Einundvierzig

Also gut«, sagte Julie, »jetzt das Ganze noch mal zum Mitschreiben.«

Ich hatte mich wieder angezogen. Mein Bruder saß wieder vor seinen drei Bildschirmen. Julie und ich hockten nebeneinander auf seinem Bett wie zwei Schüler vor dem Lehrer, der gerade den Stoff wiederholt, der bei der Abschlussprüfung drankommt.

»Thomas sieht dieses Foto im Internet, überredet dich, zu diesem Haus in Manhattan zu fahren, um die Lage zu sondieren. Du fährst zwar hin, hängst dich aber nicht wirklich rein, redest allerdings mit der Nachbarin.«

»Ja«, sagte ich.

»Und Thomas, der deine detektivischen Fähigkeiten für, gelinde gesagt, verbesserungswürdig hält, ruft den Vermieter an und erfährt, dass in dieser Wohnung zwei Frauen gelebt haben, die jedoch inzwischen beide ausgezogen sind. Jetzt steht die Wohnung zwar leer, doch ein gewisser Blocker zahlt noch immer die Miete. Kommt das ungefähr hin?«

Thomas nickte. »Das ist hervorragend.« Er sah mich an. »Sie hat’s genau verstanden.«

»Weiter«, sagte ich.

»Und zwei Tage nach deiner Mission sieht das Bild auf Whirl360 auf einmal ganz anders aus«, schloss Julie. »Da bin ich jetzt echt platt.«

»Ich auch«, sagte ich. »Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich habe dieser Frau in der Nebenwohnung nichts von dem Bild im Netz gesagt. Thomas, hast du dem Vermieter erzählt, was du am Fenster gesehen hast, online meine ich?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Na dann, wo ist da die Verbindung?«, fragte ich.

Julie überlegte.

»Du hast ihr nicht gesagt, warum du da bist? Hast du’s dem Typ gesagt, mit dem du essen warst? Deinem Agenten?«

»Nein. Kein Wort habe ich gesagt.«

»Und dir ist auch niemand gefolgt?«

Ich sah sie an und verdrehte die Augen. »Also echt.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Ist ja gut, ist vielleicht ein bisschen weit hergeholt. Aber denk noch mal zurück. Du kommst zu diesem Haus in der Orchard Street.«

Ich seufzte. »Nach der Besprechung bin ich mit einem Taxi in die Orchard Street gefahren und ein bisschen zu früh ausgestiegen. Ein paar Querstraßen zu weit im Norden. Ich gehe also langsam die Straße runter, den Ausdruck in der Hand, und vergleiche die Anordnung der Fenster und die Ziegel und alles, bis ich sicher bin, dass ich vor dem richtigen Haus stehe. Da war dieser Kasten von der Klimaanlage am Fenster, der sah genau gleich aus, und auch sonst passte alles.«

»Wie bist du hineingekommen?«

»Ein Typ kam raus, und ich bin reingeschlüpft. Ich bin nach oben gegangen, hab geklopft, keine Antwort. Mehr war da nicht.«

Julie überlegte. »Was hättest du eigentlich gesagt, wenn jemand geöffnet hätte?«

»Ich habe in Gedanken verschiedene Varianten durchgespielt und mich schließlich für die einfachste entschieden. Dass wir dieses Bild in Whirl360 entdeckt haben und unbedingt wissen wollten, was das ist.«

Thomas schüttelte missbilligend den Kopf.

»Dann hattest du also den Zettel die ganze Zeit in der Hand«, sagte Julie.

»Ja, wahrscheinlich schon.«

»Dann hat ihn also der Typ gesehen, der aus dem Haus kam, die Nachbarin, und auch sonst jeder, an dem du vorbeigegangen bist.«

»Nein … ich glaube nicht … Mist. Ich hab ihn irgendwann rausgeholt, und ich weiß, dass ich ihn wieder eingesteckt habe, aber wann, weiß ich nicht.«

»Also kann die Nachbarin ihn gesehen haben«, sagte Julie. »Oder irgendjemand anderes, den du nicht mal bemerkt hast.«

»Vielleicht gab’s im Flur eine Kamera«, sagte Thomas. »Hast du gar nicht daran gedacht?«

Ich sah ihn böse an. »Nein, daran habe ich nicht gedacht. Warum zum Teufel sollte ich an so was denken?« Aber ausgeschlossen war es nicht. Ich beruhigte mich wieder und sagte: »Na gut, sagen wir, irgendjemand hat irgendwie den Zettel gesehen, den ich in der Hand hatte. Was hat das damit zu tun, dass das Foto jetzt aus dem Netz verschwunden ist? Das ist ein ziemlicher Sprung.«

»Behaupten wir doch der Einfachheit halber, was Thomas da am Fenster gesehen hat, war … etwas. Etwas, das jemand –«

»Wer, zum Beispiel?«

»Jetzt sei doch mal ein bisschen kooperativ, ja? Sagen wir, es gibt da jemanden, der alles andere als erfreut ist, als er entdeckt, dass das Ding da am Fenster im Internet zu sehen ist. Er muss es also so schnell wie möglich verschwinden lassen. Überleg dir das mal. All die heimlichen Schnappschüsse, die diese Whirl360-Autos gemacht haben. Von Männern, die ihre Frauen betrügen, Frauen, die ihre Männer betrügen.«

»Aber die Gesichter werden doch verpixelt«, warf ich ein.

»Schon, aber nehmen wir mal an, nur so zum Spaß, du bist aus Hartford und willst sehen, ob dein Haus in Whirl360 ist. Du findest es, und da steht ein Wagen in der Einfahrt, den du kennst. Zum Beispiel der Lincoln deines Golfpartners. Nur war der noch nie bei dir zu Hause. Aber deine Frau ist tagsüber zu Hause. Oder drehen wir’s um. Du bist der Typ mit dem Lincoln, und du stellst fest, dass da dieses Foto ist. Noch vor deinem Freund. Was machst du?«

»Ich sehe, worauf du hinauswillst.«

Jetzt schaltete sich auch Thomas wieder ein. »Das ist wie mit dem Wagen, den ich in Boston gesehen habe. Der dem anderen reingefahren ist.« Zu Julie sagte er: »Ray wollte da nichts unternehmen.«

»Es gibt so viel Scheiß online, da würdest du ausflippen, wenn du das alles wüsstest«, sagte Julie. »Und vielleicht hast du ja jemanden aufgescheucht, als du mit dem Ausdruck rumgewedelt hast.«

»Vielleicht«, räumte ich ein. »Nehmen wir also an, du hast recht, und mein Besuch und die Manipulation an dem Bild hängen zusammen. Wie in aller Welt schaffst du’s, online etwas zu verändern?«

»Du würdest dich reinhacken«, sagte Thomas.

Julie nickte. »Klingt logisch. Wie sonst?«

»Wahrscheinlich«, sagte ich.

»Es wäre einen Versuch wert, bei Whirl360 anzurufen und zu fragen, ob in letzter Zeit jemand versucht hat, in ihr System einzudringen«, sagte Julie. »Ihre Firewall zu durchbrechen, oder wie immer sie das nennen.«

»Wo würdest du da anfangen?«, fragte ich. »Wen würdest du anrufen?«

Julie lächelte. »Du kannst vielleicht zeichnen, aber wie man Antworten bekommt, davon hast du keine Ahnung. Darum kümmere ich mich.«

Julie war ganz sicher schlau genug, anderen Antworten zu entlocken. Weniger sicher war ich mir, ob wir die dann auch weiterverfolgen sollten. Mussten wir uns da wirklich einmischen? Könnte das Rumschnüffeln zum Bumerang werden und neuen Ärger für Thomas heraufbeschwören? Das FBI hatte uns schon mit seinem Besuch beehrt. Wollten wir auch noch den Sicherheitsdienst von Whirl360 im Haus haben?

Doch ich behielt diese Bedenken für mich, zumindest vorläufig, denn ich hatte viel dringlichere Fragen. »Thomas, erzähl doch noch mal, was der Vermieter gesagt hat, als du mit ihm telefoniert hast. Über die Frauen, die früher da gewohnt haben.«

»Er hat gesagt, die Wohnung steht seit letztem Sommer leer. Ich glaube nicht, dass das zwei Schwestern oder sonstige Verwandte waren. Sie hatten verschiedene Namen.«

»Wie waren die gleich wieder?«

»Courtney und Olsen.«

»Waren das die Vornamen?«

»Ich glaub schon. Ich hab ihn kaum verstanden, wegen seines Akzents. Das hab ich dir doch erzählt.«

»Olsen klingt nicht wie ein Frauenname«, sagte Julie. »Hat er dir ihre vollen Namen gesagt?«

Thomas drehte sich zu seinem Schreibtisch um. »Ich hab sie mir aufgeschrieben«, sagte er. »Courtney Walmers und Olsen Fitch.«

»Sekunde«, sagte ich. Irgendwas an dem Namen kam mir bekannt vor. »Olsen Fitch?« War ich nicht erst kürzlich über diesen Namen gestolpert. »Thomas, lass mich mal an den Computer.« Er überließ mir tatsächlich seinen Stuhl. Ich öffnete in einem neuen Fenster den Browser und startete die gleiche Suche nach Zeitungsberichten über die Orchard Street in New York wie schon auf Dads Laptop.

»Wartet mal … wartet mal«, sagte ich. »Da haben wir’s schon. Ich wusste, der Name kam mir bekannt vor. Thomas, wäre es möglich, dass der Vermieter ›Allison Fitch‹ gesagt hat und nicht ›Olsen Fitch‹?«

Thomas überlegte. »Kann schon sein.«

»Also, hier ist was über eine Mitteilung der Polizei, dass eine Allison Fitch vermisst wird. Sie wohnte in der Orchard Street und arbeitete in irgendeiner Bar und ist nicht zur Arbeit erschienen. Es gibt nur diese eine Meldung, danach nichts mehr.«

»Das ist wahrscheinlich die Person am Fenster«, sagte Thomas. Er stand dicht neben mir, wie um seinem Anspruch auf seinen Stuhl Nachdruck zu verleihen. »Es ist eine Frau. Sie wurde erstickt, und dann haben sie ihre Leiche verschwinden lassen.«

Für jemanden, der sich keine Krimis im Fernsehen ansah, war Thomas ziemlich schnell mit möglichen Szenarios zur Hand.

»Thomas«, sagte ich, »komm, setz dich wieder hier hin, und Julie und ich besprechen, wie wir weitermachen sollen.«

»Wollt ihr zurück ins Bett und dort weitermachen?«, fragte Thomas.

Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, aber Julie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Später vielleicht«, sagte sie. »Zuerst besprechen wir, wie wir hier weitermachen. Im Bett können wir weitermachen, wann wir wollen.«

Thomas klickte sich schon wieder durch irgendeine Stadt. Kam mir irgendwie europäisch vor. Thomas bemerkte meine Neugier und sagte: »Prag.«

Julie und ich gingen hinaus auf den mit Landkarten tapezierten Flur.

»Was hältst du davon?«, fragte ich sie.

Sie hob ratlos die Hände. »Frag mich was Leichteres.«

»Geht mir auch so.«

Wir gingen hinunter in die Küche. Julie machte sich auf die Suche nach Kaffee. Sie fand nur Pulverkaffee. »Das kann doch nicht alles sein.«

Es war alles. Während sie Wasser aufsetzte, sagte sie: »Und wenn du mich für verrückt erklärst, ich glaube, da steckt mehr dahinter.«

»Ja«, sagte ich widerwillig.

»Warum in aller Welt sollte jemand den Kopf vom Fenster verschwinden lassen, wenn da nicht was faul wäre?«

»Seh ich auch so.«

»Und was wirst du tun?«

»Tun?«

»Ich weiß, du hast gesagt, du wolltest nicht wirklich die Polizei in New York anrufen, als Thomas dich darum gebeten hat. Aber jetzt? Wirst du anrufen?«

»Keiner der Gründe, die mich davon abhielten, hat sich geändert«, sagte ich.

Julie sah mich erstaunt an. »Wie bitte? Dieses manipulierte Foto ändert doch einiges, meinst du nicht?«

Ich erinnerte sie an das FBI. »Die haben Thomas schon auf dem Radar wegen seiner E-Mails an die CIA und Bill Clinton. Angenommen, wir verständigen die Polizei in New York, oder auch nur die hier in Promise Falls. Damit lösen wir garantiert irgendeinen Alarm aus, und das FBI bekommt Wind von der Sache. Und wenn die alle von den Aktivitäten meines Bruders in Kenntnis setzen, wie zum Beispiel seine laufenden Berichte an die CIA über den Stand seiner Gedächtnisübungen, was glaubst du, wie ernst die ihn nehmen werden? Insbesondere, wenn das, was er angeblich gesehen hat, auf einmal nicht mehr zu sehen ist?«

Julie ließ die Schultern hängen. »Mist. Aber es gibt doch nicht nur das, was Thomas gesehen hat. Du hast diesen ersten Ausdruck. Und eine Frau wird vermisst.«

»Oder auch nicht mehr.«

»Ja, aber das lässt sich nachprüfen, Ray. Ich verstehe ja deine Bedenken, und dass die Polizei dich wahrscheinlich nicht ernst nimmt, aber ich sage dir, ich krieg eine Gänsehaut dabei. Ich weiß jedenfalls, was ich tun werde. Ich werde morgen bei Whirl360 anrufen, mich zu dem Typen durchfragen, der dort für die Bildbearbeitung zuständig ist, und mich erkundigen, ob es einen Hackerangriff gab. Oder ob sie das Bild aus irgendwelchen Gründen selbst verändert haben.«

»Und du meinst, ich soll die Polizei anrufen?«

»Ich meine, du sollst die Polizei anrufen.«

Ich gab mich geschlagen. Ich hob die Hände und sagte: »Also gut, ich ruf die Polizei an. Welche?«

»Die in New York.«

»Ich weiß nicht mal, welches Revier da zuständig ist.« Mit Hilfe von Dads Laptop kamen wir zu dem Schluss, es müsste das siebte sein. Ich tippte die auf der Website angegebene Telefonnummer in mein Handy ein. »Also dann«, sagte ich zu Julie, während ich auf die Verbindung wartete.

Jemand hob ab. »Ja, hallo«, sagte ich. »Ich muss mit einem … ich nehme an, ich muss mit jemand von der Kriminalpolizei reden.«

»Ist das ein Notruf, Sir?«

»Nein. Ich meine, es ist wichtig, aber es ist kein Notruf.«

»Einen Moment.«

Ein paar Sekunden später hob wieder jemand ab. Eine barsche männliche Stimme sagte: »Simpkins.«

»Hallo, mein Name ist Ray Kilbride. Ich rufe aus Promise Falls an.«

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Kilbride?«

»Also, das klingt jetzt ziemlich verrückt, aber bitte lassen Sie mich ausreden. Es könnte sein, dass mein Bruder Zeuge eines Mordes wurde. Oder etwas in der Art.«

»Wie heißt Ihr Bruder?«

»Thomas Kilbride.«

»Und warum rufen Sie an und nicht er?«

»Ich glaube, es ist ihm lieber, wenn ich das mache.«

»Und warum?«

»Hören Sie, das spielt gar keine Rolle. Und er ist auch nicht der einzige Zeuge.«

»Was für Zeugen gibt es noch. Sind Sie ein Zeuge, Mr. Kilbride?«

»Sozusagen. Es könnte sogar jede Menge Zeugen geben, wissen Sie. Es gibt einen Hinweis auf diesen Mord im Internet. Es gab zumindest einen.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Verstehe. Wer wurde ermordet, Mr. Kilbride?«

»Also, ich bin nicht sicher, dass jemand ermordet wurde, aber es sieht so aus, als ob jemand an einem Fenster ermordet würde. Und es könnte eine Frau namens Allison Fitch sein.«

»Haben Sie das vielleicht auf YouTube gesehen, Sir?« Der Ton des Kriminalpolizisten wurde langsam skeptisch.

»Nein, auf Whirl360. Da kann man –«

»Ich weiß, was das ist. Sie wollen mir also sagen, dass Ihr Bruder auf dieser Website einen Mord gesehen hat?«

»Genau. Hören Sie, zuerst dachte ich, er bildet sich das ein, aber –«

»Warum dachten Sie, er bildet sich das ein, Sir?«

»Weil mein Bruder in psychiatrischer Behandlung ist –«

Klick.

Ich sah Julie an.

»Du brauchst mir nichts zu sagen«, sagte sie. »Ich hätte auch aufgelegt. Hättest du dich vielleicht noch ein bisschen trotteliger anstellen können?«

»Ich hab dir doch gesagt, das ist keine gute Idee.«

Julie warf die Hände in die Luft. »Ja, gut, du hattest recht, ich hatte unrecht. Du möchtest dich da raushalten, du möchtest vor allem Thomas da raushalten, wahrscheinlich ist das auch vernünftig. Du bist persönlich in diese Sache nicht verwickelt. Und selbst wenn dich jemand mit diesem Ausdruck in der Hand gesehen hätte, wüsste er nicht, wer du bist.«

»Genau. Ich habe niemandem gesagt, wie ich heiße.«

»Siehst du«, sagte Julie. »Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen.«