Zweiunddreißig
Ehe ich ein weiteres Wort an Thomas oder Julie richtete, rief ich von meinem Handy aus noch einmal die Polizei an, um zu sagen, dass mein Bruder wohlbehalten zurückgekehrt war. Dann wandte ich mich an Julie. »Was war denn los?«
»Du hast gesagt, ich soll mal reinschauen. Ich habe reingeschaut. Du warst unterwegs. Thomas war zu Hause. Er überlegte gerade, was er sich zum Abendbrot machen sollte, da habe ich ihn gefragt, ob er essen gehen will, und er hat ja gesagt. Bietest du mir jetzt was zu trinken an oder muss ich nüchtern heimfahren?«
»Was hast du rausgefunden?«, rief Thomas. Er war wieder aus dem Haus gekommen und stand mit dem Tablet in der Hand auf der Veranda.
»Jetzt wart mal einen Moment«, sagte ich zu ihm. »Ich komm ja gleich.« Und zu Julie: »Wo hat er dieses Ding her?«
»Ich hab’s ihm geliehen. Ich hab ihm gezeigt, wie man damit Landkarten ansehen kann, wo immer man will. Dass man dafür nicht die ganze Zeit am Schreibtisch sitzen muss.«
»Ich möchte auch so eins, Ray«, sagte Thomas. »Kannst du mir eins besorgen?«
»Thomas«, sagte ich, und langsam wurde ich ärgerlich, »ich komme gleich rein.«
Thomas ging ins Haus zurück.
»Er hat recht«, sagte Julie.
»Womit?«
»Wie du mit ihm redest«, sagte Julie. »Er hat gesagt, du bist fies zu ihm.«
»Ich bin doch nicht – hat er das echt gesagt?«
Julie nickte und sagte ohne Umschweife: »Ja, das hat er mir gesagt.«
»Ich bin nicht fies zu ihm. Ich gebe mein Bestes.«
Sie lächelte. »Ganz bestimmt.«
»Du machst dich lustig über mich.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Kann sein. Hör mal, ich glaub, ich mach mich jetzt auf –«
»Nein, komm rein«, sagte ich. »Dann kannst du mir verklickern, was für ein grässlicher Bruder ich bin.«
»Wie viel Zeit hast du?«
Wir stiegen die Verandastufen hinauf. »Ich wundere mich, dass du ihn rauslocken konntest. Er geht nicht gerne aus dem Haus.«
»Das Tablet hat da sehr geholfen. Und die Aussicht auf Kentucky Fried Chicken.«
»Dann wundert mich nichts mehr.«
Als wir das Wohnzimmer betraten, konnte man Thomas oben schon klicken hören. »Komm rauf!«
»Ich muss zu ihm«, sagte ich.
»Kommst du mit?« Sie nickte. »Du solltest dich aber auf einiges gefasst machen.«
»Thomas hat’s mir schon gezeigt«, sagte Julie. »Kein Ding. Mein Bruder hatte überall nackte Frauen an den Wänden. Da sind mir Landkarten schon lieber.«
Ich warf ihr einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Wenn du meinst.«
»Und?«, fragte Thomas, als wir sein Zimmer betraten. Den Blick auf den mittleren Bildschirm gerichtet, war er schon wieder in irgendeiner Weltmetropole unterwegs.
»Wenn du etwas erfahren willst, dann musst du mich schon ansehen«, sagte ich.
»Das ist genau, was er gesagt hat«, flüsterte Julie mir zu. »Du redest mit ihm wie mit einem Kind.«
Ich sah sie an. Im gleichen Augenblick nahm Thomas die Hand von der Maus und machte eine Vierteldrehung mit seinem Computerstuhl. »Also, wie war’s?«
Ich räusperte mich. »Gut, ich war also in der Orchard Street und hab das Haus gefunden. Da.« Ich holte mein Handy heraus, aktivierte die Kamerafunktion und reichte es ihm. »Da hast du ein Foto.«
Thomas betrachtete das winzige Bild und verglich es mit einem Ausdruck ähnlich dem, den er mir mitgegeben hatte.
Er nickte. »Das ist das Fenster. Die Ziegelmuster stimmen alle überein.«
»Und wie du sehen kannst«, fuhr ich fort, »ist an dem Fenster kein Kopf zu sehen.«
»Du sagst das so, als würde das irgendwas beweisen«, sagte Thomas.
»Das war ein Hinweis, kein Beweis.«
»Wenn jemand vor einem halben Jahr einen Autounfall unten an unserer Zufahrt gehabt hätte und du das fotografiert hättest, und wenn du die Stelle heute noch mal fotografieren würdest, dann wäre das auch kein Beweis, dass der Unfall sich nicht ereignet hat.«
»Wo er recht hat, hat er recht«, sagte Julie.
Ich ignorierte ihre Bemerkung. »Ich weiß, Thomas, ich berichte dir nur, was ich gesehen habe.«
»Was hast du sonst noch getan?«
»Ich bin zur Wohnung hinaufgegangen«, sagte ich, »und hab geklopft.«
Thomas sah mich aufmerksam an. »Und dann?«
»Nichts. Da war keiner. Die Wohnung steht leer.«
»Leer.«
»Anscheinend. Hat mir jedenfalls eine Nachbarin gesagt. Da wohnt schon seit Monaten niemand mehr.«
»Hast du sie gefragt, ob in der Wohnung jemand umgebracht wurde?«
»Nein, ich habe sie nicht gefragt, ob in der Wohnung jemand umgebracht wurde. Ich würde meinen, das wäre etwas, das sie mir auch so gesagt hätte.«
»Nicht, wenn sie’s war.«
»Also, wie eine Mörderin hat sie mir wirklich nicht ausgesehen. Sie hat gesagt, die zwei Mädchen sind schon seit langem ausgezogen.«
»Und seither steht die Wohnung leer?«, fragte Thomas.
Ich zuckte die Achseln. »Nehm ich mal an.«
»Ist das nicht irgendwie komisch?«
»Wieso komisch?«
»Ich habe gehört, dass Wohnungen in New York City Mangelware sind«, sagte er. »Warum sollte jemand eine Wohnung so lange leer stehen lassen?«
»Das weiß ich nicht, Thomas.«
»Was hat denn der Vermieter gesagt?«
»Was?«
Thomas hielt mein Handy noch immer in der Hand. Er war mit dem Daumen über das Display gefahren, um das nächste Foto zu sehen. »Was ist das?«
»Ah, das ist ein Verzeichnis der Hausbewohner unten im Hausflur.«
»Und das? Ist das die Telefonnummer des Vermieters?«
»Ja.«
»Du hast also mit ihm gesprochen?«
»Nein, ich habe nicht mit ihm gesprochen.«
»Wieso hast du nicht mit dem Vermieter gesprochen? Der wüsste doch bestimmt, ob in einer seiner Wohnungen jemand ermordet wurde.«
»Hör mal, Thomas, ich habe Fotos für dich gemacht, ich habe an die Wohnungstür geklopft, und niemand war da, ich weiß nicht, was ich sonst noch hätte tun können.«
Julie schnaubte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Wie wär’s, wenn du den Hausmeister gefragt hättest? Oder einen von den anderen Nachbarn?«
»Und was genau geht dich das an?«
Sie lächelte. »Du warst schon vor Ort. In der Stadt, im Haus. Da hättest du auch noch bei ein paar anderen Nachbarn klopfen können. Dann hätte der Ausflug sich wirklich gelohnt.«
Ich funkelte sie an.
»Ja«, stimmte Thomas ihr zu und sah mich missbilligend an. »Wozu bist du überhaupt hingegangen? Ich hätte gestern Abend selber gehen sollen.«
»Ja klar, und in einer Woche wärst du dann vielleicht auch dort angekommen«, sagte ich.
»Aber ich hätte dann wenigstens was rausgefunden. Das ist genau wie damals, als jemand an einem Fenster stand und Hilfe brauchte.«
»Was?«
»Das war keine Ermittlung. Auf jeden Fall nicht nach CIA-Kriterien. Ich will mir gar nicht ausmalen, was die dazu sagen würden.«
»Genau«, sagte Julie.
»Also gut«, sagte ich und hob die Hände zum Eingeständnis meiner Niederlage. »Nächstes Mal spielst du Archie Goodwin, gehst aus dem Haus, steigst in den Zug, fährst nach New York, marschierst rum und sammelst Beweise. Und ich bin Nero Wolfe, bleibe zu Hause und kümmere mich inzwischen um meine Orchideen.«
»Archie? Orchideen?«
»Thomas, ich habe getan, was ich konnte. Ehrlich. Online ist nichts darüber zu finden, dass in dieser Wohnung jemand ermordet wurde. Nichts in den Nachrichten. Was du auch gesehen hast, es ist eindeutig nichts von Bedeutung. Am besten, du lässt es jetzt gut sein.« Ich zog den Ausdruck aus der Tasche, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Thomas verfolgte den Flug der Papierkugel mit seinem Blick, dann sah er wieder mich an.
»Das hättest du dir jetzt sparen können«, bemerkte Julie.
Ich sah sie an und seufzte. Vielleicht hatte sie ja recht, aber der Tag war lang gewesen, und ich war fix und fertig.
Ich rechnete damit, dass Thomas Julie zustimmen würde, doch was er tatsächlich sagte, erwischte mich eiskalt.
»Ich kann Mr. Prentice nicht leiden.«
Ich blinzelte. »Was?« Es dauerte ein paar Sekunden, bis mein Hirn umgeschaltet hatte. »Und warum kannst du Mr. Prentice nicht leiden?«
»Er will, dass ich Sachen mache, die ich nicht machen will.«
»Thomas, wovon ist jetzt wieder die Rede?«
»Er wollte mittags mit mir essen gehen, und ich wollte nicht.«
»Heute? Er war heute da?«
Mein Bruder nickte. »Er hat mich gepackt, damit ich mitkomme, da habe ich ihm eine runtergehauen.«
Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mensch, Thomas, du hast Len Prentice eine runtergehauen?«
Thomas nickte. »Nicht fest.« Er stand auf, um mir zu zeigen wie fest. Er nahm meine Hand und legt sie sich auf den Arm. »So hat er mich gepackt. Ich habe den Arm weggezogen und ihn dabei ins Gesicht geschlagen.« Er wiederholte es in Zeitlupe und berührte meine Wange mit dem Handrücken.
»Du hast Len Prentice ins Gesicht geschlagen.«
»Ich kann ihn nicht leiden. Konnte ich noch nie.«
»Thomas, du kannst doch nicht einfach hergehen und Leuten eine scheuern.«
»Ich hab dir doch gesagt, er hat mich zuerst am Arm gepackt. Ich hab nicht fest zugeschlagen. Er hat nicht geblutet oder geweint oder so.«
»Sondern? Was hat er gemacht?«
»Er ist gegangen.«
Ich seufzte. Ich würde Thomas nicht mehr allein lassen können. Jedenfalls nicht einen ganzen Tag lang. Bevor ich dieses Haus verkaufen und nach Burlington zurückkehren konnte, musste ich Thomas irgendwo unterbringen, wo man ihn im Auge behalten konnte. Was mich noch zusätzlich beunruhigte, war, dass Thomas innerhalb kürzester Zeit zweimal handgreiflich geworden war. Erst war er auf mich losgegangen, und jetzt hatte er Len Prentice geschlagen. Zu seiner Verteidigung musste ich allerdings sagen, dass er beide Male provoziert worden war.
»Thomas«, sagte ich. »Was ist denn los mit dir? Du rastest doch sonst nicht so einfach aus. Das sieht dir doch gar nicht ähnlich.«
»Ich weiß«, sagte er und setzte sich wieder hin. Den Blick erneut auf die Bildschirme gerichtet sagte er: »Normalerweise bin ich nicht so.«
Dann sagte er nichts mehr und klickte nur noch mit der Maus herum.
Ich spürte Julies Hand auf dem Rücken. »Komm«, sagte sie leise. »Ich glaube, wir könnten jetzt beide was zu trinken gebrauchen.«