Dreiundsechzig
Als ich diese Worte ausgesprochen hatte, war es, als wäre mit einem Schlag aller Sauerstoff aus dem Zimmer entwichen. Etwas ging vor mit Howard, Lewis und Nicole, es war beinahe mit Händen zu greifen. Es verschlug ihnen den Atem, und sie wussten nicht, was sie dagegen tun sollten.
Und der Mann, den sie Morris nannten, der stand da wie vom Blitz getroffen. Erstarrt und elektrisiert gleichzeitig. Wie vor den Kopf geschlagen von dem, was ich gesagt hatte, und vor Entsetzen unfähig zu irgendeiner Reaktion. Seine Miene drückte nichts als Fassungslosigkeit aus. Dennoch spürte ich, wie etwas bei ihm in Gang kam, die Bedeutung meiner Worte zu ihm durchdrang. Seine Blicke hetzten mit Tempo hundertfünfzig durch den Raum.
Es war, als hätte die Stimmung plötzlich umgeschlagen. Alles war anders als noch vor fünf Minuten. Das herrschende Gleichgewicht hatte sich verschoben. Ob zu Thomas’ und meinen Gunsten, das wusste ich nicht. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, wie sich unsere Lage noch hätte verschlimmern können.
Und auf einmal wurde mir klar, wer dieser Morris war.
Sein Gesicht war mir schon bei seinem Eintreten bekannt vorgekommen, allerdings hatte ich nicht gewusst, wo ich es hintun sollte. Hätte ich es in den Nachrichten gesehen, hätte ich keine Sekunde überlegen müssen. Doch hier, in einem Raum mit drei ausgemachten Schurken, konnte ich ihn nicht unterbringen. So, als bekäme man jeden Morgen von derselben Person im Schnellcafé seinen Pappbecher in die Hand gedrückt, und plötzlich läuft einem diese Person beim Einkaufsbummel über den Weg. Man weiß, man kennt sie, nur nicht, woher.
Ich brauchte also ungefähr eine Minute, bis ich begriff, dass dies der Justizminister des Staates New York war.
Morris Sawchuck.
Ich hatte Artikel über ihn gelesen. Ihn im Fernsehen gesehen. In den letzten Monaten war es allerdings ziemlich still um ihn geworden …
Inmitten des Durcheinanders hier im Hinterzimmer überschlugen sich meine Gedanken. Warum war er früher so häufig in den Nachrichten gewesen? Warum hatte ich sein Foto so oft gesehen? Und war er auf all diesen Fotos nicht meistens mit dieser wunderschönen –
Oh, verdammt.
Erst da machte es klick!
Bridget.
Jetzt fielen mir die Geschichten wieder ein. Der plötzliche, rätselhafte Tod von Bridget Sawchuck, der Frau des Justizministers von New York. Man musste zwischen den Zeilen lesen, um zu begreifen, was passiert war. Sie hatte sich das Leben genommen.
Allerdings hatte Lewis gesagt, der Inhaber dieses Ladens sei jemand, der ihm beim Transport von Bridgets Leiche geholfen hatte.
O Gott, Thomas, was hast du uns da eingebrockt?
Das Schweigen, das sich nach meiner Bemerkung ausbreitete, fühlte sich an, als dauerte es Minuten, wenn nicht sogar Stunden. Doch wahrscheinlich waren es nicht mehr als vier, fünf Sekunden.
Morris fand als Erster die Sprache wieder. Er wandte sich an mich.
»Was haben Sie gesagt?«
»Die Frau, die ermordet wurde … Es könnte Bridget gewesen sein.« Jetzt wurde mir die Bedeutung meiner Worte erst bewusst. Ich sprach über die Frau dieses Mannes. Unklar war mir noch, ob Morris so entsetzt dreinsah, weil er es nicht gewusst hatte oder weil ich es wusste. Immerhin war es möglich, dass er seine Frau hatte umbringen lassen.
Das alles würde sich jetzt klären. Oder wenigstens klarer werden.
Mit einer Ruhe, die furchterregend war, fragte Morris Howard: »Wovon redet er?«
»Was weiß denn ich?« Howard redete viel zu schnell. »Das ist ein Verrückter. Genauso wie sein Bruder. Zwei Irre sind das, die rumlaufen und Geschichten erzählen, die dir schaden könnten.«
»Nein«, sagte ich. »Mein Bruder hat herausgefunden, was Sie getan haben. Sie haben uns hierhergebracht, um uns umzubringen und –«
»Halten Sie Ihr verdammtes Maul«, befahl Lewis.
»Nein, er soll reden«, sagte Morris. »Ich möchte gerne hören, was dieser Irre zu sagen hat.«
»Thomas war im Internet unterwegs«, sagte ich. »Auf Whirl360. Er sah, wie jemand am Fenster einer Wohnung in der Orchard Street ermordet wurde. Ich glaube, es war Ihre Frau. Sie hieß Bridget, oder?«
Er nickte langsam. Sein Gesicht rötete sich.
»Wirklich, Morris, du darfst dir nicht –«
»Howard«, fiel Lewis ihm ins Wort. »Es reicht.«
»Was? Lewis, lass mich –«
»Nein, wir müssen ihm reinen Wein einschenken«, sagte Lewis. »Entweder kommt er zu uns ins Boot, oder wir müssen auch ihn aus dem Weg räumen.«
»Was?« Jetzt ging Morris auf Lewis los. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
»Ich bin einer, der überlebt«, sagte Lewis. »Genau wie Howard. Genau wie Sie. Es gibt nur eine Möglichkeit, das hier zu überleben, und das ist, an einem Strang zu ziehen.«
»Was war mit Bridget?«, fragte Morris in Befehlston. »Ich will die Wahrheit wissen.«
Wieder herrschte sekundenlang Totenstille. Dann sagte Howard: »Das war ein Unfall. Ein furchtbares Missverständnis.«
»Lieber Gott«, sagte Morris. »Du hast doch nicht –«
»Da war eine Frau«, fuhr Howard fort, »Allison Fitch. Sie hat Bridget erpresst. Sie wollte ihr schaden, dich ruinieren. Wir – ich hatte Angst, sie weiß vielleicht etwas, das dir irreparablen Schaden hätte zufügen können.«
»Howard.«
»Dich politisch unmöglich gemacht hätte. Zuerst wollte ich ihr ja geben, was sie verlangt hat, wirklich. Aber dann wurde mir klar, dass unser Problem damit nicht gelöst wäre. Lewis und ich haben darüber gesprochen, und wir waren uns einig, dass wir diese Fitch zum Schweigen bringen müssen … dauerhaft.«
»Ich fasse es nicht«, sagte Morris. Er starrte Howard an.
»Aber als es so weit war, kam etwas dazwischen, das niemand hätte vorhersagen können. Sie war nicht da. Die Fitch war nicht in ihrer Wohnung.« Er hielt inne, schluckte. »Stattdessen war Bridget da. Sie wurde mit der Fitch verwechselt.«
»Aber … aber wir haben sie doch gefunden. In ihrer alten Wohnung«, sagte Morris. »Du und ich, wir haben sie doch zusammen da gefunden.«
»Sie … wurde dahingebracht.«
»Du hast doch mit ihr gesprochen!«, rief Morris. »Du hast mit ihr telefoniert! Sie hat gesagt, ich sauge ihr das Mark aus den Knochen! Sie wollte sich umbringen!«
Howard konnte ihn nicht ansehen. »Ich … Es gab keinen Anruf. Ich habe ihn fingiert.«
Morris packte Howard bei den Aufschlägen seines Mantels und stieß ihn gegen eines der Regale. Der Esso-Tanker und eines der Batmobiles fielen scheppernd zu Boden. »Du dreckiges Schwein!«, schrie er und schüttelte den Mann. Er ließ einen Aufschlag los, ballte die Faust und schlug Howard mitten ins Gesicht. Der jaulte auf und fiel zu Boden. Morris stürzte sich auf ihn und wollte schon ein zweites Mal zuschlagen, da nahm ihn Lewis in den Polizeigriff und zerrte ihn weg.
»Aufhören!«, befahl Lewis. »Das könnt ihr später klären, jetzt müssen wir beschließen, was wir tun sollen.«
»Ich bring dich um«, sagte Morris und starrte auf Howard hinunter. Lewis hatte ihn nicht losgelassen. »Du dreckiges Schwein! Du Hurensohn!«
»Es war nicht mein Fehler!«, sagte Howard. »Es war nicht meine Schuld!« Er streckte die Hand aus. »Sie ist schuld.«
Jetzt richteten sich aller Augen auf Nicole.
»Sie?«, fragte Morris.
»Wie gesagt, es war ein Fehler«, sagte sie kühl.
»Sie haben Bridget umgebracht?«
»Sie haben mir gesagt, die Fitch würde da sein. Und jemand war da. Aber es war nicht die Fitch.« Nicole zuckte mit den Achseln. »Tut mir leid.«
»Wie bitte?«, sagte Morris.
»Ich sagte, tut mir leid. Was soll ich sonst sagen? Jetzt noch?«
Entgeistert sah Morris von Howard zu Lewis.
»Sie hat nicht ganz unrecht«, sagte Lewis. Er merkte, dass Morris sprachlos vor Wut war, und fuhr fort: »Howard, ich glaube, wir könnten eine Geste unseres guten Willens Morris gegenüber zeigen. Als eine Art Neuanfang.«
»Wovon redest du?«, fragte Howard.
»Wir können Bridget nicht zurückholen, aber wir können versuchen, das eine oder andere wieder in Ordnung zu bringen«, sagte Lewis und zog seine Pistole aus seiner Jacke.
Er wirbelte herum, zielte auf Nicole und drückte ab. Ich hatte mit einem lauteren Knall gerechnet, doch die Waffe hatte einen dieser Schalldämpfer am Laufende.
Den richtigen Lärm machte Nicole, als sie gegen ein Regal flog, mit dem Kopf anschlug und mit dem Gesicht voran zu Boden fiel. Hinter ihr donnerte eine Spielzeuglawine zu Boden. Ein Super Ball hüpfte in großen Sprüngen durch den Raum.
»Die war sowieso fällig«, sagte Lewis.