Dreißig

Um die Wahrheit zu sagen: Auch Lewis Blocker schlief nicht allzu gut.

Allison Fitch war noch immer da draußen, und nicht zu wissen, wo sie war und was sie vielleicht tun würde, raubte Lewis aus genau denselben Gründen den Schlaf wie Howard Talliman. Falls sie sich eines Tages doch entschließen sollte, ihr Versteck zu verlassen und auszupacken, dann konnten sie einpacken. Alle miteinander – Howard genauso wie Morris und Lewis Blocker.

Trotz seiner und Howards verzweifelter Bemühungen, nach diesem kolossalen Griff ins Klo, wie Howard es so treffend bezeichnet hatte, den Klodeckel wieder zuzukriegen, würde ihnen die Scheiße spätestens dann um die Ohren fliegen, wenn Allison in eine Polizeidienststelle hineinspazierte, über den Mord berichtete, ihren Erpressungsversuch gestand und über das Treffen mit Howard plauderte.

Sie mussten dafür sorgen, dass es nicht so weit kam.

Dazu wurden mehrere Maßnahmen ergriffen. Als Erstes ließ Lewis Nicole die Mutter in Ohio überwachen. Früher oder später würde die junge Frau einen Kontaktversuch unternehmen. Irgendwann würde jede Tochter, die in der Patsche saß, sich bei ihrer Mutter ausheulen wollen. Irgendwann würde sie nicht mehr leben können mit dem schlechten Gewissen, dass die Angst um sie die Mutter schier um den Verstand brachte. Irgendwann würde der Wunsch übermächtig werden, ihrer Mutter diese Angst zu nehmen.

Lewis war es durchaus nicht wohl bei dem Gedanken, Nicole weitermachen zu lassen, nachdem sie es so verbockt hatte. Sein ursprüngliches Vertrauen in sie war bis in die Grundfesten erschüttert worden, und sein erster Impuls war gewesen, Nicole den äußersten Preis für dieses Versagen zahlen zu lassen. Doch im Moment brauchte er jede Unterstützung, die er bekommen konnte, und Nicole, die die Schlinge um den Hals spürte, hatte ihre Hilfe auf unbefristete Zeit zugesagt, um gutzumachen, was noch gutzumachen war. Er würde sich ihrer also bedienen, bis dieses Problem aus der Welt geschafft war.

Lewis wollte auch die Wohnung nicht aus den Augen lassen. Er hielt es zwar für äußerst unwahrscheinlich, dass die Fitch selbst dahin zurückkehren würde, aber es war durchaus möglich, dass irgendwann einmal jemand auftauchte, der sie kannte. Vielleicht nur ein Freund, um hallo zu sagen. Oder, und darauf hoffte Lewis am meisten, jemand, mit dem Allison sich in Verbindung gesetzt und den sie gebeten hatte nachzusehen, was mit ihrer ehemaligen Wohnung los war.

In jedem Fall kam mit so einem Besucher vielleicht auch ein Hinweis, wo Allison Fitch sich im Moment aufhielt.

Lewis konnte niemanden rund um die Uhr auf dem Flur postieren. Zu auffällig. Er hatte zwar in der Rolle eines Angehörigen mit dem Vermieter vereinbart, dass er bis auf weiteres dafür sorgen würde, dass die Miete pünktlich jeden Monat bezahlt wurde, doch Lewis hatte nicht genügend Leute, um ständig jemanden in der Wohnung zu haben, für den Fall, dass sich einmal ein Besucher blicken ließ. Im ersten Monat, als er selbst da Posten bezogen hatte, klopfte es ein einziges Mal. Es war jemand, der Flyer für den Heimservice eines italienischen Lokals ein paar Häuser weiter verteilte.

Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass eines Tages doch jemand vorbeikäme, der für ihn interessant war. Und wenn das geschah, dann wollte er wissen, wer das war.

Deshalb installierte er die Kamera.

Ein winziges Ding für den Türspion, innen befestigt, mit einem ausgezeichneten Blick auf den Flur, gesteuert durch einen Bewegungsmelder. Sobald jemand sich der Wohnung auf einen Meter näherte, schaltete sie sich ein. Die Aufnahmen wurden automatisch auf seinen Computer übertragen, und jeden Abend sah Lewis sie sich an.

Es gab fast immer irgendetwas. Normalerweise war es der Hausmeister, der im Flur staubsaugte. Einmal ein Pizzalieferant, der die falsche Tür erwischt hatte. Lewis sah, wie er sein Handy zückte, mit jemandem telefonierte und die Sache klärte.

Beim Ansehen dieser Szene bekam Lewis ein wenig Hunger.

An Halloween waren ein paar Kinder ins Haus gelangt und bettelten um Süßigkeiten. Zwei Mädchen, das eine als Lady Gaga, das andere als Alien verkleidet – er war sich nicht sicher, wer wer war –, versuchten ihr Glück an Tür Nummer 305.

Jeden Tag irgendwas, aber nie etwas Brauchbares.

Allmählich kam Lewis zu der Überzeugung, dass es sich nicht lohnte, weiter Miete zu zahlen. Er würde die Kamera entfernen.

Und dann tauchte plötzlich der Typ mit der Pearl-Paint-Tüte auf.

Lewis saß am Schreibtisch im Arbeitszimmer seiner Wohnung an der Lower East Side und betrachtete den riesigen Bildschirm seines Computers. Der Mann klopfte dreimal mit der Hand, in der er die Tüte aus dem Künstlerladen hielt. Bei seinen Nachforschungen über Allison Fitch war er ihm nicht untergekommen. Weder vor noch nach ihrem Verschwinden. Lewis hatte keine Ahnung, wer das war und ob sein Erscheinen irgendwie von Bedeutung war.

Wollte der Typ irgendwas verkaufen? Hatte er die falsche Wohnung erwischt? Oder kannte er eine der beiden ehemaligen Mieterinnen und wollte sie besuchen? Wäre das der Fall gewesen, hätte er dann nicht gerufen? Etwas wie »Hey, jemand zu Hause?«. Wie war er ins Haus gekommen? Hatte er einen Schlüssel? War er hereingekommen, als jemand anderes hinausgegangen war, oder hatte er wahllos auf mehrere Klingeln gedrückt, bis er den Dummen gefunden hatte, der auf den Türöffner gedrückt hatte?

Spielte das eine Rolle? War dieser Besuch überhaupt von Bedeutung?

Da erhaschte Lewis einen Blick auf den Zettel, den der Mann in der anderen Hand hielt.

Was war das? Zweimal blitzte er kurz vor der Kamera auf. Lewis wiederholte diese kurze Sequenz mehrmals hintereinander, doch er konnte nichts erkennen.

Er hielt das Video an, dann bewegte er es mit dem Cursor ganz langsam Zentimeter für Zentimeter weiter, bis er zu einer Stelle kam, wo der Zettel ansatzweise zu sehen war.

Anscheinend ein ganz normales Blatt, wie man es als Druckerpapier verwendete. Im oberen linken Quadranten befand sich ein rechteckiges farbiges Bild. Es sah aus wie eine Fensterreihe, aber genau zu erkennen war es nicht.

Am oberen Rand des Blattes irgendeine Schrift. Auf dem Bildschirm nicht zu entziffern. Doch in der oberen linken Ecke gab es ein mehrfarbiges Logo, das Lewis vage bekannt vorkam. Es fing mit einem stilisierten W an, und die Zeichen am Ende sahen aus wie drei Ziffern.

Er war sich ziemlich sicher, dass er es kannte. Und schließlich fiel es ihm ein: Es war das Logo von Whirl360, dieser Website, mit der man sich die Straßen von Städten auf der ganzen Welt ansehen konnte. Er benutzte sie manchmal. Wie jeder Mensch irgendwann in seinem Leben hatte auch er nachgesehen, ob das Haus, in dem er aufgewachsen war, online zu sehen war. Er hatte seine alte Adresse in Denver eingetippt, und da war es.

Wenn das tatsächlich das Whirl360-Logo war, dann war es nicht abwegig, anzunehmen, dass das Bild auf dem Zettel ein Ausdruck von dieser Website war.

Lewis vergrößerte das verschwommene Bild, so gut es mit dem Computer möglich war. Es sah tatsächlich aus wie eine Fensterreihe, und zwar wie eine in einem der alten Mietshäuser in der Gegend, in der Allison Fitchs Wohnung lag. Doch es war unmöglich, irgendeine Einzelheit zu erkennen.

Wenn der Typ dieses Bild online finden konnte, dachte Lewis, dann würde er es auch schaffen. Er öffnete einen Browser, ging auf Whirl360 und gab »Orchard Street New York« ein. Gleich darauf klickte er sich die Straße entlang. Als er zu dem Häuserblock kam, in dem Fitchs ehemalige Wohnung lag, zog er den Cursor über den Bildschirm und drehte sich auf der Orchard Street einmal im Kreis, von Norden nach Süden und wieder zurück.

Vielleicht war der Mann, der geklopft hatte, ja Architekturstudent. Oder jemand vom Stadtbauamt. Wer konnte das wissen?

Er drehte die Ansicht so, dass er das Haus der Fitch direkt vor sich hatte, zog den Cursor ganz nach oben, klickte, hielt die Taste fest und zog den Cursor wieder nach unten. Das hatte den Effekt, als recke man den Hals, um zu den oberen Stockwerken hinaufzusehen.

»Was?«, murmelte er. »Was … ist … das?«

Er hatte jetzt ein ganz bestimmtes Fenster herangeholt und klickte, um es zu vergrößern.

»Ach, du Scheiße«, flüsterte er.


Sie trafen sich auf derselben Bank im Central Park. Lewis Blocker überreichte Howard Talliman ein gefaltetes Blatt Papier.

»Was ist das?«, fragte Talliman.

»Hab ich aus dem Internet ausgedruckt. Schau’s dir einfach an.«

Talliman klappte den Zettel auf und sah ratlos auf das Bild. »Keine Ahnung, was das sein soll.« Howard hatte das Haus in der Orchard Street nie gesehen.

»Das Fenster gehört zu der Wohnung. Was du da in der Hand hast, ist ein Ausdruck aus dem Netz.«

Howard legte den Zeigefinger auf den Kopf am Fenster. »Lewis, ist das, was ich glaube, dass es ist?«

»Ja.«

Howard gab Lewis den Zettel zurück, und dieser steckte ihn wieder in seine Jacke. »Ich kapier immer noch nichts.«

»Weißt du, was Whirl360 ist?«

»Ich komme nicht aus der Steinzeit, Lewis.«

»Das ist ein Ausdruck von dieser Website. Während wir hier plaudern, kann jeder das Bild online bewundern. Jeder, der einen Computer hat und sich zufällig die Orchard Street anguckt und zufällig genau diese Perspektive wählt, kann es sehen. Anscheinend ist einer dieser Kamerawagen genau in dem Moment in der Orchard Street unterwegs gewesen, als Nicole das am Fenster gemacht hat.«

Allmählich dämmerte Howard die Ungeheuerlichkeit des Ganzen. »Um Himmels willen«, entfuhr es ihm. »Wie bist du denn darauf gestoßen? Einfach so, beim Surfen?«

»Nein«, sagte Lewis. »Ich wurde darauf gestoßen.«

»Was? Wie denn?«

»Jemand wollte in die Wohnung. Ein Mann, Ende dreißig, Anfang vierzig, würde ich sagen. Hat angeklopft. Die Kamera aktiviert.«

»Aha.«

Lewis klopfte auf seine Jacke, in der der Ausdruck steckte. »Der hatte einen Zettel in der Hand, genau wie den hier.«

Howards Mund stand offen. Er fasste sich an die Stirn. »Wer war das?«

»Keine Ahnung.«

»Was wollte er damit? Wieso hatte er das?«

»Keine Ahnung.«

»Verdammt, was weißt du eigentlich, Lewis?«

Lewis blieb unbeeindruckt. »Ich weiß, dass wir zwei Probleme haben, Howard. Das erste ist dieser Mann. Wer ist das? Wieso hat er diesen Ausdruck? Wie hat er ihn überhaupt entdeckt? Reiner Zufall, oder wusste er schon, dass es ihn gab? Handelt er allein oder im Auftrag von jemandem? Weiß er, was auf diesem Bild zu sehen ist? Ist er Polizist? Warum hatte er das Ding in der Hand, als er an diese Tür klopfte? Was wollte er? Wen hat er gesucht?«

»Grundgütiger«, sagte Howard. Er schwieg einen Augenblick, dann sah er Lewis an. »Und das zweite Problem?«

»Das Foto«, sagte Lewis. »Es ist noch immer da. Auf dieser Website. Und wartet darauf, dass der Nächste es findet.«