Neununddreißig
Am Montagmorgen rief Lewis Blocker Howard Talliman an.
»Erledigt.«
»Bleib mal dran«, sagte Howard und legte sein Handy auf die Granittheke in der Küche seines Stadthauses an der Upper East Side. Dann stützte er sich mit beiden Händen auf die Theke. Er hatte seit Tagen kein Auge mehr zugetan und das Gefühl, als sei sein Körper eine einzige schlotternde Hülle, die in einer von ständigen leichten Erdstößen erschütterten Welt wandelte.
Auf diesen Anruf hatte er die ganze Zeit gewartet, und nun, da er ihn erhalten hatte, musste er sich irgendwo festhalten und verschnaufen. Er nahm das Telefon wieder in die Hand und sagte: »Da bin ich wieder.«
»Geh an deinen Computer.«
Mühsam setzte Howard sich auf einen der Barhocker und klappte das Laptop auf, das auf der Theke stand. Er tippte Whirl360 in den Web-Browser und klickte sich durch bis zu diesem Fenster in der Orchard Street.
Der Kopf war weg.
»Lewis«, sagte er.
»Ja.«
»Ich habe nachgesehen. Er ist weg.«
»Ja. Sie hat das erledigt.«
Howard war froh, sah aber keinen Anlass, die Leistung der Frau mit Lobpreisungen zu überhäufen, der sie dieses Fiasko überhaupt erst zu verdanken hatten. »Gab’s Komplikationen?«
»Ein paar.«
»Welche, die uns um die Ohren fliegen könnten?«
»Nein.«
»Gut. Und was tut sich sonst?«
»Sie ist nach Dayton zurückgefahren und passt auf die Mutter auf. Wartet noch immer. Und ich bin noch immer auf der Suche nach unserem Besucher.«
»Schön, auch mal eine gute Nachricht zu hören«, sagte Howard. »Aber wir sind noch lange nicht aus dem Schneider.«
»Ja«, sagte Lewis. Und dann: »Ich halte dich auf dem Laufenden.«
Howard legte auf, schob das Handy von sich und legte den Kopf in seine Hände. Er brauchte unbedingt etwas zu trinken. Dabei war es erst acht Uhr morgens. Er brauchte all seine Kraft. Heute Vormittag hatte er einen Termin mit Morris Sawchuck.
Der Mann wurde immer unruhiger. Er wollte seiner Kampagne wieder neues Leben einhauchen. Offiziell verkünden, dass er sich nach neunmonatiger Pause entschlossen habe, für das Amt des Gouverneurs des Staates New York zu kandidieren.
Letzten August war es angebracht gewesen, seine Pläne auf Eis zu legen. Dafür hatte es zwei Gründe gegeben. Einen sehr persönlichen, der für großes öffentliches Interesse gesorgt hatte, und einen anderen – seine Verstrickung in die Mauscheleien zwischen dem CIA-Direktor und verschiedenen Terroristen –, von dem er hoffte und betete, dass er nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen würde.
Und einen dritten Grund, von dem er nichts wusste.
In Unkenntnis dieses dritten Grundes sah Morris nicht ein, warum er seine Karriere noch länger auf Sparflamme köcheln lassen sollte. Es war genug Zeit vergangen. Hätte er gewusst, dass eine Frau namens Allison Fitch noch immer herumlief – und ihn vernichten konnte –, hätte er seine Meinung vielleicht geändert.
Howard Talliman lebte in der ständigen Angst, diese Frau könne auftauchen. Noch vor dem Aufstehen ging er mit seinem Handy ins Internet, nahm die Fernbedienung und schaltete in seinem Schlafzimmer CNN ein. Dazwischen wechselte er immer zu Today. Stellte sich vor, wie Wolf Blitzer sagte: »Und nun sprechen wir exklusiv auf CNN mit einer Frau, die sich bis jetzt versteckt hielt, weil sie Angst um ihr Leben hatte. Sie beschuldigt Morris Sawchuck und Leute in seinem engeren Umfeld, ihre Ermordung in Auftrag gegeben zu haben. Nicht genug damit, erhebt sie auch Vorwürfe gegen den Justizminister des Staates New York, beteiligt gewesen zu sein an den schändlichen Plänen des ehemaligen CIA-Direktors, nicht gerichtlich gegen –«
Das war der Moment, in dem Howard sich vorstellte, wie er den Fernseher ausschaltete, sich eine Waffe holte und sich das Gehirn aus dem Schädel pustete.
In etwa das, wofür auch Barton Goldsmith sich letzten Endes entschieden hatte.
Denn während Howard und Morris sich größte Sorgen machten, dass die Rolle des Justizministers bei den dubiosen Abmachungen zwischen Terroristen und dem Direktor der CIA bekannt wurde, hatte dieser den Tag gefürchtet, an dem er vor dem Kongressausschuss aussagen musste. Dort wäre alles ans Tageslicht gekommen.
Also stand Barton Goldsmith eines Morgens auf, stellte sich im Garten seines Hauses in Georgetown in die Blumen, steckte sich den Lauf einer Pistole in den Mund und betätigte den Abzug.
Gott segne ihn, dachte Howard. Morris war, seiner Natur gemäß, ein wenig zurückhaltender. »Eine schreckliche Sache«, sagte er in einem Interview. »Ein schwerer Verlust.« Innerlich, davon war Howard überzeugt, führte er Freudentänze auf.
Nach Goldsmiths Abtreten sah Morris keine Bedrohung mehr für sich und seine Ambitionen. Doch Howard wusste, dass eine noch größere sich keineswegs in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Sollte Fitch auftauchen und reden, würde alles herauskommen. Er wusste nicht, was genau Fitch Bridget am Telefon hatte sagen hören oder glaubte, gehört zu haben. Jedenfalls hatte sie angedeutet, sie habe während des Urlaubs in Barbados gewisse Kenntnisse erlangt.
Früher oder später würde sie ihre Angst vor den Behörden überwinden. Wenn ein Justizminister, oder zumindest einer seiner Mitarbeiter, einem einen Auftragskiller auf den Hals hetzte, dann überlegte man es sich zweimal, bevor man zur Polizei ging. Aber eines Tages, davon war Howard überzeugt, würde sie all ihren Mut zusammennehmen.
Er konnte nicht zulassen, dass Morris seine Pläne wieder aufgriff, solange diese Möglichkeit bestand. Worauf es jetzt ankam, war, den Mann in Schach zu halten, ohne ihm zu sagen, warum er sich noch zurückhalten sollte.
Die Wahrheit konnte Howard ihm nicht sagen.
Die würde er ihm nie sagen können.
Howard saß am Schreibtisch, als das Telefon summte. Es war Agatha, seine Sekretärin. »Er ist da«, sagte sie und hatte noch nicht ausgesprochen, da ging die Tür schon auf, und er kam herein.
Howard war bereits aufgestanden und ging ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. »Hey«, sagte er. Morris ergriff die dargebotene Hand und drückte sie fest. Er ging zur Bar, die Howard in einer Ecke des Büros eingerichtet hatte, und schenkte zwei Gläser Scotch ein.
»Ich hatte heute Morgen ein sehr interessantes Gespräch«, sagte Morris und reichte Howard ein Glas.
»Mit wem denn?«
»Mit Bridget.«
»Tatsächlich«, sagte Howard und setzte sich, als Morris sich setzte. »Und worüber habt ihr gesprochen?«
Morris grinste. »Über vieles. Wir sind nämlich ständig im Gespräch.«
»Natürlich.«
»Aber heute war es irgendwie besonders. Sie hat mir gesagt, es ist Zeit.«
Howard trank. »Tatsächlich.«
Morris nickte. »Sie hat gesagt, ich soll meinem Traum folgen. Sie hat gesagt, ich soll es wagen. Sie hat gesagt, ich habe lang genug gewartet. Sie hat mir gesagt, ich soll ihretwegen nicht länger warten.«
»Tja.«
»Sie ist nämlich der einzige Grund, warum ich noch warte. Die Sache mit Goldsmith hat sich erledigt. Wann hast du das letzte Mal in der Times was darüber gelesen? Der Mann hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.«
»Es gibt noch andere, die Bescheid wissen. Bei der CIA.«
»Die werden nicht reden, Howard. Die halten zusammen.«
»Da können wir uns nie sicher sein.«
»Dann meinst du also, wir rühren uns überhaupt nicht mehr? Streichen endgültig die Segel?«
»Das meine ich nicht, Morris. Aber wir müssen noch immer behutsam vorgehen. Wir dürfen unsere langfristigen Ziele nicht aus den Augen verlieren, Morris. Du kannst es bis ganz nach oben schaffen. Und das weißt du auch, oder? Bis in die Pennsylvania Avenue. Ich weiß es. Ich glaube daran. Aber es wird nicht so weit kommen, wenn wir zu kurz denken. Wir müssen unsere Entscheidungen jetzt treffen und an die Zukunft denken.«
Morris trank sein Glas in einem Zug leer, stellte es auf den Tisch zwischen ihnen und blickte in seinen Schoß. Er wurde sehr still.
»Morris? Alles in Ordnung?«
»Bridget hat noch etwas gesagt.«
»Morris, glaubst du wirklich –«
»Sie hat gesagt, sie verzeiht mir.« Er hob den Kopf und sah Howard an. »Das hat sie gesagt. Sie verzeiht mir.«
»Das ist schön, Morris, aber ich sehe nicht, dass das irgendwie –«
»Weißt du, was mir das bedeutet? Hast du überhaupt eine Vorstellung, mit was für Schuldgefühlen ich rumlaufe?«
»Aber sicher. Darüber haben wir doch oft genug geredet. Und ich habe dir gesagt, es gibt nichts, was du dir vorzuwerfen hast. Du warst nicht der Einzige, der die Zeichen nicht erkannt hat. Niemand von uns hat was bemerkt. Es gibt Menschen, die behalten ihre Sorgen für sich, machen alles mit sich allein aus.«
»Ich kapier’s immer noch nicht. Ich hab sie nämlich gefragt.«
Howard schluckte. »Du hast Bridget gefragt.«
»Ja. Als sie mir erschien, habe ich sie gefragt. Warum?, habe ich sie gefragt. Warum bist du nicht zu mir gekommen? Weißt du, was sie gesagt hat?«
Howard schloss die Augen. Er wusste nicht, wie lange er das noch ertragen würde. »Was hat sie gesagt, Morris?«
»Ich soll mir keine Vorwürfe machen.«
»Na, das ist doch wunderbar. Echt toll.«
Morris warf seinem Freund einen strengen Blick zu. »Mach dich nicht lustig darüber, Howard. Ich finde das unpassend.«
»Es tut mir leid, Morris. Wirklich. Aber wir können unser Vorgehen nicht danach ausrichten, was Bridget dir sagt. Ich hab’s mit der realen Welt zu tun. Mit der Presse, mit Ermittlern vom FBI, mit einem Skandal, der uns noch immer den Arsch kosten könnte.«
Morris schien ihm gar nicht zuzuhören. »Es ist nur… wenn du das, was Bridget jetzt sagt, vergleichst mit dem, was sie dir am Telefon gesagt hat – das hört sich ganz anders an. Dir hat sie gesagt, ich sauge ihr das Mark aus den Knochen. Das hat sie doch zu dir gesagt, oder?«
»Du musst bedenken, in welcher Verfassung sie da war.«
»Was ist, wenn sie in diesem Moment genauso klar gedacht hat wie sonst auch immer?«
»Himmelherrgott, Morris!« Howard explodierte. »Es reicht.«
Morris prallte zurück, als habe ihm jemand einen Stoß versetzt.
»Hör endlich auf, dich selber fertigzumachen. So kann das nicht weitergehen. Du musst nach vorne schauen.«
»Hast du mir überhaupt zugehört, Howard? Genau das habe ich vor. Das ist, was Bridget will. Du bist der, der mich zurückhält.«
»Und dafür solltest du Gott danken«, fuhr Howard ihn an. »Während du Séancen abhältst, kümmere ich mich um politische Realitäten.« Er sprang auf und zeigte mit dem Finger auf Morris. »Und du musst noch warten. Wenn du zu früh wieder auftauchst, weißt du, was diese gottverdammten Meinungsmacher daraus machen? Dass du ziemlich schnell darüber hinweggekommen bist. Das werden sie daraus machen. Sie werden dich als unsensibel hinstellen.«
Morris sah weg. »Zwei Ehefrauen«, sagte er.
»Was?«
»Es ist schon schlimm genug für einen Mann, wenn eine Frau sich umbringt. Aber gleich zwei? Was sagt das aus über ihn? Was sagt das aus über mich? Erst bringt Geraldine sich in der Garage um. Und dann Bridget.« Er sah Howard flehend an. »Was bin ich eigentlich für ein Ungeheuer?«
»Siehst du?«, sagte Howard. »Das beweist doch, dass du noch nicht so weit bist. Du brauchst noch Zeit, um völlig darüber hinwegzukommen. Vertrau mir, Morris. Ich bin dein Freund. Und als dein Freund sage ich dir: Es ist noch nicht so weit.«
Und was für ein Freund, dachte Howard. Ich habe einen Killer losgeschickt, um eine Erpresserin zum Schweigen zu bringen, und stattdessen deine Frau abgemurkst.
Manchmal sprach Bridget auch mit Howard, aber da war sie weit weniger versöhnlich.