Fünfundfünfzig
Sie sind also Ray«, sagte die Frau.
»Ja«, sagte ich. Ich konnte den Blick nicht von dem Ding in ihrer Hand wenden.
Sie zog Thomas bei den Haaren. »Und der hier? Thomas? Das ist Ihr Bruder?«
»Ja.«
»Niemandem hier passiert was, Ray, wenn Sie keine Dummheiten machen.«
»Ja, gut«, sagte ich. »Bitte tun Sie ihm nichts.«
Thomas sah aus, als stehe er draußen in der Kälte. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Hände konnte ich nicht sehen, aber ich hätte gewettet, dass auch sie zitterten. In unserem ganzen gemeinsam Leben hatte ich ihn noch nie so verängstigt erlebt.
»Ray, sag ihr, sie soll mich loslassen!«
»Kein Angst, Thomas, ich werde ihr geben, was sie will.«
»Das ist gut«, sagte die Frau. »Solange Sie kooperieren, ist alles bestens.« Mir fiel auf, dass sie eines dieser Bluetooth-Dinger im Ohr hatte, obwohl es in dem schulterlangen, blonden Haar fast nicht zu sehen war. »Du kannst reinkommen«, sagte sie, so, als spräche sie mit ihrer Schulter. »Wir sind im Keller.«
»Sagen Sie mir doch einfach, was Sie wollen.«
»Im Moment will ich, dass Sie still sind«, sagte sie. Sie hielt Thomas noch immer bei den Haaren gepackt, die Spitze des Eispicks drückte eine kleine Vertiefung in seinen Hals. »Gleich geht’s weiter.«
Selbst hier im Keller konnte ich hören, wie ein Wagen sich dem Haus näherte. Ein entferntes Knirschen von Kies, dann das Öffnen und Schließen einer Autotür. Ungefähr dreißig Sekunden später ging die Haustür auf, und gleich darauf hörte ich jemanden hinter mir die Treppe herunterkommen. Ich drehte den Kopf. Der Mann trat in den Lichtkegel der nackten Glühbirne. Er war groß, kahl, untersetzt, seine Nase sah aus, als sei sie irgendwann einmal gebrochen worden.
Er sah mich an. »Sie sind also Ray Kilbride.«
»Ja.«
»Wer ist das?«
»Das ist der Bruder«, sagte die Frau. »Thomas.«
»Hallo, Thomas«, sagte der Mann mit ausdrucksloser Stimme. »Ich bin Lewis. Nicole haben Sie ja schon kennengelernt.« Beim Näherkommen entdeckte ich unter seiner ledernen Bomberjacke eine Ausbeulung, die größer war als ein Eispick. Über der Schulter hatte er einen kleinen Rucksack hängen.
»Es gibt hier zwar nicht viel zu holen, aber bitte bedienen Sie sich«, sagte ich.
»Nicht meinen Computer!«, platzte Thomas heraus.
Lewis neigte den Kopf ein wenig, um mir in die Augen sehen zu können. »Sie glauben also, das ist ein Raubüberfall?«
»Meinen Computer bekommen Sie nicht«, wiederholte Thomas. »Sie können den von meinem Vater haben.«
»Was wollen Sie sonst von uns?«, fragte ich.
»Ich will, dass Sie die Hände auf den Rücken legen«, sagte Lewis. Er öffnete den Reißverschluss des Rucksacks und holte Doppelkabelbinder heraus, wie die Bereitschaftspolizei sie bei Einsätzen gegen Demonstranten als Handschellen verwendete.
»Bitte«, sagte ich. »Das ist ein Irrtum.«
»Wenn ich Sie noch einmal auffordern muss, die Hände auf den Rücken zu legen, wird meine Begleiterin Ihrem Bruder ein bisschen Luft in den Hals lassen.«
Seine Stimme besaß gelassene Autorität. Wie die eines Polizisten. Sollte er je einer gewesen sein, musste das schon länger her sein.
Ich legte die Hände auf den Rücken. Er streifte mir die schmalen Plastikreifen über beide Handgelenke und zurrte sie fest. Sie schnitten mir schmerzhaft ins Fleisch. Ich bewegte sofort die Finger und überlegte schon, wie lange es dauern würde, bis sie taub wurden.
»Alles klar, Lewis?«, fragte die Frau.
Es beunruhigte mich, dass es ihnen egal war, ob wir ihre Namen erfuhren. Ich versuchte mir einzureden, dass es vielleicht nicht ihre richtigen waren. Aber sehr wahrscheinlich war das nicht.
»Ja«, sagte er. Da nahm die Frau den Eispick von Thomas’ Gurgel und ließ seine Haare los. Sie schubste ihn in meine Richtung.
»Ich habe Angst, Ray«, sagte er. Er hatte sich ein wenig gedreht, und ich sah, dass seine Hände wie meine gefesselt waren.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich auch.«
»Nehmen wir sie beide mit?«, fragte Nicole Lewis.
»Gute Frage«, antwortete er. »Darüber muss ich erst nachdenken. Ich mach eine Runde durchs Haus und schau mal, ob womöglich noch jemand ist.«
Er ging wieder nach oben und ließ Thomas und mich mit Nicole allein.
»Hören Sie«, sagte ich, »wir sind –«
»Halten Sie den Mund.«
Zwei Minuten später war Lewis wieder da. Ratlosigkeit spiegelte sich in seiner Miene.
»Was soll die Deko im Obergeschoss?«, fragte er.
»Die Landkarten?«, fragte ich zurück.
»Ja. Und der Computer.«
»Die gehören mir«, sagte Thomas. »Sie haben sie hoffentlich nicht angefasst.«
»Ich denke, wir müssen die Party nach oben verlegen«, sagte Lewis.
Ich nickte. Ich stupste Thomas mit der Schulter an. »Gehen wir«, sagte ich. »Wir tun, was sie sagen, dann haben wir Ruhe.« Ich wusste nicht, was ich hätte tun sollen, außer lügen.
Thomas ging hinter Lewis die Treppen hoch, Nicole folgte mir. Thomas und ich sehr vorsichtig, weil wir uns nicht am Geländer festhalten konnten. Ich dachte daran, mich schnell umzudrehen und der Frau ordentlich ins Gesicht zu treten. Hätten wir’s nur mit ihr zu tun gehabt, hätte ich’s vielleicht auch versucht. Aber dann wäre da noch immer Lewis, und wenn diese Ausbuchtung in seiner Jacke eine Pistole war, wie ich vermutete, dann würde er kurzen Prozess mit uns beiden machen.
Nicole, die im Gegensatz zu Lewis den ersten Stock noch nicht gesehen hatte, sah sich verwundert um. Ein Flur, vollständig behängt mit Landkarten. Südamerika, Australien, Indien, aber auch detaillierte Stadtpläne von San Francisco, Kapstadt, Denver. Und das auf einer Länge von kaum mehr als einem halben Meter.
»Es kommt noch besser«, sagte Lewis und stieß die Tür zu Thomas’ Zimmer auf.
Nicole ging als Erste hinein. Wortlos betrachtete sie die auch hier von oben bis unten mit Karten tapezierten Wände. Sie schien wie gebannt. Einmal streckte sie die Hand aus. Vor ihr hing eine Karte von Australien. Beinahe träumerisch berührte ihr Zeigefinger Sydney.
»Und schau dir das an«, sagte Lewis zu ihr. Er deutete auf die Computerbildschirme. Alle drei zeigten dieselbe Straße, jeder allerdings aus einem anderen Blickwinkel. »Wo ist das?«, fragte er mich.
»Keine Ahnung.«
»Lissabon«, sagte Thomas.
»Lissabon«, wiederholte Lewis. »Das ist Whirl360, stimmt’s?«
Thomas nickte.
»Wessen Computer ist das?«
»Meiner«, sagte Thomas.
»Warum schauen Sie sich Lissabon an?«
»Ich schau mir alles an«, antwortete Thomas.
»Was meinen Sie mit alles?«
»Er meint alles«, sagte ich. »Er schaut sich Städte auf der ganzen Welt an.«
»Warum?«
»Das ist sein Hobby.«
Thomas sah mich scharf an. Offensichtlich fragte er sich, warum ich log. Dann sagte er zu Lewis: »Sie wissen es schon, nicht wahr?«
»Wie bitte?«
»Dass die Karten verschwinden werden, und ich den Leuten bei den Black Ops helfen werde.«
»Was ist das denn für’n Scheiß?«, fragte Nicole.
»Sie sind die Bösen«, sagte Thomas, als wären wir alle Kinder, die Räuber und Gendarm spielten.
Lewis grinste. »Kann schon sein. Dann will ich euch Jungs jetzt eins fragen: Wer von euch beiden hat sich die Orchard Street angeschaut?« Er sah mich an. »Ich dachte, Sie wären das gewesen, weil Sie an die Wohnungstür geklopft haben.«
Ich fröstelte. Langsam wurde mir klar, wie tief wir in der Patsche saßen.
»Die Nachbarin«, sagte ich.
Lewis schüttelte den Kopf. »Kamera mit Bewegungsmelder.«
Jetzt wussten wir’s. »Oh«, sagte ich.
»Hab ein Foto von dem, was Sie in der Hand halten.«
»Oh«, sagte ich noch einmal.
»Also, wer war’s?«
»Ich hab’s gefunden«, sagte Thomas mit einem Anflug von Stolz in der Stimme. »Ich hab die Frau mit der Tüte auf dem Kopf entdeckt. Ray ist für mich hingefahren, um sich’s vor Ort anzusehen.«
Lewis sah Nicole an und sagte: »Tja, ich glaube, damit ist deine Frage beantwortet.« Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. »Ob wir einen oder beide mitnehmen«, fügte er hinzu.