Sechsunddreißig
Als Julie gegangen war, wollte Thomas mir nicht von seinem Gespräch mit dem Vermieter erzählen. Er sagte, er habe sich zu sehr über mich geärgert. Er ging wieder in sein Zimmer hinauf und schloss die Tür. Ich konnte hören, wie er mit einem unserer früheren Präsidenten plauderte.
Daher stellte ich am nächsten Morgen keine Fragen. Als er in die Küche kam, erkundigte ich mich nur, welche Frühstücksflocken er wolle.
Thomas hatte seine Schale halb leer gegessen und ich schenkte mir gerade eine zweite Tasse Kaffee ein, da fragte er: »Willst du gar nicht wissen, was ich gestern erfahren habe?«
»Von wem?«, fragte ich zurück in der Annahme, er spräche von Bill Clinton.
»Na, vom Vermieter. Mr. Papadapolous.«
»Wenn du’s mir sagen willst. Gestern Abend wolltest du ja nicht. Es ist deine Entscheidung.«
»Ich glaube, ich hab ihn aufgeweckt«, sagte Thomas. »Er klang sehr verärgert. Und es war auch nicht leicht, ihn zu verstehen. Er hatte so einen Akzent.«
»Ich wette, einen griechischen.«
»Wieso?«
»Egal. Erzähl weiter.«
»Ich habe ihm gesagt, wie ich heiße, und dass ich ein freier Mitarbeiter der CIA bin.«
Ich stellte meine Tasse ab. »Mensch, Thomas!«
»Ich wollte nicht lügen. Und ich glaube, dass er eher bereit war, meine Fragen zu beantworten, nachdem ich ihm gesagt hatte, wer ich bin.«
Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis das FBI wieder vor der Tür stand. Dass Thomas die CIA mit E-Mails bombardierte, hatten sie ihm vielleicht noch durchgehen lassen. Aber wenn er anfing, sich als Mitarbeiter der CIA auszugeben? Jetzt konnte es nur noch schlimmer werden.
»Ich habe ihn gefragt, wer früher da gewohnt hat.«
»Und?«
»Zwei Frauen.«
»Das hat die Nachbarin auch gesagt«, erinnerte ich ihn.
»Ich habe ihn gefragt, ob die beiden Schwestern waren oder Mutter und Tochter oder nur Freundinnen, und er hat gesagt, sie hätten zusammen gewohnt, wären aber keine besonders guten Freundinnen gewesen, denn manchmal bezahlte die eine ihren Teil der Miete nicht rechtzeitig, und dann musste die andere einspringen.«
Ich nickte. »Gute Fragestellung.«
»Er hat mir ihre Namen gesagt. Die eine hieß Courtney und die andere … ich glaube, er hat Olsen gesagt, aber bei seinem Akzent war das kaum zu verstehen.«
»Das ist ein Vorname und ein Nachname.«
»›Olsen‹ ist auch ein Vorname. Die Nachnamen weiß ich. Ich hab sie aufgeschrieben. Er hat gesagt, soweit er weiß, haben sie Olsen noch immer nicht gefunden.«
Jetzt wurde es interessant. »Nicht gefunden? Was soll das heißen, sie haben sie noch immer nicht gefunden?«
»Das hab ich ihn auch gefragt. Da hat er gesagt, die bei der CIA müssen ganz schön dämlich sein, wenn sie das nicht alles längst schon wissen, und da musste ich ihm erklären, dass die CIA eine riesige Organisation ist und viele Unterabteilungen hat und –«
»Und dann? Was hat er dir noch gesagt?«
»Dass Olsen verschwunden ist. Ich hab ihn gefragt, wer jetzt in der Wohnung wohnt, und er hat gesagt niemand.«
»Das hab ich dir auch gesagt.«
»Aber«, sagte Thomas mit erhobenem Zeigefinger, als wäre er Sherlock Holmes, »die Wohnung ist vermietet.«
»An wen?«
»Einen Mr. Blocker«, sagte Thomas.
»Wer ist das?«
»Der Mann, der die Wohnung gemietet hat.«
»Das weiß ich, aber wer ist er?«
»Keine Ahnung«, sagte Thomas. »Warum sollte jemand eine Wohnung mieten, sie dann aber nicht benutzen?«
»Dafür gibt es viele Gründe. Vielleicht wohnt er nicht in New York, muss aber geschäftlich oft hin.«
Thomas hatte Zweifel. »Das kommt mir aber sehr verschwenderisch vor.«
»Leute, die Geld haben, kümmern sich nicht darum, ob etwas verschwenderisch ist oder nicht. Für sie ist es einfach praktischer, eine eigene Wohnung zu haben, als jedes Mal ein Zimmer zu mieten, wenn sie in die Stadt kommen.«
Das war für Thomas nur schwer zu akzeptieren. »Ich weiß nicht. Aber ich glaube, dass das am Fenster diese Olsen ist. Sie wurde umgebracht und deshalb hat sie niemand mehr gesehen.«
»Aha. Und warum wurde sie umgebracht?«
Er überlegte einen Augenblick. »Damit Mr. Blocker ihre Wohnung haben kann, wenn er nach Manhattan kommt.«
Ich lachte. »Also das ist deiner Meinung nach des Rätsels Lösung? Jemand brauchte eine Wohnung und beging einen Mord, um eine zu kriegen?«
»Ich habe gehört, dass es in New York schwierig ist, an Mietwohnungen zu kommen«, sagte Thomas todernst.
»Ich war in dem Haus. Ich glaube nicht, dass es da eine Wohnung gibt, für die jemand einen Mord begehen würde.« Ich legte die Hände auf den Tisch. »Hör zu, Thomas, gehen wir das Ganze doch noch mal durch. Alles, was wir wissen, ist, dass da einmal zwei Frauen gewohnt haben und dass sie jetzt nicht mehr da wohnen. Und dein Freund, der Vermieter, sagt, Mr. Blocker zahlt jetzt die Miete, wohnt aber nicht da.«
»Der Vermieter ist nicht mein Freund. Ich kenne ihn nicht einmal.«
»Du hast recht. Aber das bisschen, was wir wissen, reicht noch nicht für einen Mord.«
»Aber eine Frau wird vermisst.«
»Sagt der Vermieter, der allerdings kein Ermittler bei der New Yorker Polizei ist. Vielleicht ist die Frau ja wieder aufgetaucht, nur hat sich niemand die Mühe gemacht, es ihm zu sagen.«
»Gute Idee«, sagte Thomas.
»Was ist eine gute Idee?«
»Die Polizei in New York anzurufen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass das eine gute Idee ist. Ich habe nur gesagt, dass der Vermieter nicht unbedingt die beste Informationsquelle ist.«
»Dann sollten wir zur besten Quelle gehen.«
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«
»Dann kann ich ja eine E-Mail an die CIA schicken und darum bitten, dass sie sich mit ihnen in Verbindung setzen.«
Das war jetzt ganz bestimmt keine gute Idee.
»Gut«, sagte ich, »überlass das mir. Ich werde bei der New Yorker Polizei anrufen und mich erkundigen, ob die verschwundene Frau wieder aufgetaucht ist.«
»Und sag ihnen auch, sie sollen sich auf Whirl360 das Gesicht an diesem Fenster in der Orchard Street ansehen.«
»Alles klar.«
Thomas widmete sich wieder seinen Frühstücksflocken. Ich stieß einen unhörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Damit war die Sache erledigt. Allerdings auf eine andere Art, als Thomas sich das wohl vorgestellt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei der Polizei in New York anrufen würde, war ungefähr genauso hoch wie die, dass sich dort jemand für einen eventuellen Anruf meinerseits interessieren würde.
Ich konnte direkt hören, wie der New Yorker Ermittler reagierte, wenn ich ihm erzählte, dass mein Bruder glaubte, einen Mord im Internet gesehen zu haben. Derselbe Bruder, der mittlerweile beim FBI aktenkundig war, weil er einem ehemaligen Präsidenten Berichte schickte, um ihn über seine Fortschritte beim Auswendiglernen von Stadtplänen auf dem Laufenden zu halten.
O ja, diesen Anruf musste ich machen. Unbedingt.
Zu Thomas sagte ich: »Darf ich dich was fragen?«
»Schieß los«, sagte er. Ein Tropfen Milch lief ihm übers Kinn.
»Wenn dieser GAU passiert, wenn alle Karten im Internet sich in Luft auflösen, was wird deiner Meinung nach die Ursache dafür sein?«
Er legte seinen Löffel aus der Hand und tupfte sich das Kinn mit einer Papierserviette ab.
»Ich halte einen Angriff von Aliens für am wahrscheinlichsten«, sagte er ganz sachlich. »Höchstwahrscheinlich von außerhalb unseres Sonnensystems. Es wäre allerdings auch möglich, dass er von der Venus oder vom Mars kommt. Wenn die Außerirdischen unsere Kartographiesysteme außer Gefecht setzen, wird es für sie leichter sein, unbemerkt irgendwo zu landen.«
Ein Gefühl der Trauer und Hoffnungslosigkeit überkam mich.
»Reingelegt!«, sagte Thomas ohne den leisesten Anflug eines Lächelns. »Du müsstest mal dein Gesicht sehen.«
Ich sagte Thomas, ich führe in die Stadt und wäre in etwa einer Stunde wieder zurück.
Er klickte munter weiter. »Mhm.«
»Ich möchte, dass du heute Mittagessen machst. Für uns beide. Und ich mache Abendessen.«
Jetzt hörte er auf und wirbelte herum. »Und wegräumen soll ich auch?«
»Ja. Hey, Julie hat mir erzählt, dass du in der Highschool auf Margaret Tursky gestanden hast. Stimmt das?«
»Ich wüsste nicht, dass dich das irgendwas angeht.«
Einen Versuch war’s wert.
»Bis später«, sagte ich. Er nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ich hatte nicht vor, lange auszubleiben. Eigentlich sollte Thomas also keine Gelegenheit haben, irgendeinen Unfug anzustellen, aber man konnte nie wissen.
Kurz darauf klingelte ich an der Tür der eingeschossigen Ranch am Ridgeway Drive. Es war Marie Prentice, die mir öffnete.
»Ray, das ist ja eine Überraschung!«, sagte sie und hielt mir die Fliegengittertür auf. »Len! Ray ist da! Hast du deinen Bruder mitgebracht, Ray? Ist er noch im Wagen?«
»Ich bin allein da, Marie«, sagte ich und betrat das Haus.
»Ach, das ist aber schade!«, sagte sie. Trotz der Kurzatmigkeit in ihrer Stimme, strotzte jede einzelne Silbe dessen, was sie sagte, vor Begeisterung. »Ich hätte mich so gefreut, ihn zu sehen.«
Marie sammelte Miniaturen von Waldlebewesen, und diese bevölkerten so gut wie jede freie Fläche im Haus. Auf dem zierlichen Tischchen in der Diele wimmelte es von Rehen, Waschbären, Eichhörnchen und Streifenhörnchen, und keine zwei davon waren im gleichen Maßstab. Wenigstens hoffte ich das, denn sonst liefen irgendwo Streifenhörnchen frei herum, die sich locker Bambi zum Mittagessen hätten einverleiben können.
Im Wohnzimmer erspähte ich weitere Filialen der Menagerie. Len hatte auf dem Couchtisch gerade noch ein wenig Platz für seine Fernbedienungen freischieben können, alles andere war von den Tieren besetzt. Marie sah sich auch als Malerin, deshalb waren die Wände mit selbstgemalten Bildern von Eulen und Elchen und Häschen vollgehängt.
»Len!«, rief sie noch einmal aus voller Kehle.
Eine Tür im Flur ging auf, und Len kam aus dem Keller. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er viel Zeit dort unten verbrachte. Ich wusste, dass er da eine Werkstatt hatte und Möbel schreinerte.
»Ray ist gekommen!«, sagte Marie. »Ist das nicht nett?«
Ein kleines nervöses Lächeln zeigte sich auf Lens Gesicht. »Hallo«, sagte er. »Bist du allein da?«
»Ja«, sagte ich.
»Möchtest du Kaffee?«, fragte Marie. »Ich wollte gerade frischen machen.«
»Bloß keine Umstände«, sagte ich. »Ich wollte nur kurz mit Len reden.«
»Dann komm doch mit runter. Ich zeig dir, was ich gerade baue«, sagte er. Der Blick, mit dem er mich dabei ansah, sagte mir, dass er genau wusste, warum ich hier war, und dass er nicht vor seiner Frau darüber reden wollte.
»Gut.«
»Bist du sicher, dass du nichts willst?«, fragte Marie und folgte uns zur Kellertür.
»Wir sind wunschlos glücklich, Marie«, sagte Len und deutete mir mit dem ausgestreckten Arm vorauszugehen. Er schloss die Tür und folgte mir.
»Schöne Werkstatt«, sagte ich. Allem Anschein nach hatte Len in diesem gut beleuchteten Raum jedes nur erdenkliche Profiwerkzeug: Stichsäge, Standbohrmaschine, Drehbank, eine große Werkbank, einen Hochdruckstaubsauger. Eine Wand war vollgehängt mit Handwerkzeugen jeder Art. Am anderen Ende des Raums führte eine breite Treppe hinauf zu einer zweiflügeligen Kohlenklappe. So schaffte er die Möbel also aus dem Keller. Nirgendwo entdeckte ich auch nur ein Körnchen Sägemehl. Allerdings sah ich auch nirgendwo ein Werkstück in Arbeit. Keine Stuhlbeine oder Schubladen oder Schranktüren warteten darauf, zu einem Möbelstück verarbeitet zu werden.
»Ich hab’s gern ordentlich«, sagte Len.
»Woran arbeiten Sie denn gerade?«, fragte ich. »Hier sieht’s doch reichlich aufgeräumt aus.«
»Im Moment an nichts«, sagte Len. »Ich dachte nur, du wolltest unter vier Augen mit mir reden.«
»Thomas hat mir von dem gestrigen Vorfall erzählt«, sagte ich. »Ich wollte Genaueres hören. Anscheinend hat Thomas Sie geschlagen.«
Len berührte seine Wange. »Ja. Na ja.«
»Tut mir leid. Das hätte er nicht tun dürfen.«
»Er kann wahrscheinlich nichts dafür«, sagte Len. »Verrückt wie er ist.«
»Er ist nicht verrückt«, entgegnete ich. »Er hat eine psychische Störung. Das wissen Sie ganz genau.«
»Ach, komm, Ray. Das ist doch nur eine nette Art zu sagen, er ist verrückt wie ein zweiköpfiges Huhn.«
Ich spürte ein Kribbeln im Nacken. »Was ist genau passiert? Als Sie bei uns waren?«
»Ich hab reingeschaut, weil ich wissen wollte, wie ihr Jungs klarkommt, weil euer Vater gewollt hätte, dass ich das tu, aber du warst nicht da, nur Thomas. Er hat gesagt, du wärst in New York.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich wollte ihm eine Freude machen, das ist passiert.«
»Dann verstehe ich aber nicht, dass Thomas deswegen wütend geworden ist.«
»Ich wollte ihn nur –«
»Alles in Ordnung bei euch da unten?«, rief Marie von oben. Sie hatte die Tür aufgemacht.
»Alles bestens, Herrgott noch mal!«, schnauzte Len sie an.
Die Tür schloss sich.
Len räusperte sich. »Ich wollte ihn zum Essen einladen«, fuhr er fort.
»Sie wissen doch, dass Thomas das Haus nicht gern verlässt«, sagte ich, ohne allerdings hinzuzufügen, dass er es insbesondere nicht gern verlassen hätte, um mit Len irgendwohin zu gehen.
»Ja, ja, ich weiß schon, aber ich dachte, es würde ihm guttun. Er kann sich doch nicht tagein, tagaus dort verbarrikadieren. Das ist einfach nicht gesund. Euren Dad hat das wahnsinnig gemacht.«
»Also, wie kam’s dazu, dass Thomas Sie geschlagen hat?«
Len zuckte müde die Achseln. »Kann sein, dass ich ihn zu sehr gedrängt habe. Ich wollte ihn überreden, mitzukommen. Hab seinen Arm genommen, wie man’s halt so macht, um ihn ein bisschen anzuschieben. Er riss sich los, und dabei hat er mich an der Wange erwischt. Wenn Thomas gesagt hat, dass da mehr war, wenn er sagt, dass ich absichtlich grob zu ihm war … das stimmt nicht. Das ist wieder so eins von seinen Hirngespinsten, mehr nicht.«
»Er hat nichts Derartiges gesagt.«
Len nickt befriedigt. »Dann ist es ja gut. Verrückte erzählen nämlich allen möglichen Scheiß, der gar nicht stimmt, wenn du weißt, was ich meine. Himmelherrgott, er glaubt, er hat einen früheren Präsidenten zum Freund.«
»Len, Sie haben es wahrscheinlich gut gemeint«, sagte ich mit sachlicher, entschlossener Stimme, »und ich weiß, dass Sie lange Jahre mit meinem Vater befreundet waren. Aber bei allem Respekt, ich werde es nicht zulassen, dass Sie Thomas als Verrückten bezeichnen. Er ist ein lieber, harmloser, anständiger Mensch. Ich will nicht behaupten, dass er nicht ein bisschen anders ist. Das ist auch mir klar. Aber Sie haben kein Recht, so über ihn zu reden. Und wenn er Ihre Einladung zum Essen nicht annehmen will, dann haben Sie das genauso zu respektieren wie bei jedem anderen.« Ich holte Luft.
Als ich mich zum Gehen umwandte, sagte Len. »Ganz so harmlos ist er aber nicht.«
»Was?«
»Euer Vater hat’s mir erzählt. Thomas konnte richtig wütend werden. Einmal hat er sogar versucht, euren Dad die Treppe runterzustoßen. Natürlich fand er alle möglichen Entschuldigungen für das Benehmen deines Bruders, aber wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: Der Junge gehört in die Klapse.«