Sechsundzwanzig
Wenn nicht viel Verkehr ist, schafft man es in etwa dreieinhalb Stunden von Promise Falls nach New York. Wenn! Die größte Unbekannte ist das letzte Stück der Strecke. Man kommt wunderbar voran, die Skyline von Manhattan ist schon so nahe, dass man die Hand aus dem Fenster strecken und sie berühren könnte, dann schneidet irgendein Idiot in einem Lieferwagen ein Taxi, löst eine Massenkarambolage aus, und die nächsten zwei Stunden steht man Stoßstange an Stoßstange.
Also entschied ich mich für die Bahn. Ich wollte früh am Morgen abfahren, mein Versprechen einlösen und noch am selben Tag wieder zurückkehren, um Thomas nicht über Nacht allein zu lassen. Früher hätte ich es vielleicht gewagt, über Nacht wegzubleiben, doch seit der Sache mit dem FBI ließ ich ihn lieber nicht länger als unbedingt nötig aus den Augen.
Er hatte mir versprochen, in der Zwischenzeit nichts zu unternehmen, was mich aufregen könnte, vorausgesetzt, ich hielt meinen Teil der Abmachung ein.
Wenn Thomas sich einbildete, ich führe nur seinetwegen nach New York, dann sollte er das ruhig tun. Mir jedoch war in dem Moment, als er anfing, mich mit dieser Nachforschung zu nerven, die Frau wieder eingefallen, mit der ich mich Jeremys Meinung nach treffen sollte. Darum musste ich mich wirklich kümmern, denn das konnte Geld einbringen, und zwar ziemlich viel. Ich ließ Thomas wieder allein und rief umgehend Jeremy an. Konnte er vielleicht für den nächsten Tag ein Treffen arrangieren? Er sagte, er würde mich zurückrufen. Eine Stunde später richtete er mir aus, dass Kathleen Ford zwar eine Verabredung zum Mittagessen habe, wir uns aber danach auf einen Drink im Tribeca Grand Hotel treffen könnten.
Ich sagte, ich würde da sein.
Jeremy meinte, wir sollten vorher noch schnell zusammen zu Mittag essen. Wir einigten uns auf das Waverly Restaurant in der Sixth Avenue, zwischen Waverly Place und 8. Straße, weil von da aus sowohl das Hotel als auch das Ziel meiner Nachforschungen für Thomas gut zu erreichen war.
Als ich Thomas sagte, wo ich zu Mittag essen würde, schloss er die Augen und rezitierte: »In der Avenue of the Americas, meistens kurz Sixth Avenue genannt, glaub ich, gleich beim Waverly Place. Über der Tür hängt ein Neonschild, ›Waverly‹ grün, ›Restaurant‹ rot geschrieben. Direkt gegenüber gibt es einen Duane Reade Drugstore und südlich davon, gegenüber dem Waverly Place, da gibt’s einen Laden, der Vitamine verkauft. Das ›t‹ von ›Restaurant‹, das erste meine ich, leuchtet nicht, wenn man von Westen den Waverly Place entlanggeht.«
Ich stand vor Sonnenaufgang auf, fuhr nach Albany, nahm den Zug am Bahnhof Rensselaer und bekam auf der zweieinhalbstündigen Fahrt sogar noch eine Mütze voll Schlaf. Solange ich wach war und die Landschaft am Fenster vorbeiflitzen sah, hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, ob es so klug gewesen war, Thomas nachzugeben und die Adresse in der Orchard Street, wo er den Kopf in der Plastiktüte gesehen hatte, in Augenschein zu nehmen. Möglicherweise stachelte ich seine Neugier nur noch mehr an.
Doch wenn ich meinen Bruder auf diese Art davon abhalten konnte, weitere Nachrichten an Bundesbehörden zu verschicken und damit noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dann war es klug. Wenn ich ihn nicht gleich in eine Zwangsjacke stecken wollte, dann war das der einzige Weg, solche Kommunikationsversuche zu unterbinden. Den Stecker seines Computers würde ich nie wieder ziehen, und selbst wenn ich bereit gewesen wäre, die verheerenden Folgen so eines Eingriffs noch einmal heraufzubeschwören, Thomas hätte immer noch die Möglichkeit, jemanden anzurufen. Er konnte auch Briefe schreiben und mit der Post befördern lassen. Er verließ zwar ohnehin ungern das Haus, trotzdem wollte ich nicht, dass er sich wie ein Gefangener vorkam, dessen Kontakt zu anderen Menschen streng kontrolliert wurde.
Einen Haken hatte es allerdings, meinem Bruder in dieser Sache seinen Willen zu lassen: Wie verhielt ich mich, wenn er morgen etwas anderes entdeckte? In einem anderen Fenster in einer anderen Stadt? Und wenn diese Stadt zufällig gerade Istanbul war? Erwartete er auch dann von mir, dass ich der Sache nachging?
Wahrscheinlich musste ich von Fall zu Fall neu mit Thomas verhandeln. Wenn er demnächst auf einer seiner virtuellen Reisen wieder auf etwas stieß, das ich für ihn überprüfen sollte, dann könnte ich ihn darauf hinweisen, dass mein letztes Entgegenkommen mich einen ganzen Tag gekostet hatte, von dem Geld für die Bahnfahrkarte gar nicht zu reden. Ob so eine Argumentation meinen Bruder allerdings von irgendetwas abbringen würde, darüber konnte ich nur spekulieren.
Bei diesem Bagatellschaden in Boston, wegen dem er so außer sich geraten war, hatte ich ihn immerhin davon abhalten können, voreilig etwas zu unternehmen. Es war also möglich, ihn von Nebensächlichkeiten abzulenken. Doch etwas an diesem verhüllten Gesicht hatte ihn anscheinend besonders aufgewühlt.
»Die Leute schauen zu wenig nach oben«, hatte er zu mir gesagt.
Ich war froh, dass ich im Zug Zeit für mich hatte und meinen Gedanken freien Lauf lassen konnte. Sie kehrten immer wieder zu meinem Vater zurück. Vielleicht projizierte ich ja zu viel in dieses Wort hinein, das er recherchiert hatte.
Er hatte etwas über Kinderprostitution in den Nachrichten gesehen.
Er war entsetzt.
Er wollte mehr erfahren.
Basta.
Wie hatte ich meinen Gedanken nur so die Zügel schießen lassen können?
Ich hatte mir einen Ausdruck der Szene am Fenster mitgenommen. Während der Zug den Hudson entlangfuhr, sah ich ihn mir noch einmal ganz genau an. Ich musste zugeben, von dem Bild ging eine besondere Wirkung aus. Dass der Kamerawagen von Whirl360 bei seinem Einsatz in Manhattan buchstäblich im Vorbeifahren einen gerade stattfindenden Mord aufgenommen haben sollte, schien mir im Gegensatz zu Thomas sehr weit hergeholt. Allerdings immer weniger, je länger ich das Foto betrachtete. Es sah tatsächlich so aus, als würde hier ein Mensch erstickt, als hätte sich jemand von hinten angeschlichen, ihm eine Tüte über den Kopf gestülpt und festgezogen.
Aber natürlich wusste ich, dass es auch zig andere Erklärungen geben konnte. Das Ding sah zum Beispiel aus wie einer dieser weißen Styroporköpfe, die zur Aufbewahrung von Perücken benutzt wurden. Vielleicht stand so einer ja auf diesem Gehäuse der Klimaanlage. Oder jemand war just in dem Moment, als das Foto geschossen wurde, mit so einem Kopf am Fenster vorbeigegangen.
Das Bild hatte eine sehr grobkörnige Auflösung.
Ich hatte Thomas angeboten, erst mal im Internet zu recherchieren, bevor ich zu dieser Aufklärungsfahrt aufbrach. Bei dem, wofür mein Bruder den Computer nutzte, war er eine Kanone, aber bei der Informationssuche im Internet hatte ich die Nase vorn. Ich holte also Dads Laptop mit der gelöschten Chronik und tippte »Orchard Street New York« ins Suchfeld ein. Bevor ich die Suche startete, fügte ich noch schnell das Wort »Mord« hinzu.
Ehrlich gesagt wollte ich damit nur Thomas den Wind aus den Segeln nehmen. Wenn wir bei unserer Suche keine Geschichten über Leute fanden, die an Fenstern erstickt wurden, dann würde er das Ganze hoffentlich ein bisschen weniger verbissen sehen.
Und tatsächlich gab es keine Geschichten von Leuten, die an Fenstern erstickt wurden. Doch die Suche ergab ein paar sehr interessante Treffer. Ich wurde auf eine Seite der New York Times geleitet, die sämtliche Artikel auflistete, in denen die Orchard Street vorkam. Ich las ein paar, in denen von Menschen die Rede war, die dort gestorben waren, und zwar keines natürlichen Todes. Im Mai 2003 war ein Mann von einem Mercedes-Cabrio überfahren worden, dessen Lenker Fahrerflucht beging. Mitte der neunziger Jahre veranlasste die Fehde zwischen zwei Besitzern eines Handtaschenladens den Sohn des einen dazu, einen Auftragskiller zu engagieren, um den anderen aus dem Weg zu räumen. Durch das rechtzeitige Eingreifen der Polizei konnte die Ausführung der Tat verhindert werden. Vor sieben Jahren war ein junger Bankangestellter durch einen Schuss in die Brust getötet worden. Dieser Mord geschah ebenfalls in der Orchard Street, zwischen der Grand und der Broome Street. Die Polizei folgte bei ihren Ermittlungen einander widersprechenden Theorien. Kannte das Opfer den Täter oder war es der berühmte Unbekannte?
All das hatte sich ereignet, bevor es Whirl360 überhaupt gab. Wir wussten zwar nicht, wann das Foto des Kopfes am Fenster aufgenommen worden war, aber älter als zwei, drei Jahre war es bestimmt nicht. Aus dieser Zeit gab es keine Berichte über verdächtige Todesfälle in der Orchard Street, zumindest keinen, bei dem jemand gestorben war, weil man ihm eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hatte. Der einzige einigermaßen interessante Artikel war eine Kurzmeldung über eine einunddreißigjährige Kellnerin namens Allison Fitch. Sie hatte in der Orchard Street (keine genauere Angabe) gewohnt und war in der letzten Augustwoche des vergangenen Jahres als vermisst gemeldet worden. Die Meldung stammte aus der ersten Septemberwoche. Da ich jedoch keine Folgeartikel fand, nahm ich an, dass die Sache sich von selbst erledigt hatte. In den Vereinigten Staaten verschwanden jeden Tag Tausende Menschen und tauchten innerhalb der nächsten Stunden wieder auf. Es gab genügend Statistiken darüber, wenn man es genau wissen wollte.
Ich stieg an der Penn Station aus und machte mich als Erstes auf den Weg in die Canal Street, zu Pearl Paint, einem Riesenladen für Künstlerbedarf. Fast zwei Stunden schlenderte ich ohne besonderes Ziel von einer Etage zur nächsten. Schließlich verließ ich das Geschäft mit einem Dutzend Airbrush-Nadeln und zwei Luftkappen, sowie je einer Schachtel schwarzer Fineliner mit feiner und mit breiter Spitze. Davon hatte ich zwar bereits einen ausreichenden Vorrat zu Hause in Burlington, aber Fineliner konnte man schließlich nie genug haben.
Dann ließ ich mich mit dem Taxi zum Waverly Restaurant bringen. Bevor ich hineinging, wollte ich noch sehen, wie gut Thomas, der noch nie in Fleisch und Blut hier gewesen war, die Gegend beschrieben hatte.
Der Vitaminladen war da, der Duane Reade auf der anderen Straßenseite ebenfalls. Sogar mit dem durchgebrannten Buchstaben auf dem Schild hatte er recht gehabt.
Er war schon ein Ass, da konnte man sagen, was man wollte.
Jeremy saß bereits in einer Fensternische, eine Tasse Kaffee vor sich und die Speisekarte in der Hand. Ich schlüpfte in die Bank ihm gegenüber.
»Du wirst nicht glauben, neben wem ich beim Pinkeln gestanden habe«, sagte er. Jeremy versuchte immer, mich zu beeindrucken, indem er mir von Promis erzählte, mit denen er schon Tuchfühlung gehabt hatte.
»Ich kann’s mir echt nicht vorstellen.«.
»Philip Seymour Hoffmann«, sagte er. »Auf der Herrentoilette in einem der Theater am Lincoln Center.«
»Bitte sag mir, dass du ihn nicht angequatscht hast.«
Hatte er nicht. Ich zeigte auf die gerahmten alten Schwarzweißfotos von Prominenten, die im ganzen Lokal die Wände zierten.
»Hattest du von denen auch schon einen zum Pinkelnachbarn?«
»Die sind doch alle tot«, sagte Jeremy.
Ich bestellte mir Kaffee und Grillkäse mit Speck. Jeremy nahm Rührei und hausgemachte Pommes direkt in der Pfanne serviert. Wir plauderten über den Niedergang des Zeitungs- und Zeitschriftensektors und den Aufschwung von Websites wie Huffington Post, und waren uns einig, dass dieses neue Medium genau zur rechten Zeit aufgetaucht war.
Jeremy sagte, Kathleen Ford wolle einen animierten Cartoon pro Woche und sei bereit, fünfzehnhundert Dollar pro Stück zu zahlen. Das klang nach viel Geld, doch es war auch viel Arbeit. Dafür waren nämlich Unmengen von Zeichnungen nötig. »Ich wette, da gibt’s irgendwelche Programme, um das Ganze zu vereinfachen.«
Ich kannte tatsächlich welche, mit denen ich mir einiges an Zeit sparen konnte. Mit ihrer Hilfe konnte ich eine Idee in ein, zwei Tagen umsetzen. So bliebe mir sogar noch Zeit für andere Aufträge.
Jeremy bezahlte die Rechnung, dann fuhren wir mit dem Taxi zum Hotel. Kathleen Ford kam eine Viertelstunde zu spät, aber so, wie sie aussah, hatte sie es nicht nötig, sich zu entschuldigen, egal wie sehr sie sich verspätete. Die Leute waren dankbar, dass sie überhaupt kam. Sie war groß, schlank, Mitte fünfzig und hatte glänzendes blondes Haar. Hätte ich einen Blick auf die Etiketten ihrer Kleider werfen dürfen, hätte ich da bestimmt Chanel, Gucci, Hermès und Diane von Schlagmichtot gelesen. Sie sprühte vor Charme, und als wir uns an die Bar verfügt hatten – in diesem Zusammenhang war mir das Wort noch nicht so oft untergekommen –, sagte sie, sie sei ein Riesenfan meiner Illustrationen, und redete fast nonstop über all die wichtigen New Yorker, die ganz bestimmt für ihre neue Website schreiben würden, auch Donald Trump, sie kenne ihn übrigens sehr gut, sei aber trotzdem noch nicht hinter das Geheimnis seines Haares gekommen. Sie stellte mir nicht eine einzige Frage, außer wie es meinem Vater gehe, sie habe gehört, er sei ein wenig unwohl. Dann, schon im Begriff, sich zu ihrem nächsten Termin zu verfügen, sagte sie noch, ich hätte den Job, und die Website sei in drei Monaten startklar.
Ich nahm an.
Als sie gegangen war, sagte Jeremy, er habe das Gefühl, hier sei gerade ein Tornado durchgefegt. Wir verabredeten, bald wieder zu telefonieren, und ich ging. Vor dem Hotel winkte ich ein Taxi heran.
»Houston Ecke Orchard«, sagte ich, und der Wagen fuhr los. Ich lehnte mich auf dem schwarzen Vinylsitz zurück. Eins war sicher: Ein Vorstellungsgespräch wie dieses hatte ich noch nie erlebt. Ich lachte in mich hinein.
Dann wandte ich mich der Aufgabe zu, die jetzt auf mich wartete. Mir war völlig schleierhaft, was ich eigentlich tun sollte. Ich dachte an mein gestriges Gespräch mit Thomas.
»Und wenn ich vor dem Haus in der Orchard Street stehe«, hatte ich gesagt, »was soll ich da tun? Ich meine, am Fenster wird der Kopf nach so langer Zeit wohl nicht mehr sein.«
»Ich weiß nicht«, sagte Thomas. »Dir wird schon was einfallen.«