Achtundsechzig
Wo ist er?«, herrschte Lewis mich an. »Wo zum Teufel ist er?«
»Weg«, sagte ich.
Howard tauchte auf. Er starrte auf den leeren Stuhl voller Klebebandfetzen. Es war, als würde jetzt auch das letzte bisschen Farbe aus seinem Gesicht entweichen. »Lieber Gott.« Dann sah er Lewis wütend an. »Du hast ihn entwischen lassen.«
Lewis stürzte durch die Seitentür hinaus, zweifellos in der Hoffnung, Thomas sei gerade erst entkommen und er könne ihn vielleicht noch einholen und zurückschleppen. Thomas war erst ein paar Sekunden weg, maximal eine halbe Minute, aber wenn er in vollem Tempo losgesprintet war, dann hatte er natürlich mehr als nur eine Nasenlänge Vorsprung.
Hoffentlich hatte Thomas verstanden, dass er die Polizei holen sollte, obwohl ich es ihm nicht ausdrücklich gesagt hatte. Ich hatte nur von Hilfe gesprochen. Ich war davon ausgegangen, dass er wusste, was damit gemeint war, doch kaum war er zur Tür hinaus, bereute ich, keine konkreteren Anweisungen gegeben zu haben.
Im Augenblick war er meine einzige Hoffnung.
»Wie ist er – wie zum Teufel konnte er sich befreien?«, fragte Howard.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, er ist sehr talentiert«, sagte ich, möglicherweise mit einem Anflug von Überheblichkeit. »Vielleicht holt er Vachon. Vielleicht haben seine Leute da draußen auf ihn gewartet. Bin gespannt, was sie tun werden, wenn er ihnen erzählt, was Sie –«
Howard verlor die Beherrschung. Er holte weit aus und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht, mit einer Kraft, die ich dem Kugelzwerg gar nicht zugetraut hätte.
»Sparen Sie sich den Scheiß!«, fuhr er mich an.
Meine Wange brannte, mein Hirn ratterte.
Der Vorhang wurde zur Seite gerissen. Es war Morris. »Verdammt, was ist passiert?«
»Einer ist entkommen«, sagte Howard. »Der mit dem Atlas im Kopf.«
»Atlas?« Es gab noch vieles, was Morris nicht wusste.
»Lewis sucht ihn gerade. Ich flehe zu Gott, dass er ihn findet.«
»Du kannst so nicht weitermachen«, sagte Morris. »Es ist vorbei. Du hast es nicht mehr im Griff. Du hast dich nicht mehr im Griff. Schon seit Monaten nicht mehr.« Er zog sein Handy heraus und hielt es ihm hin. »Du hast meine Pistole genommen, aber das hier hast du vergessen. Ich habe Heather den Rest der Nacht freigegeben. Genauer gesagt, ich habe ihr die nächsten Tage freigegeben. Ihr gesagt, sie soll wegfahren. Ich wollte kein Risiko eingehen. Sie ist weg. Ich glaube, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, Howard. Dass du Heather bedroht hast. Eine völlig unschuldige Person. Du schreckst vor gar nichts mehr zurück.«
Howard sah ihn an. Zweifellos versuchte er die Tragweite von Morris’ Bemerkung abzuschätzen.
»Was hast du ihr sonst noch gesagt?«
»Ich habe ihr gesagt, dass ihr mich nach Hause bringt. Du und Lewis.«
»Das heißt also, wenn dir was passiert, dann weiß sie Bescheid.«
Morris nickte. Seine Stimme war merkwürdig ruhig. »Lass diesen Mann gehen. Und du und Lewis tätet gut daran, euch zu stellen. Entweder das, oder ihr seht zu, dass ihr bis Mittag mit neuen Pässen in einem Flugzeug nach Bolivien sitzt. Du kennst die besten Anwälte in der Stadt, Howard. Such dir einen für dich und einen für Lewis. Dann läuft die Uhr. Jeder sieht zu, dass er für sich das meiste herausholt, indem er den anderen hinhängt. Niemand weiß besser als wir, wie dieses Spiel gespielt wird. Das ist mehr oder weniger das, was ich selbst auch tun werde. Howard, lass diesen Mann gehen.«
Ich arbeitete schon daran. Seit Thomas weg war, hatte ich an meinen Handfesseln gezerrt. Hatte mit den Fingerspitzen an den Rändern gezupft, um sie wenigsten ein bisschen zu lockern.
»Schön wär’s, wenn es so einfach wäre, Morris«, sagte Howard.
Lewis kam zurück. Außer Atem. »Keine Spur von ihm«, keuchte er.
»Morris sagt, wir sollen uns Anwälte besorgen«, sagte Howard.
»Was?«
»Er spielt nicht mit.«
Lewis lächelte höhnisch. »Morris, ich dachte, wir hätten eine Abmachung. Was ist mit –«
»Heather ist weg«, sagte Morris. »Und ich gehe jetzt auch. Keine Sorge. Ich nehme mir ein Taxi.«
Morris schob den Vorhang zur Seite und ging zur Ladentür. Lewis folgte ihm mit gezückter Pistole. »Morris«, rief er.
Ich hörte dasselbe kurze Sirren wie vorhin, als Lewis auf Nicole geschossen hatte. Dann etwas Schweres, das zu Boden fiel.
Howard sah nicht nach. Zog den Vorhang nicht zur Seite. Er wusste, was geschehen sein musste. Lewis kam zurück, ging an Howard vorbei direkt auf mich zu und stellte sich rechts neben mich.
»Wo würde Ihr Bruder hingehen?«, fragte er mich. »Hat er genug Verstand, zur Polizei zu gehen, oder wird er sich nur irgendwo verstecken?«
Ich konnte auch Letzteres nicht ganz ausschließen. »Keine Ahnung«, sagte ich. »An Ihrer Stelle würde ich vom Schlimmsten ausgehen.«
Wie Howard vorhin hatte jetzt offensichtlich auch Lewis das Bedürfnis, Dampf abzulassen. Also verpasste auch er mir eine. Allerdings keine Ohrfeige, sondern einen Schlag mit der Pistole. Mein rechtes Ohr explodierte vor Schmerz, und das linke berührte fast meine Schulter. Ich schrie auf, und sekundenlang drehte sich alles.
In diesem Moment fehlender Orientierung bildete ich mir ein, Nicoles Arm habe sich bewegt und fast unmerklich einen kleinen Spielzeugmüllwagen berührt. Er war bei ihrem Aufprall aus dem Regal gefallen und auf den Rädern gelandet, und jetzt sah es aus, als sei er ein paar Millimeter nach vorne gerollt. Aber da sich in den Sekunden nach dem Schlag so ziemlich alles um mich herum bewegte, glaubte ich an eine Sinnestäuschung.
»Von einem müssen wir auf jeden Fall ausgehen. Viel Zeit haben wir nicht«, sagte Lewis.
»Toll«, sagte Howard. »Einfach toll. Die Polizei kann jeden Moment hier sein, und wir müssen drei Leichen verschwinden lassen.«
Ich war zwar noch nicht tot, ging aber meinerseits davon aus, es könne nicht mehr lange dauern. Und fing wieder an, meine Handgelenke zu drehen.
»Dafür haben wir keine Zeit mehr«, sagte Lewis. »Wir müssen einfach nur weg.«
»Und wohin, verdammt noch mal?«
»Ich kenne Leute«, sagte Lewis. »Ich kenne jemand, der uns verstecken kann, bis wir die nötigen Papiere beisammen haben.«
»Mein Gott, du hast das Ganze von Anfang an vermasselt«, sagte Howard. »Schon, als du gesagt hast, dass wir die Fitch aus dem Verkehr ziehen müssten. Dann hast du sie angeheuert«, er zeigte auf Nicole, »und dann hast du auch noch diesen Halbverrückten entkommen lassen.«
»Ich kann auch allein gehen«, sagte Lewis, der um mich herum ging und jetzt zwischen mir und Nicole stand. »Wenn dir das lieber ist.«
»Herrgottnochmal.« Kopfschüttelnd gab Howard sich geschlagen. »Lass uns das hier zu Ende bringen und verschwinden.«
Ich drehte und drehte. Ich hatte mir überlegt, dass ich mich, wenn ich meine Hände frei bekam, mitsamt dem Stuhl auf Lewis stürzen und ihn an der Gurgel packen könnte. Oder sonst irgendwo. Denn er hatte die Pistole in der Hand, und ich wusste, er hatte die Absicht, sie in den nächsten Sekunden gegen mich zum Einsatz zu bringen.
Aber so weit war ich noch nicht.
»Na dann«, sagte Lewis und winkelte den Arm an, so dass die Pistole auf meinen Kopf zielte.
Dann schrie er unvermittelt vor Schmerz auf. Brüllte wie am Spieß.
Ich folgte seinem Blick auf die Ursache seines Schmerzes.
Es war zwar kein Spieß, aber immerhin ein Eispick, der seinen Unterschenkel durchbohrt hatte.