Fünfzig

Als ich nach Hause zurückkam, sagte ich zu Julie: »Gehen wir ein bisschen spazieren.«

Wir gingen hinten hinaus und den Hang hinunter zum Bach.

»Ich warte auf einen Rückruf von der Polizei in Tampa«, sagte Julie und klopfte auf das Handy, das eine Tasche ihrer Jeans ausbeulte. »Mal sehen, was ich sonst noch über die Fitch rauskriege.«

Ich nickte.

»Du bist so still«, sagte sie.

»Ich denke nach über das, was Harry gesagt hat.« Ich erzählte ihr, dass er darüber spekuliert hatte, Thomas könne sich das eine oder andere ausgedacht, das Foto im Netz manipuliert, sein Gespräch mit dem Vermieter erfunden haben.

»Glaubst du das wirklich?«, fragte Julie.

Ich zögerte. »Keine Ahnung. Ehrlich gesagt, nein. Ich meine, er bildet sich Dinge ein, von denen wir wissen, dass sie nicht wahr sind, aber er glaubt, dass sie wahr sind. Wie das Verschwinden der Landkarten im Internet und seine Gespräche mit Bill Clinton. Aber es gibt auch Dinge, die definitiv nicht erfunden sind. Was da in Chicago passiert ist, das hast du herausgefunden, und das in Florida auch.«

»Würde Thomas dich wissentlich belügen?«

Darüber hatte ich eigentlich noch nie nachgedacht. »Möglich wär’s. Aber als ich gefragt hab, ob er Dad die Treppe hinuntergestoßen hat, da hat er es sofort zugegeben. Er hat allerdings nicht von sich aus darüber gesprochen.«

»Er hat deinen Dad über die Treppe gestoßen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht die Energie, das jetzt zu erklären. »Wenn Thomas etwas nicht sagen oder zugeben will, dann hält er einfach den Mund. Er macht dicht.« Ich blieb stehen, sah dem dahinplätschernden Wasser nach. »Obwohl, Dr. Grigorin hat er angelogen. Er hätte sich mit mir einen Film angesehen, hat er gesagt. Wahrscheinlich eine Notlüge, damit sie ihn in Ruhe ließ. Ach, keine Ahnung.«

»Wirst du mit ihm reden?«

»Ich werd’s versuchen. Und Harry kennt einen Detective in Promise Falls, das hab ich dir ja schon gesagt. Dem wird er alles erzählen, damit ich mich nicht noch mal mit einem Anruf bei der Polizei lächerlich mache.«

»Das ist gut«, sagte Julie. »Duckworth ist ein netter Mensch. Er hasst Reporter nicht von Haus aus.«

»Noch was anderes lässt mir keine Ruhe.«

»Nämlich?«

Ich breitete die Arme aus. »Hier ist es passiert. Hier ist mein Vater gestorben.« Ich zeigte auf den Hang. »Da ist der Traktor runter gerollt. Hier ungefähr ist er zum Stehen gekommen. Da hat Thomas Dad gefunden.«

Sie hängte sich bei mir ein. »Es tut mir so leid.«

»Ich habe viel an ihn gedacht. An Dad. Und an Thomas. Als ich ihn nach diesem Vorfall auf der Treppe fragte, hat er gesagt, da sei es um etwas gegangen, über das er nicht reden wollte. Etwas, das ihm mit dreizehn passiert ist. Dad hätte sich bei ihm entschuldigen wollen, aber dazugesagt, er verstünde auch, wenn Thomas ihm nicht verzeihen könne.«

»Und worum es ging, hat er nicht gesagt?«

»Nein, das wollte er nicht sagen. Aber«, ich stockte, »da ist noch was.«

Julie sah mich an und wartete.

»Ich habe bis jetzt mit niemandem darüber gesprochen, aber auf Dads Laptop, da hab ich was Merkwürdiges gefunden.« Ich erzählte ihr, was ich in der Chronik entdeckt hatte.

»Kinderprostitution?«

»Ja.«

»Das ist schon irgendwie sonderbar.«

»Ja.«

Julie schüttelte energisch den Kopf. »Ich kannte deinen Dad ja nicht, Ray. Aber warum machst du dir darüber Gedanken? Glaubst du, dein Vater war irgendwie seltsam veranlagt?« Dann wurde ihr bewusst, was sie da womöglich angedeutet hatte. »Mensch, du glaubst doch nicht, dass dein Vater sich an Thomas vergangen hat, als er noch ein Kind war? Glaubst du, dass er das meinte, als er sagte, er könne verstehen, wenn ihm Thomas ihm nicht verzeihen wolle?«

»Hier einen Zusammenhang zu konstruieren ist schon ziemlich gewagt«, sagte ich, »aber wenn man nichts in der Hand hat, kann einem die Phantasie schon mal durchgehen.«

»Hat dein Vater mal bei dir, hat er es je –«

»Nie«, sagte ich. »Nicht ein einziges Mal.«

»Dann kann es das nicht sein«, sagte Julie mit einer Endgültigkeit, die mich rührte. Sie verteidigte meinen Vater, ohne ihn überhaupt gekannt zu haben. »Was noch?«, fragte sie. »Du hast noch was auf dem Herzen, ich seh’s dir an.«

»Es ist … ach, nichts.«

»Sag’s mir. Du schleppst das alles mit dir rum und hast niemanden, mit dem du darüber reden kannst. Also, was ist es?«

Ich schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Wie Dad ums Leben gekommen ist, das ist mir irgendwie nicht ganz geheuer.«

»Wie, nicht ganz geheuer?«

»Es ist nur … also gut … angeblich ist er mit dem Traktor umgekippt, und der ist auf ihn gefallen. Und so war’s ja wohl auch.«

»Und wo ist dann das Problem?«

»Niemand hat den Traktor angerührt. Er stand noch immer hier unten am Bach. Richtig rum natürlich, denn Thomas, konnte ihn selbst aufrichten, noch bevor der Notarzt kam.«

»Das kapier ich jetzt nicht.«

»Ich wollte den Traktor in die Scheune zurückbringen und bin hier runtergekommen, um zu sehen, ob er anspringt. Und er ist angesprungen. Außerdem war die Zündung ausgeschaltet und dieses Ding, in dem die Schneidmesser drinnen sind, das Mähwerk, war hochgeklappt, als ob Dad aufgehört hätte zu mähen.«

Julie dachte nach. »Dann glaubst du also, der Traktor ist erst umgekippt, als er ihn schon ausgeschaltet hatte.«

Ich nickte. »Genau.«

»Könnte es nicht so gewesen sein? Der Traktor hat irgendwie gesponnen, und dein Dad ist stehen geblieben, um zu sehen, was los ist. Ich hab keine Ahnung von Rasentraktoren, aber wenn sich irgendwas in den Messern verfängt, müsste man da den Motor nicht abstellen, um nachzusehen? Und das Dingsda mit den Messern, müsste man das nicht vielleicht anheben, um drunterschauen zu können?«

Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand mit einem Kantholz eins übergezogen. Ich lachte, legte Julie die Hände auf die Schultern und sagte: »Du bist ein Genie.«

»Wieso das?«

»Ich glaube hier schon an das perfekte Verbrechen und werde halb wahnsinnig, und dabei ist es so simpel.«

»Ach«, sagte Julie mit gespielter Kränkung. »Da musste also erst ein richtiger Gipskopf ran?«

»Nein, nein. Aber du hast recht. Er mäht vor sich hin und erwischt einen Stein oder ein Stück Holz. Will nachsehen, ob die Messer blockiert sind, macht den Motor aus, klappt das Mähwerk hoch und steigt ab. Aber beim Absteigen, oder beim Wiederaufsteigen beugt er sich zu sehr hangabwärts, der Traktor kippt um und fällt auf ihn drauf.«

Wäre es nicht so tragisch gewesen, hätte ich mich direkt freuen können, dass ich das Rätsel endlich gelöst hatte. Oder jemand es für mich gelöst hatte.

»Klingt absolut schlüssig«, sagte ich und umarmte Julie.

»Was dachtest du denn, dass passiert ist?«

»Ich dachte, er ist vielleicht stehen geblieben, weil ihm jemand von oben zugewinkt hat. Er hat den Motor abgestellt und das Mähwerk hochgeklappt, weil er zum Haus hoch wollte. Ich dachte, keine Ahnung, dass da oben jemand war, der gesehen hat, was passiert ist, aber nichts getan hat. Nicht den Rettungsdienst gerufen oder so.«

»Jemand wie Thomas«, sagte Julie leise.

Ich seufzte und senkte den Kopf. Ich schämte mich. »Es ist mir durch den Sinn gegangen. Dass er vielleicht aus dem Haus gekommen ist, weil er etwas mit Dad besprechen wollte, und dann geschah dieser Unfall. Mensch, bin ich ein Rindvieh. Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte, muss ich auch noch welche dazuerfinden.«

»Vielleicht ist es mit dem, was du auf dem Laptop von deinem Vater gefunden hast, genauso. Es gibt für vieles eine einfache Erklärung. Es sieht nur kompliziert aus, wenn man nicht weiß, was dahintersteckt.«

Ich nahm Julie wieder in den Arm. Diesmal hielt ich sie fest. »Ich weiß, ich wiederhole mich, aber: Danke.«

»Warte, bis du meine Rechnung bekommst.« Sie legte den Kopf an meine Brust. »Hör mal, ich muss jetzt zurück in die Redaktion und ein paar Sachen schreiben, die nichts mit dir und Thomas und eurer großen internationalen Verschwörung zu tun haben. Dann kümmere ich mich um diese Sache in Florida.«

»Und ich? Soll ich irgendwas unternehmen?«

»Wenn du mich fragst … ganz ehrlich: nein. Vorläufig wenigstens. Wart ab, was dein Anwalt bei Duckworth ausrichtet, und ich schaue, was ich rausfinde. Du bleibst am besten hier und passt auf, dass Thomas nicht irgendwen vom Eiffelturm fliegen sieht oder so was.«

»Mach bloß keine Witze. Und nachher? Kommst du wieder her?«

»Nicht zum Abendessen. Deine Küche ist keine Offenbarung, weißt du? Vielleicht komm ich so gegen elf. Ich muss über die Stadtratssitzung berichten. Wenn ich das abgeliefert habe, komme ich und bringe eine Flasche Wein mit. Dann können wir’s ja noch mal mit der Bettakrobatik versuchen.«

»Das würdest du dich echt noch mal trauen?«

Julie lächelte. »Gefahr ist mein Lebenselixier.«

Ich brachte sie zu ihrem Wagen, küsste sie durchs offene Fenster und sah ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann ging ich zu Thomas, der gerade Stuttgart erkundete. »Ich weiß nicht, was ich zum Mittagessen machen soll. Vielleicht Sandwich mit Speck, Salat und Tomate.«

»Wie du willst«, sagte mein Bruder und starrte weiterhin auf seinen Bildschirm.

Ich holte Speck, Salat, Tomaten und Mayonnaise aus dem Kühlschrank und wollte gerade den Speck braten, da merkte ich, dass wir gerade noch zwei Stück Brot hatten.

»Mist«, sagte ich und fragte mich, ob es in Promise Falls wohl eine Pizzeria gab, die so weit ins Umland lieferte.

Da klopfte es an der Haustür.

»Lieber Gott«, betete ich leise, »mach, dass es nicht wieder das FBI ist.«