Dreiundsiebzig

Len Prentice«, sagte ich.

»Können Sie den Namen wiederholen?«, fragte Duckworth und zog sein Notizbuch heraus.

»Dad hat jahrelang für ihn gearbeitet. Sie waren Freunde. Thomas mochte ihn nie. Len kam unlängst vorbei und wollte Thomas zwingen, mit ihm irgendwohin zum Mittagessen zu fahren. Vielleicht wollte er herausfinden, was Dad Thomas vor seinem Tod erzählt hat.« Ich überlegte einen Augenblick. »Und er verreist ohne seine Frau. Nach Thailand.«

»Na, das klingt ja sehr interessant«, sagte Duckworth. »Meinen Sie nicht?«

Ich fühlte mich völlig ausgelaugt. Nach allem, was in den letzten Tagen vorgefallen ist, jetzt auch noch das. »Dieser Hurensohn. Dieses perverse Schwein. Vergreift sich an Thomas und weiß genau, ihm passiert nichts, denn wenn Thomas je den Mund aufmacht, kann Len einfach sagen: ›Hey, du weißt doch, der Junge ist nicht ganz richtig im Kopf.‹«

»Das ist ja das Infame«, sagte Duckworth. »Sie suchen sich immer die Schwächsten. Menschen, die sie kontrollieren können.«

Das Blut pochte in meinen Schläfen. Am liebsten wäre ich in meinen Wagen gestiegen und zu Len Prentice gefahren. Ich hätte ihn an Ort und Stelle erwürgt. Mit bloßen Händen.

»Thomas hat jahrelang nicht ein Wort darüber verloren«, sagte ich.

»Weil er sich beim ersten Mal, als er es Ihrem Vater erzählte, so viel Ärger eingehandelt hat«, sagte Duckworth. »Er wollte es einfach hinter sich lassen.«

»Und als mein Vater alles wieder ausgrub, als er Thomas sagte, dass er ihm jetzt glaube, wie muss Thomas sich da gefühlt haben?«, überlegte ich laut. »Es muss ihn rasend gemacht haben. Dass Dad jetzt bereit war, etwas zu unternehmen. Jetzt, wo alles zu spät war.«

Duckworth nickte ernst. »Gut möglich.«

Ich hielt mir den Kopf mit den Händen. »Das wird mir alles zu viel.«

»Das glaube ich Ihnen.«

Eine Weile schwiegen wir beide, dann sagte ich: »Es gibt etwas, das mir nicht aus dem Kopf will, seit ich wieder da bin.«

Duckworth wartete.

»Ich muss dauernd daran denken, wie mein Vater ums Leben gekommen ist. Das lässt mir keine Ruhe.«

»Warum denn?«

»Ich weiß, es sah aus wie ein Unfall. Er fuhr mit dem Traktor diesen Steilhang entlang und kippte damit um. Aber das war er gewohnt. Das hat er schon immer so gemacht, und nie ist was passiert.«

»Viele Leute machen jahrelang denselben Unfug, und irgendwann erwischt es sie halt«, meinte Duckworth.

»Ich weiß, ich weiß. Aber als ich den Traktor in die Scheune zurückfuhr – kein Mensch hatte ihn nach dem Unfall angerührt, nur Thomas, als er ihn hochstemmte –, fiel mir auf, dass die Zündung ausgeschaltet war. Und das Mähwerk war hochgeklappt. Genau das, was Dad getan hätte, wenn jemand zu ihm hinuntergekommen wäre, um mit ihm zu reden.«

»Da hat sich aber nie jemand gemeldet. Es gab niemanden, der ausgesagt hätte, er habe vor dem Unfall mit Ihrem Vater geredet, oder sei dabei gewesen, als es passierte.«

»Wer würde das denn tun?«, fragte ich. »Wenn er Dad gestoßen hätte.«

Duckworth dachte darüber nach. »Ich weiß nicht. Ist auf jeden Fall eine interessante Theorie.«

»Während Dad überlegte, was er wegen Len Prentice unternehmen sollte, muss der halb verrückt geworden sein. Würde Dad zur Polizei gehen? Tja, das hat er getan, aber keinen Namen genannt. Oder würde er es Lens Frau sagen, seinen Freunden? Wenn er schon gerichtlich nicht gegen ihn vorgehen konnte, vielleicht würde er versuchen, sein Ansehen zu zerstören. Dafür sorgen, dass alle Welt erfuhr, was für ein Mensch Len Prentice war.«

»Möglich wär’s.«

»Das hat Len so umgetrieben, dass er eines Tages herkommt, um Dad davon abzubringen, irgendwas zu unternehmen. Er erfindet vielleicht auch irgendeine absurde Geschichte, warum er diese Fotos von nackten Jungen auf dem Handy hat. Dad mäht gerade den Hang. Er macht den Motor aus, die beiden geraten in Streit, Len versetzt Dad einen Stoß, der kippt nach hinten, der Traktor fällt auf ihn und erdrückt ihn. Len hätte Hilfe holen oder selbst versuchen können, Dad unter dem Traktor rauszuholen, aber er tut’s nicht. Len wusste ganz genau, dass das, was Dad da auf dem Steilstück trieb, sehr unvorsichtig war. Mom hatte ihn schon vor Jahren gebeten, Dad zu sagen, er soll damit aufhören.«

Detective Duckworth schürzte die Lippen und dachte nach.

»Glauben Sie, dass ein Mann solche Fotos auf dem Handy behält?«, fragte er. »Da könnte seine Frau sie doch finden.«

Ich hob die Hände. »Keine Ahnung. Marie interessiert sich nicht besonders für solchen technischen Schnickschnack. Hören Sie, ich habe auch nicht auf alles eine Antwort, aber mit dem Mann stimmt was nicht. Das spür ich.«

»Es wäre zumindest einen Versuch wert, hinzufahren und ihm ein paar Fragen zu stellen«, sagte Duckworth. »Mal sehen, wie er darauf reagiert.«

»Ja, machen wir das.«

»Langsam.« Duckworth hob eine Hand.

»Ich komme mit. Ich hab auch ein paar Fragen. Wenn Sie mich nicht mitnehmen, dann renn ich ihm die Tür ein, zwei Sekunden, nachdem Sie gegangen sind.«

Das gab Duckworth zu denken. »Das Reden überlassen Sie aber mir.«

Ich schwieg.

»Gut, fahren wir hin. Sie können mich lotsen?«

»Kann ich. Ich sag nur noch schnell meinem Bruder Bescheid, dass ich jetzt eine Weile außer Haus bin. Und ich muss noch kurz was erledigen.«

»Ich warte auf der Veranda auf Sie.« Duckworth ging hinaus.

Ich ging zu Thomas hinauf. Er saß auf seinem Computerstuhl und betrachtete die Bildschirme und die Tastatur. Ohne Computer war das alles wie ein Auto ohne Motor.

»Kaufen wir jetzt einen neuen Computer?«, fragte er.

»Nicht jetzt sofort«, sagte ich. »Kann ich dich eine Weile allein lassen? Unten an der Straße steht ja noch der Polizeiwagen.«

»Klar. Wo fährst du denn hin?«

»Rüber zu Len Prentice.«

Thomas verzog das Gesicht. »Den mag ich nicht.«

Ich überlegte, ob ich Thomas jetzt gleich fragen sollte, was damals geschehen war, und wer ihm etwas getan hatte, entschied mich aber dagegen. Er hatte in den vergangenen Tagen genug durchgemacht. Da konnte ich ihn nicht auch noch zwingen, über dieses Erlebnis zu sprechen.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

Ich wandte mich seinem Telefon zu. »Hast du’s angerührt?«

»Du hast doch gesagt, ich soll nicht.«

»Ich wollt’s nur wissen.«

»Ich hab’s nicht angerührt.«

Ich zog den Apparat heran und drückte die Taste, mit der ich die Anrufliste aufrufen konnte.

Seit dem Abend unserer Entführung hatte niemand mehr angerufen.

Doch um 22:13 Uhr an diesem Abend hatte es einen Anruf gegeben. Es gab nur diese eine Nummer auf der Liste.

Es war eine Nummer aus der Gegend, da war ich mir ziemlich sicher.

»Thomas«, sagte ich. »Hier wird nur eine einzige Nummer angezeigt. Hat dich hier oben sonst nie jemand angerufen? Nicht mal jemand, der dir was verkaufen wollte?«

»Ich lösche die Liste nach jedem Anruf«, sagte er. »Präsident Clinton hat gesagt, ich soll das tun.«

Doch an dem Abend, als Lewis Blocker ans Telefon gegangen war, hatte Thomas keine Gelegenheit mehr gehabt, die Liste zu löschen.

Ich hielt es nicht für klug, die Nummer direkt von Thomas’ Apparat aus anzurufen. Ich tippte sie in mein Handy ein, hielt es mir ans Ohr und wartete.

»Wen rufst du an?«, fragte Thomas. »Rufst du den Präsidenten an? Er hat gesagt, ich darf ihn nie von mir aus anrufen. Und wenn das seine Nummer ist, dann hätte sie gelöscht werden müssen.«

Ich hielt eine Hand hoch, damit er schwieg. Am anderen Ende der Leitung klingelte es. Einmal.

Ein zweites Mal.

Zum dritten Mal.

Dann hob jemand ab. Ein Rascheln, dann eine Stimme.

»Harry Peyton.«