Vierundsiebzig

Hallo?«, sagte Harry. »Ist da jemand?«

»Hier ist Ray«, sagte ich, als ich die Sprache wiedergefunden hatte.

»Ray!« rief Harry gutgelaunt. »Menschenskind! Da bist du ja wieder!«

»Ja, wir sind wieder zurück.«

»Meine Güte, was ist denn nur passiert? Einzelheiten hört man in den Nachrichten ja kaum, aber ihr habt herausgefunden, dass die Frau von Morris Sawchuck umgebracht wurde? Lieber Gott, wie seid ihr denn in diese Sache reingerutscht? Ja, gut, ich weiß, Thomas hatte irgendwas damit zu tun, aber lieber Himmel, es hätte euch beiden das Leben kosten können.«

»Hat nicht viel gefehlt«, sagte ich und dachte an etwas ganz anderes. Versuchte zu verstehen.

»Wir haben ein paarmal bei euch angerufen, euch aber nicht erreicht. Da dachten wir, du bist vielleicht nach Burlington gefahren und hast deinen Bruder mitgenommen.«

»Nein.«

Harry lachte. »Klar, jetzt wissen wir ja, wie’s wirklich war. Alles in Ordnung mit euch? Ich meine körperlich. Geht’s euch gut?«

»Die Handgelenke sind ein bisschen wund«, sagte ich. »Irgendwie tut alles weh.«

»Eine unglaubliche Geschichte«, sagte Harry. »Hör mal, die Unterschriften, die ich noch von dir brauche, das eilt nicht. Das können wir irgendwann mal machen. Wenn euer Leben wieder in geordneten Bahnen verläuft, dann –«

»Nein«, sagte ich. »Machen wir’s gleich.«

»Wenn du meinst, ich schau gleich mal in meinem Kalender –«

»Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.«

»Ray, warte mal. Ray? Du hast mich gerade auf meinem Privathandy angerufen. Warum nicht im Büro? Woher hast du die Nummer überhaupt?«

»Bis gleich«, sagte ich und legte auf.

Thomas sah mich an. »Wie geht’s dem Präsidenten?«

Ich ging ins Zimmer meines Vaters, schloss die Tür und setzte mich auf die Bettkante. Ich legte das Handy aufs Bett, fuhr mit der flachen Hand über die Tagesdecke, spürte die Erhebungen auf dem Stoff.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

Harry Peyton hatte bei uns angerufen und so getan, als sei er Präsident Clinton. Der Einzige, der ihm das abgenommen hätte, war mein Bruder. Harry wusste Bescheid über die Phantasien meines Bruders.

Und spielte mit ihnen.

Der Anruf, den Lewis entgegengenommen hatte, konnte nicht der erste gewesen sein. Es muss davor schon welche gegeben haben. Für meinen Bruder. Gespräche, von denen mein Bruder geglaubt hatte, er führe sie mit Bill Clinton.

Aber aus eigener Beobachtung wusste ich, dass Thomas diese Gespräche geführt hatte, ohne wirklich zu telefonieren. Er hatte sie sich nur eingebildet.

Harry Peyton wusste von diesen imaginären Telefonaten.

Und hatte beschlossen, sie Wahrheit werden zu lassen.

Ich nahm mein Handy und kehrte in Thomas’ Zimmer zurück. Er saß noch immer niedergeschlagen auf seinem Computerstuhl.

»Wenn er … du weißt schon, wer, dich hier anruft … was sagt er dann zu dir?«

Thomas blinzelte. »Weißt du noch, ich hab dir doch erzählt, dass er in letzter Zeit nicht mehr so nett war?«

»Ja.«

»Er hat gesagt, uns würde was Schlimmes passieren, wenn ich mit dir darüber rede. Über das, was mir passiert ist, und das, was er mir jetzt sagt. Er hat gesagt, das ist etwas nur zwischen ihm und mir, und er wollte Sachen von mir wissen, persönliche Sachen, und von dir und von Dad. Früher hat er mich solche Sachen nicht gefragt, als wir noch ohne Telefon miteinander gesprochen haben, als ich ihn nur hörte.«

»Was hat er dich über Dad gefragt?«

»Er wollte wissen, ob er über seine Freunde sprach, ob er mir irgendwas Schlechtes über sie erzählt hat. Denn Mr. Clinton musste ganz sicher sein, dass es um mich herum keine Feinde oder Spione oder so was gibt.«

»Was hast du ihm gesagt?«

Thomas zuckte die Achseln. »Nicht viel. Ich hab ihm erzählt, dass ich Len Prentice nicht mag, und dass ich Mr. Peyton überhaupt nicht leiden kann, und dass ich deswegen auch nicht zu Dads Beerdigung gegangen bin, weil ich mir dachte, dass er da sein würde.«

»Thomas«, sagte ich leise, »das, was dir damals, vor langer Zeit, am Fenster passiert ist, das hat Mr. Peyton mit dir gemacht, stimmt’s?«

Sein Blick war verschlossen. »Dad hat gesagt, ich darf nicht darüber reden. Nie. Sogar, als er sich entschuldigt hat, als er schon wusste, dass es wahr ist. Er hat gesagt, ich darf nicht darüber reden, solange er nicht weiß, was er tun soll. Aber es könnte sein, dass ich schließlich darüber reden muss.« Er sah weg. »Das wollte ich aber nicht. Ich wollte nie wieder darüber reden. Dad wollte, dass ich es vergesse. Jahrelang. Ich kann das nicht. Es der Polizei erzählen oder in einem Gerichtssaal darüber reden. Nein, nie.«

Ich suchte in meinem Handy nach einer Nummer und stellte fest, dass ich sie nicht eingespeichert hatte. Ich brauchte ein Telefonbuch.

»Wir reden später weiter, ja, Thomas?«, sagte ich. »Und dann besorgen wir dir einen neuen Computer, gut?«

»Gut«, sagte er. »Soll ich Abendessen machen?« Das Angebot kam so unerwartet, dass ich mir die Tränen verbeißen musste.

»Ich weiß nicht mal, ob wir was zu Hause haben«, sagte ich. »Das klären wir alles, wenn ich wieder da bin.«

Ich ging nach unten und sah aus dem Fenster. Detective Duckworth wartete auf der Veranda auf mich. Aus einer Schublade in der Küche holte ich das Telefonbuch und suchte Len Prentice’ Privatnummer heraus.

»Hallo?« Es war Marie.

»Hi, Marie. Ray, hier.«

»Ray? Du liebe Zeit! Len und ich, wir haben das über dich und Thomas –«

»Ich muss Sie was fragen. Dauert nicht lang.«

»Was? Was möchtest du denn wissen?«

»Lens Reise nach Thailand, ich weiß, Sie sind nicht mitgeflogen, aber war sonst noch jemand dabei?«

»Ja, natürlich. Harry. Harry Peyton. Aber Len war ein bisschen enttäuscht, weil Harry immer allein unterwegs war. Sag mal, wie geht’s euch denn, dir und –«

Ich legte auf und ging hinaus zu Duckworth.

»Planänderung«, sagte ich.


Wir fuhren in Duckworths Wagen in die Stadt. Unterwegs versuchte ich, so gut ich konnte, zu erklären, was sich meiner Meinung nach zugetragen hatte. Harry Peyton hatte erkannt, dass Dad ihm durch die Thailandfotos auf die Schliche gekommen war und jetzt auch dem Glauben schenkte, was Thomas ihm vor zwanzig Jahren über Harry erzählt hatte. Da war er in Panik geraten.

»Ich glaube, er hat meinen Vater umgebracht«, sagte ich. »Oder hat wenigstens keinen Finger gerührt, um ihn zu retten. Und vielleicht hat er schon vor Dads Tod, ganz bestimmt aber danach, angefangen, meinen Bruder unter seiner eigenen Nummer anzurufen. Ich glaube, Harry hat Thomas’ Wahnvorstellungen dazu benutzt, ihn davon abzuhalten, über das zu reden, was er mit ihm gemacht hat, als Thomas noch ein Kind war. Er hat darauf spekuliert, dass Thomas schweigen würde, wenn er es für eine Anordnung des Präsidenten hielt.«

»Das ist das Niederträchtigste, was mir je untergekommen ist«, sagte Duckworth. »Und glauben Sie mir, mir ist schon einiges untergekommen.«

»Was hat Harry denn gesagt, als er Sie anrief?«, fragte ich. »Über Thomas und was er auf Whirl360 gesehen hatte.«

»Wie bitte?« fragte Duckworth.

»Ich habe mit Harry darüber gesprochen, was Thomas im Internet gesehen hat. Dass da vielleicht wirklich etwas dahintersteckte und dass ich gerne mit jemandem von der Polizei darüber reden, es aber bestimmt schwerhaben würde, den zu überzeugen. Harry hat gesagt, er kennt Sie, und er würde Sie in meinem Namen anrufen.«

Duckworth schüttelte langsam den Kopf. »Ich kenne Harry Peyton schon lange, aber in dieser Sache hat er mich nie angerufen.«

»Arschloch«, sagte ich. »Dieses gottverdammte Arschloch.«

Duckworth sah mich an. »Glauben Sie, er weiß, dass Sie Bescheid wissen?«

»Das Letzte was er mich gefragt hat, war, warum ich ihn auf dem Handy anrufe. Er wollte wissen, woher ich die Nummer habe.«

Duckworth fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. »Ich würde sagen, er weiß es.«

»Ja«, sagte ich. »Würde ich auch sagen.«


Wir betraten Harry Peytons Kanzlei. Duckworth hatte darauf bestanden, voranzugehen.

Peytons Sekretärin blickte auf. Sie lächelte uns an.

»Hi, Barry«, sagte sie zu Detective Duckworth. Dann zu mir: »Ray, mein Gott, das ist ja schrecklich, was Sie da erlebt haben. Unfassbar.«

»Wir müssen mit Harry reden«, sagte Duckworth.

»Sie sind gemeinsam hier?«, erkundigte sich Alice.

»Wir müssen mit Harry reden, Alice«, wiederholte Duckworth mit einer Strenge, die er vorher nicht an den Tag gelegt hatte.

Alice’ Lächeln erlosch. Sie griff zum Telefon. »Hier ist jemand für Sie«, sagte sie.

Sekunden später ging die schwere Holztür auf, die etwa drei Meter von ihrem Schreibtisch entfernt war. Harry hatte den Türgriff noch in der Hand, als er uns erblickte. Erst mich, dann Barry.

Dass ich hier war und mit mir ein Kriminalpolizist, entschied die Sache. Ich erkannte es an seinem Blick. Er wusste, es war vorbei.

»Harry«, sagte Duckworth und ging auf ihn zu. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Harry trat in sein Büro zurück und schlug die Tür zu.

Duckworth stürzte vor, drehte am Griff und drückte gegen die Tür, doch sie gab nicht nach. Ich stellte mich neben ihn und versuchte es selbst. Idiotisch.

»Harry!«, rief Duckworth. »Machen Sie auf!«

Keine Antwort.

»Gibt es noch einen anderen Ausgang?«, fragte Duckworth Alice barsch.

»Nein«, sagte sie. »Die Fenster lassen sich nicht öffnen.«

»Haben Sie einen Schlüssel?«

Während Alice in ihrer Schreibtischschublade kramte, legte ich meinen Mund an die Tür und schrie: »Ich weiß Bescheid, Harry! Ich weiß, was Sie getan haben! Mit meinem Vater und mit meinem Bruder!« Ich schlug mit der Faust an die Tür. »Kommen Sie raus! Kommen Sie raus, verdammt noch mal! Wir wissen alles! Dad hat die Fotos auf Ihrem Handy gefunden und –«

»Verschwinden Sie!«, rief er zurück.

»Er hat die Fotos auf Ihrem Handy gefunden, und da wusste er Bescheid! Er wusste, dass Thomas die Wahrheit gesagt hatte!«

»Finden Sie diesen verdammten Schlüssel«, sagte Duckworth zu Alice.

»Sie sind erledigt, Harry!«, rief ich. »Auch wenn Sie nicht verurteilt werden wegen dem, was Sie Thomas angetan haben oder meinem Vater, in dieser Stadt sind Sie erledigt.« Ich dämpfte meine Stimme, sprach aber noch laut genug, dass er mich hören konnte. »Alle werden erfahren, was Sie sind, Harry. Ein Perverser und ein Mörder. Dafür werde ich sorgen.«

»Hier ist der Schlüssel«, sagte Alice.

»Her damit.« Duckworth nahm ihn ihr ab.

»Eines sollten Sie wissen«, sagte Alice.

»Hören Sie mich, Harry?« Ich rief wieder lauter. »Hören Sie mich?«

Duckworth schob mich beiseite, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken. »Nämlich?«, fragte er Alice.

»Er hat eine –«

Da hörten wir den Schuss.

»Runter!«, sagte Duckworth, warf die Arme um mich und riss mich mit sich zu Boden.

Alice, die sich nicht hinter ihrem Schreibtisch hervorbewegt hatte, schrie. Und hörte nicht mehr auf zu schreien.

»Unten bleiben«, sagte Duckworth und presste mir die Hand auf den Rücken, während er selbst aufstand. Er holte eine Pistole aus dem Sakko und rief: »Harry!«

Keine Antwort.

»Harry!«

Duckworth steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um, packte den Türgriff und drehte daran, während er vorsichtig die Tür aufdrückte.

»O Mann«, sagte er.