Er hatte unterlegene Kandidaten erlebt, die ihr Haus verkaufen mussten, um ihre Wahlkampfschulden bezahlen zu können. Die ihre Frauen oder deren Frauen sie verlassen hatten. Einer griff zur Flasche, fuhr mit dem Wagen gegen einen Brückenpfeiler und war für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt.
Aber so etwas war noch nie passiert. Gestorben war noch nie jemand.
Diese Nachricht war unerwartet und schlecht. Was Howard jedoch noch immer nicht wusste, war, ob diese Frau, die Lewis da angeheuert hatte, schließlich doch noch ihren ursprünglichen Auftrag ausgeführt hatte. Was war aus dem eigentlichen Opfer geworden?
»Was ist mit Fitch?«, hatte er Lewis gefragt.
»Weg«, hatte Lewis geantwortet. »Sie ist reingeplatzt. Hat gesehen, was los ist. War schneller wieder zur Tür raus, als du Scheiße sagen kannst.«
In den folgenden Monaten blieb Allison Fitch unauffindbar. Wahrscheinlich hatte sie die Hosen gestrichen voll und eine Mordsangst, sich irgendwo blicken zu lassen.
Solange sie noch da draußen war, war sie eine tickende Zeitbombe, die jeden Augenblick hochgehen konnte.
Als Lewis ihn damals angerufen hatte, war Howard vor unterdrückter Wut und blankem Entsetzen explodiert.
»Was für ein kolossaler Griff ins Klo!«
Und Lewis hatte gesagt: »Es kommt noch schlimmer.«