Zwei
Ich stieg in den Wagen und fuhr zum Haus meines Vaters zurück.
Noch lange nach dem Tod meiner Mutter war es für mich das Haus meiner Eltern gewesen, auch als mein Vater ohne sie dort wohnte. Ein volles Jahr hatte ich gebraucht, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Dad war noch nicht mal eine Woche tot. Mir war klar, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis es in meinen Gedanken nicht mehr das »Haus meines Vaters« war.
Das war es nämlich nicht. Nicht mehr. Es war meines.
Und das meines Bruders.
Ich hatte nie da gewohnt. Es gab ein Gästezimmer, in dem ich schlief, wenn ich zu Besuch kam, doch darin gab es keine Andenken an meine Kindheit. Keine Kommodenschublade mit stapelweise Playboy und Penthouse, keine Regale voller Modellautos, keine Poster an den Wänden. Ich war schon einundzwanzig, als meine Eltern das Haus kauften, und wohnte nicht mehr bei ihnen in unserem alten Haus am Stonywood Drive im Zentrum von Promise Falls. Meine Eltern hatten gehofft, dass einer ihrer Söhne es zu etwas bringen würde, diesen Traum aber auf Eis gelegt, als ich die Uni in Albany schmiss und mir einen Job in Saratoga Springs suchte. In einer Kunstgalerie in der Beekman Street.
Meine Eltern waren nie Farmer gewesen, doch als sie dieses Anwesen sahen, war die Sache entschieden. Erstens war es auf dem Land, der nächste Nachbar mehrere hundert Meter weit weg. Da waren sie ungestört, sogar ein bisschen isoliert. Damit verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem weiteren Zwischenfall kam.
Zweitens hatte mein Vater es auch von hier nicht allzu weit zur Arbeit. Allerdings fuhr er nicht durch die Innenstadt von Promise Falls und auf der anderen Seite wieder heraus, sondern er nahm die Umgehungsstraße, die Ende der siebziger Jahre gebaut worden war. Dad arbeitete gern bei P&L. Er wollte sich nichts anderes suchen, nur weil er dann einen kürzeren Anfahrtsweg gehabt hätte.
Drittens war das Haus mit seinen Gauben und seiner rundumlaufenden Veranda einfach entzückend. Mom hatte immer gern da gesessen, und drei Viertel des Jahres war das auch möglich. Zum Haus gehörte eine Scheune, die Dad eigentlich gar nicht brauchte. Er hatte dort nur sein Werkzeug und den Rasentraktor stehen. Aber beide liebten den Anblick dieses Gebäudes, auch wenn dort im Sommer kein Heu eingelagert wurde.
Das dazugehörige Grundstück war riesig, aber meine Eltern hielten nur ein knappes Hektar in Schuss. Hinter dem Haus gab es einen Garten, der sich ungefähr fünfzig Meter über ebenes Gelände erstreckte. Danach fiel er zu einem Bach hin ab und war nicht mehr einzusehen. Der Bach schlängelte sich bis zum Fluss, der wiederum mitten durch Promise Falls floss und schließlich den Wasserfall bildete, welcher der Stadt ihren Namen gab.
Seit meiner Rückkehr war ich erst einmal unten am Bach gewesen. Ich hatte dort zwar noch etwas zu erledigen, aber darauf musste ich mich erst noch seelisch vorbereiten.
Ein Teil des ebenen, baumlosen Geländes jenseits der Fläche, die Dad pflegte, war als Farmland an Nachbarn verpachtet. Das hatte meinen Eltern jahrelang ein – wenn auch nur symbolisches – Nebeneinkommen beschert. Die nächstgelegenen Wälder befanden sich jenseits der Schnellstraße. Wenn man von der Hauptstraße ab- und die Zufahrt hochfuhr, saßen das Haus und die Scheune am Horizont wie zwei Kisten auf einem Podest. Mom hatte immer gesagt, sie liebe diese lange Auffahrt, weil sie ihr genügend Zeit ließ, sich auf alles gefasst zu machen, wenn Besuch kam, was – wie sie selbst sofort zugegeben hätte – nicht oft geschah.
»Die Leute kommen nur selten mit guten Nachrichten zu einem«, hatte sie mehr als einmal gesagt. Und sie sprach aus Erfahrung. Am nachhaltigsten war ihr der Besuch der Regierungsangestellten in Erinnerung, die, als sie ein junges Mädchen war, gekommen waren, um ihrer Mutter mitzuteilen, dass ihr Mann nicht aus Korea zurückkehren werde.
Ich fuhr mit meinem Audi Q5 dicht an die Verandastufen heran und parkte ihn neben dem zehn Jahre alten Chrysler meines Vaters. Er hielt nicht viel von meinem deutschen Gefährt. Er hatte seine Zweifel, dass es richtig war, die Wirtschaft von Staaten zu fördern, gegen die wir einst Krieg geführt hatten. »Und wenn sie eines Tages Autos aus Nordvietnam importieren«, hatte er vor ein paar Monaten zu mir gesagt, »dann kaufst dir wahrscheinlich auch so eins.« Da ihn das derart bekümmerte, bot ich ihm an, seinen geliebten Sony-Fernseher zurückzubringen, dessen Bildschirm so groß war, dass er bei den Play-off-Spielen des Stanley Cup sogar den Puck sehen konnte.
»Immerhin kommt er aus Japan«, hatte ich gesagt.
»Rühr das Ding ja nicht an, sonst reiß ich dir den Kopf ab«, hatte er erwidert.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg ich die Verandatreppe hoch, sperrte die Haustür auf und ging in die Küche. Ich hatte immer meinen eigenen Schlüssel gehabt, musste mir also nicht erst den von Dads Schlüsselbund abmachen. Die Wanduhr zeigte fast halb fünf. Zeit, sich langsam über das Abendessen Gedanken zu machen.
Ich inspizierte den Kühlschrank, um zu sehen, was vom allerletzten Einkauf meines Vaters noch übrig war. Er war zwar kein großer Koch gewesen, die Grundbegriffe der Essenszubereitung hatte er jedoch beherrscht. Er konnte Wasser für Nudeln zum Sieden bringen und ein Hähnchen im Ofen braten. Für die Tage, an denen er sich zu so etwas Raffiniertem nicht aufschwingen konnte, hatte er die Tiefkühltruhe bis oben hin mit Hamburgern, Fischstäbchen, Pommes und Fertiggerichten vollgestopft. Er hätte problemlos seinen eigenen Tiefkühlvertrieb aufziehen können.
Für heute würde noch reichen, was der Kühlschrank hergab, aber morgen würde ich um eine Einkaufsfahrt nicht herumkommen. Um die Wahrheit zu sagen, auch an mir war kein Koch verlorengegangen, und daheim in Burlington gab es viele Abende, an denen eine Schüssel Cheerios das Aufwendigste war, zu dem ich mich aufraffen konnte. Ich glaube, wenn man allein lebt, ist es sehr schwierig, sich zu motivieren, richtig zu kochen oder anständig zu essen. Oft genug aß ich abends in der Küche im Stehen und sah mir dabei die Nachrichten im Fernsehen an. Oder ich nahm mir meine Lasagne aus der Mikrowelle mit nach oben ins Arbeitszimmer und aß am Zeichentisch.
Im Kühlschrank standen auch sechs Dosen Budweiser. Mein Vater hatte nichts übrig gehabt für teures Chichi-Bier. Es fühlte sich irgendwie komisch an, seinen letzten Sechserpack zu schlachten, doch das hielt mich nicht davon ab, eine Dose herauszunehmen und zu öffnen.
»Auf dich, Dad«, sagte ich und hob die Dose. Dann setzte ich mich an den Küchentisch.
Das Haus war noch fast so aufgeräumt wie bei meiner Ankunft. Mein Vater war sehr akkurat, weshalb es ihm umso schwerer gefallen war, den Zustand des oberen Flurs zu akzeptieren. Ich führte seine Pingeligkeit auf seine Zeit beim Militär zurück. Nach seiner Einberufung hatte er zwei Jahre gedient, den größten Teil davon in Vietnam. Er sprach nie darüber. »Vorbei ist vorbei«, sagte er jedes Mal, wenn das Thema zur Sprache kam. Er selbst neigte eher dazu, seine Gewohnheiten seiner Arbeit als Schriftsetzer zuzuschreiben, bei der Präzision und ein Auge fürs Detail das A und O waren.
Ich saß da, trank Dads Bier und sammelte die Kraft, um etwas aufzutauen oder in die Mikrowelle zu stellen. Während ich Sachen aus dem Gefrierschrank holte, gönnte ich mir ein zweites Bier. Da ich mich in dieser Küche nicht auskannte, musste ich mehrere Schubladen öffnen, um Sets, Besteck und Servietten zu finden.
Als alles fast fertig war, ging ich ins Wohnzimmer. Die Hand schon auf dem Geländer, um nach oben zu gehen, blieb ich kurz stehen und sah mich in dem Zimmer um. Da war die karierte Couch, die meine Eltern vor zwanzig Jahren aus dem Haus in Albany mitgebracht hatten, der Fernsehsessel, von dem aus mein Vater in seinen Sony guckte. Der ramponierte Couchtisch, den sie zusammen mit der Couch gekauft hatten.
Die Möbel waren schon reichlich angejährt, aber was technische Geräte anging, war mein Vater auf dem neuesten Stand. Da war zunächst einmal der Fernseher selbst: Ein 36-Zoll-Flachbildschirm mit HD, den er sich vor einem Jahr gekauft hatte, um Football und Hockey anzuschauen. Er liebte Sport, auch wenn er sich allein damit vergnügen musste. Dann gab es noch einen DVD-Spieler und eins dieser Dinger, mit denen man Filme aus dem Internet abrufen kann.
Er sah sie sich allein an.
Das Wohnzimmer war ein Wohnzimmer wie Millionen andere. Normal. Nichts Außergewöhnliches.
Am oberen Ende der Treppe sah das ganz anders aus.
Meine Eltern hatten getan, was sie konnten, damit die Obsession meines Bruders nicht über seine eigenen vier Wände hinausdrang, doch es war ein aussichtsloser Kampf. Der Flur, den Mom vor Jahren gelb gestrichen hatte, war von oben bis unten zugeklebt, es gab kaum einen freien Quadratzentimeter. Auf dem oberen Treppenabsatz stehend, betrachtete ich diesen Flur, von dem die Türen zu den drei Schlafzimmern und dem Bad abgingen, und überlegte, wie ein unterirdischer Kartenraum im Zweiten Weltkrieg wohl ausgesehen haben mochte. Bestimmt waren auch dort die Wände vollgehängt mit überdimensionalen Karten von Feindgebieten und überall Militärstrategen, die, ihre Zeigestäbe schwingend, ihre Invasionspläne schmiedeten. Doch ein derartiges Durcheinander von Karten hätte in so einer Kommandozentrale garantiert nicht geherrscht. Da waren die Deutschlandkarten bestimmt alle an einer Wand aufgehängt, die Städte fein säuberlich dort, wo sie hingehörten, während Frankreich wahrscheinlich an einer anderen Wand hing und Italien an einer weiteren.
Wohl kein Kriegsstratege, der sein Geld wert war, hätte eine Polenkarte neben eine von Hawaii geklebt. Oder zugelassen, dass ein Stadtplan von Paris in eine Übersichtskarte der Autobahntankstellen in Kansas hineinragte. Eine topographische Karte von Algerien neben Satellitenaufnahmen von Melbourne gehängt oder eine zerfledderte National-Geographic-Karte von Indien neben eine Karte von Rio de Janeiro direkt in die Wand getackert wurde.
Gegen diesen Wandbehang, diesen verrückten Landkarten-Quilt auf dem Flur im ersten Stock, hatte nicht das kleinste Stück Wand eine Chance. Es sah aus, als hätte jemand die Welt in einen Mixer gekippt und zu einer Tapete verrührt.
Rote Leuchtstiftmarkierungen zogen sich von einer Karte zur anderen und stellten geheimnisvolle, anscheinend willkürliche Verbindungen her. Überall waren Anmerkungen hingekritzelt. Quer über eine Portugalkarte war, ohne ersichtlichen Grund, »380 Kilometer« geschrieben. Breiten- und Längengrade waren wahllos den ganzen Flur entlang an die Wände geschmiert worden. Manche Orte waren mit Fotos geschmückt. Der Ausdruck eines Fotos der Oper von Sydney war mit einem kleinen Stück grünem Malerkrepp auf eine Australienkarte, ein ausgefranstes Foto des Tadsch Mahal mit einem Klumpen Kaugummi auf eine Indienkarte geklebt.
Wie war es meinem Vater gelungen, sich mit diesem Zustand abzufinden, als meine Mutter nicht mehr lebte? Sie war immer ein Puffer gewesen, hatte ihren Mann aus dem Haus geschickt, in eine Sportbar, damit er sich dort mit Lenny Prentice oder sonst jemandem von der Arbeit ein Spiel ansah. Oder mit Harry Peyton. Wie hat er es angestellt, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat diesen Flur entlangzugehen und so zu tun, als wäre an den Wänden nichts als das zarte Gelb, in dem er sie vor langer, langer Zeit mit seiner Frau gestrichen hatte?
Ich ging zur Tür des ersten Schlafzimmers, die wie üblich geschlossen war. Schon hatte ich die Hand zum Anklopfen erhoben. Doch ehe meine Knöchel das Holz berührten, ließ mich etwas aufhorchen.
Auf der anderen Seite der Tür hörte ich jemanden reden. Es klang wie ein Gespräch. Allerdings hörte ich nur eine Stimme, und was gesprochen wurde, konnte ich nicht verstehen.
Ich klopfte.
»Ja?«, sagte Thomas.
Ich öffnete die Tür. Vielleicht war er ja am Telefon. Aber er hatte keinen Hörer in der Hand. Ich sagte ihm, es sei Zeit fürs Abendessen, und er erwiderte, er käme gleich runter.