Zweiundfünfzig

Es war nicht das FBI.

Vor der Tür stand Marie Prentice, gebeugt vom Gewicht der dunkelblauen Tasche mit dem breiten Riemen, die sie in der Hand hielt. Sie hatte die Größe eines Picknickkorbes und sah aus wie eine Isoliertasche. Ich fragte mich, ob Marie allein gekommen war oder ob Len im Wagen auf sie wartete. Doch ein Blick auf den Wagen, der neben meinem parkte, verriet mir, dass nur sie hergekommen war.

»Wenn ihr Jungs nicht zum Essen kommt«, sagte Marie, »muss das Essen eben zu euch kommen. Nicht zu fassen, dass ich so lange gebraucht habe, aber manchmal fehlt mir einfach jede Energie.« Wärme und das Aroma von Gewürzen und Käse schlugen mir entgegen.

»Marie«, sagte ich. »Das hätten Sie wirklich nicht tun sollen.«

»Hat gar keine Umstände gemacht.«

»Lassen Sie mich Ihnen die abnehmen, die sieht schwer aus.« Ich ergriff den Riemen und löste die Tasche aus Maries Hand. »Das riecht ja wunderbar. Kommen Sie rein.«

Ich mochte zwar ihren Mann nicht besonders, aber gegen Marie hatte ich nichts, und ich wollte sie nicht beleidigen. Außerdem hatte ich Hunger.

»Ich wollte gerade eine Pizza bestellen«, sagte ich zu ihr.

»Ach, das ist doch nichts Gescheites.«

Ich stellte die Tasche auf den Tisch und öffnete den Reißverschluss. »Was ist es denn, Marie?«

»Mein eigenes Rezept.« Sie klang ein wenig außer Atem. »Na ja, nicht ganz. Ich meine, eigentlich stammt es aus einer Kochshow. Und statt Thunfischsteaks habe ich Thunfisch aus der Dose genommen, das ist nämlich der einzige, den Len isst, und die haben da dann noch alles Mögliche dazugetan wie Linsen und Wasabipulver. Ich habe Erbsen und Nudeln untergemischt. Also wenn man’s genau nimmt, dann haben die beiden Rezepte wahrscheinlich außer dem Thunfisch nicht viel gemeinsam.«

»Sieht köstlich aus«, sagte ich. »Die Form ist noch heiß. Kommt das frisch aus dem Ofen?«

»Ja. Wo ist denn Thomas? Oben?«

»Genau«, sagte ich, machte aber keine Anstalten, ihn zu holen. Ich hatte Bedenken, dass ihn Maries Besuch nach seinem Zusammenstoß mit Len aufregen könnte.

»Meinst du, er will vielleicht runterkommen und probieren?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich ihn im Moment gern in Ruhe lassen«, sagte ich. »Aber ich werde ihm natürlich sagen, dass wir das Essen Ihnen verdanken.«

»In der Tasche sind auch noch ein paar Brötchen«, sagte sie und klang auf einmal nicht mehr ganz so fröhlich. »Weißt du, ich bin auch deshalb gekommen, um mich bei ihm zu entschuldigen. Und bei dir. Dafür, wie Len sich letztens benommen hat.«

»Len und ich haben das schon geklärt«, sagte ich. »Schwamm drüber.«

»Ich habe euch im Keller gehört, und er hätte wirklich nicht so über deinen Bruder reden dürfen. Auch wenn Thomas ein bisschen anders ist, so etwas hätte Len nicht zu dir sagen dürfen.«

»Und Thomas hätte ihn nicht schlagen dürfen«, erwiderte ich. »So hat jeder sein Fett wegbekommen.«

»Len hat es nur gut gemeint«, fuhr Marie fort. »Es ist eigentlich meine Idee gewesen. Ich hatte vorgeschlagen, dass er Thomas mal loseist, mit ihm irgendwohin zum Mittagessen geht oder ihn zu uns nach Hause mitbringt. Eigentlich wollte er ja euch beide besuchen, aber du warst unterwegs.«

»Genau.«

»Wo warst du denn? In New York?«

»Ja, Marie.«

»Len versteht einfach nicht, warum Thomas so ist, wie er ist. Das musst du ihm nachsehen. Len denkt halt, man muss sich nur zusammenreißen, weißt du? Ich glaube nicht, dass er versteht, dass manche Menschen anders sind. Und dass sie nicht anders können. Er denkt, wenn er etwas kann, dann müssen alle anderen das auch können. Manchmal ist er auch mit mir so. Er sagt: ›Jetzt sei doch nicht immer so müde. Das ist doch nur eine Kopfsache. Fahr mit mir weg.‹ Aber es ist keine Kopfsache. Es ist eine Krankheit. Du kannst auf der Website der Mayo Clinic nachlesen. Darf ich mich setzen? Ich werde so schnell müde beim Stehen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich und zog einen der Küchenstühle unter dem Tisch heraus. Sie setzte sich und ließ die Arme zu beiden Seiten herabhängen.

»Es geht gleich wieder. Daheim in meiner Küche habe ich einen Stuhl gleich neben dem Herd, da kann ich mich jederzeit hinsetzen und dabei noch umrühren.«

»Ich stelle das in den Ofen, damit es warm bleibt«, sagte ich und schob die Form auf der mittleren Schiene in die Backröhre.

»Er versteht nicht, dass ich nicht alles tun kann, was er will«, sagte Marie. Dann ging ihr auf, dass ihre Bemerkung verschiedene Interpretationen offenließ, und sie wurde rot. »Ich meine, du weißt schon, Reisen und so. Er reist furchtbar gern, aber ich eben nicht. Und ich sage ihm auch immer, wenn du wegfahren willst, dann mach das und amüsier dich gut. Beim ersten Mal dachte ich noch, er tut es eh nicht, aber er hat jemanden gefunden, der mit ihm fuhr, und weg war er. Und es hat ihm so gefallen. Da konnte ich doch nicht nein sagen, als er wieder loswollte.«

»Tja«, sagte ich. Mehr fiel mir dazu nicht ein.

»Und ich glaube auch keine Sekunde, was Len über Thomas gesagt hat.«

»Und was wäre das, Marie?«

»Er kann uns doch nicht hören, oder?«, fragte sie besorgt.

»Nein.«

»Len hat gesagt, dass die Polizei Thomas ganz genau unter die Lupe nehmen würde, sollte es mal eine Untersuchung geben, wie dein Vater umgekommen ist.«

»Warum das denn, Marie?«

»Len sagt, dass es zwar ziemlich riskant war, was dein Vater da beim Rasenmähen auf dem Steilstück machte. Aber er wusste genau, was er tat. Wenn aber die Polizei mal auf die Idee kommen sollte, dass vielleicht jemand bei ihm draußen war, der ihn mit diesem Traktor umgestoßen hat, dann bräuchten sie nicht lange zu suchen. Ich wiederhole nur, was Len sagt. Ich dachte, vielleicht hat er zu dir dasselbe gesagt, bevor ich die Kellertür aufmachte, und ich wollte dir sagen, dass es mir sehr leidtäte, wenn er das getan hat. Ich glaube nämlich nicht, dass Thomas so was tun würde. Im Grunde ist er ein guter Junge. Wie hoch du hast den Ofen eingestellt? Lass ihn nicht zu heiß werden, maximal hundert Grad. Und zehn Minuten reichen.«

Ich folgte ihren Anweisungen.

Ich hatte gedacht, ich hätte das endlich abgehakt, die Sache mit dem abgestellten Motor und dem hochgeklappten Mähwerk. Julies Interpretation hatte sehr plausibel geklungen. Doch jetzt kamen mir wieder Zweifel, ob beim Tod meines Vaters vielleicht doch jemand die Finger im Spiel gehabt hatte.

Von Len hatte ich allerdings keine hohe Meinung, und dass er und ich ausgerechnet bei dieser Angelegenheit auf einer Wellenlänge sein sollten, ließ mich meine Zweifel fast wieder vergessen. Wieso war er überhaupt auf so eine Idee gekommen? Meine Phantasie war ja erst mit mir durchgegangen, nachdem ich den Traktor inspiziert hatte. Soweit ich wusste, hatte Len den Traktor aber gar nicht gesehen, solange er noch unten am Bach stand.

Stützte sich seine Meinung auf das, was mein Vater ihm erzählt hatte? Wenn ja, dann war es aber ein weiter Sprung von einem unbedachten Schubs auf der Treppe hin zu einem gezielten Stoß, um jemanden mit dem Traktor umzuwerfen. Insbesondere, wenn dieser Jemand der eigene Vater war.

Oder führte Len etwas ganz anderes im Schilde? Glaubte er, was er sagte, oder wollte er Thomas nur Ärger machen? Aber warum sollte er? Wollte er Marie irgendwelche Flausen in den Kopf setzen? Wenn ja, warum?

»Len war leider immer schon schnell mit seinem Urteil über andere zur Hand«, fuhr Marie fort. »So ist er halt. Du solltest mal hören, wie er über die Leute in Thailand redet. Sie sind ja ganz nett, aber sie fahren nicht Auto wie Amerikaner, ihre Bauvorschriften sind nicht wie unsere, und die politische Stabilität lässt auch manchmal zu wünschen übrig. Er sagt, die sollen doch endlich mit dem kleinlichen Hickhack aufhören und das Land ordentlich regieren. Und für Monarchien hatte Len auch noch nie viel übrig. Es will ihm nicht einleuchten, dass jemand ein Land regieren darf, nur weil er in die richtige Familie hineingeboren wurde. Aber es hält ihn nicht davon ab, wieder hinzufliegen, auch ohne mich.«

Thailand.

Schon seit Jahren hatte ich immer wieder Freunde schwärmen hören, wie herrlich es dort sei. Eines der schönsten Länder überhaupt. Tolles Klima, üppige Vegetation, spektakuläres Nachtleben, jahrhundertealte Kultur, phantastisches Essen. Aber jeder Reiseort hat auch seine Probleme. Paris hat seine Taschendiebe und unvorhersehbaren Streiks. London ist teuer und immer wieder das Ziel von Terroranschlägen. Vor ein paar Jahren hatte es da doch diese Bomben in Bussen und in der U-Bahn gegeben. Moskau dito. Mexiko hat seine Drogenkriege. In einigen der schönsten Städte Amerikas tobten brutale Bandenkriege.

Was hatte ich noch mal über Thailand gehört? Klar, die politischen Unruhen, die Marie gerade erwähnt hatte. Aber da war noch etwas.

Prostitution. Kinderprostitution.

Ich fragte mich, ob Maries Energielosigkeit der wahre Grund war, dass Len solche Reisen ohne sie unternahm.