Achtunddreißig
Ich war erschüttert über Len Prentice’ Einstellung und über das, was er gesagt hatte.
Dass er Thomas als Verrückten bezeichnet hatte, der in die Klapse gehörte, hatte mich zwar in Rage versetzt, was mir aber viel mehr zu schaffen machte, war, dass Thomas versucht haben soll, unseren Vater die Treppe hinunterzustoßen. War es wirklich so schlimm, wie es sich anhörte? War es wirklich passiert? Dad hatte mir gegenüber nie etwas erwähnt, aber das hieß nicht, dass nichts dergleichen vorgefallen war. Es war nicht seine Art, seine Familie mit seinen Problemen zu belasten. Als er vor zehn Jahren einen Knoten in einem Hoden spürte, sagte er meiner Mutter kein Wort. Er ging zum Arzt und ließ das untersuchen. Als der Befund kam, zeigte sich, dass kein Grund zur Sorge bestand, und der Knoten bildete sich von selbst zurück. Erst geraume Zeit später, als es Mom nicht gutging und sie sich beim selben Arzt untersuchen ließ, erkundigte sich dieser, wie es Adam in der Zwischenzeit ergangen war.
Mom machte Dad die Hölle heiß. Sie erzählte mir alles, in der Hoffnung, ich würde dasselbe tun. Ich tat es nicht. So war Dad eben, und ich wusste, in diesem Punkt würde er sich nicht ändern. Was für Schwierigkeiten er auch immer mit Thomas gehabt haben mochte, seit er allein mit ihm lebte, er hatte kein Wort darüber verloren. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, ich hätte mich verpflichtet gefühlt, ihm meine Hilfe anzubieten, wenn er den Mund aufgemacht hätte – und ich hoffte im Nachhinein, ich hätte es getan –, doch genau das hätte er nicht gewollt. Er fühlte sich für Thomas verantwortlich, mit mir hatte das nichts zu tun. Ich solle mein eigenes Leben führen, hätte er argumentiert.
Aber offensichtlich hatte er das Bedürfnis gehabt, sich jemandem anzuvertrauen. Jemandem, der sich nicht bemüßigt gefühlt hätte, etwas zu unternehmen, ihm aktiv unter die Arme zu greifen. Len hatte ein offenes Ohr für die häuslichen Sorgen meines Vaters gehabt, auch wenn er in meinen Augen alles andere war als offen im Sinne von aufgeschlossen. Soweit ich das beurteilen konnte, war er ein einfältiges, engstirniges Arschloch.
Ich wollte hören, was Thomas dazu zu sagen hatte. Aber war mein Bruder ein vertrauenswürdiger Zeuge seiner eigenen Handlungen?
Auf dem Heimweg überwältigte mich das Gefühl, in einen Strudel geraten zu sein. Ich war nach Promise Falls gekommen, um mich um den Nachlass meines Vaters zu kümmern, meinen Bruder irgendwo unter- und das Haus an den Mann zu bringen. Mit nichts davon war ich irgendwie weitergekommen. Ständig gab es etwas, das mich ablenkte. Sonderbare, beunruhigende Worte auf Dads Computer. Thomas’ Fixierung auf dieses verdammte Gesicht am Fenster. Ein Zusammenstoß zwischen Thomas und Len Prentice, und anscheinend auch zwischen Thomas und unserem Vater.
Noch etwas spukte mir im Hinterkopf herum. Die Sache mit dem Rasentraktor. Der Schlüssel in der AUS-Position. Das hochgeklappte Mähwerk, das darauf hindeutete, dass Dad seine Arbeit beendet hatte. Aber sie war nicht beendet, warum also hatte er das Mähwerk angehoben?
Ich fragte mich, ob ihn vielleicht jemand unterbrochen hatte. War es möglich, dass jemand zu ihm hinuntergekommen war, um mit ihm zu reden? Bei laufendem Motor war eine Unterhaltung so gut wie unmöglich, Dad hätte den Traktor also ausgeschaltet. Und wenn er davon ausgegangen wäre, dass es ein längeres Gespräch werden würde, dann hätte er auch das Mähwerk hochgeklappt.
Hatte es sich so abgespielt? War jemand zum Plaudern vorbeigekommen? Es war nicht der ideale Ort für eine Unterhaltung. Er war sogar eher gefährlich, weil der Hang so steil war. Um zu verhindern, dass der Traktor aus dem Gleichgewicht geriet, musste mein Vater sich ständig zum Hang hin lehnen. Da genügte es vielleicht schon, sich gerade hinzusetzen, und das verdammte Ding kippte um.
Was ja letztendlich auch geschehen war.
Aber wenn der Traktor auf ihn gefallen war und ihn erdrückt hatte, als er gar nicht mehr fuhr, und wenn mein Vater stehen geblieben war und den Motor ausgemacht hatte, weil jemand mit ihm reden wollte, wer zum Teufel konnte das gewesen sein? Und warum hatte dieser Jemand nicht gleich Hilfe geholt?
Thomas hatte schließlich den Notruf gewählt, als er Dad gefunden hatte. Doch da war dieser schon tot, eingeklemmt unter dem Rasenmäher.
Es sei denn …
Es sei denn, Thomas wäre derjenige gewesen, für den Dad stehen geblieben war. Um mit ihm zu reden. Wenn das Ganze in eine hitzige Debatte ausgeartet war, hätte ein Schubs gereicht, um Dad mitsamt dem Traktor umzuwerfen.
Nein.
Das war undenkbar. Meine Gedanken liefen schon wieder Amok, schlimmer noch als unlängst, als ich das Wort Kinderprostitution im Textfeld der Suchmaschine auf Dads Computer gefunden hatte. Sie schweiften in Regionen ab, in denen sie nichts zu suchen hatten.
Das ist der Stress, redete ich mir ein. Ich hatte meinen Vater verloren, stand plötzlich mit der Verantwortung für Thomas da – das alles ging mir an die Substanz.
Ich hatte mir bisher nicht einmal Zeit zum Trauern genommen. Wann auch? Seit meiner Ankunft im Haus meines Vaters war es rundgegangen. Die Beerdigung musste organisiert, Termine mit Harry Peyton abgestimmt werden. Ich musste mich um Thomas kümmern, ihn zu Dr. Grigorin bringen.
Jetzt erst wurde mir klar, wie hilflos ich ohne Dad war, ohne seinen Rat, seine ruhige Hand.
»Du fehlst mir.« Ich merkte, dass ich es laut gesagt hatte. »Ich brauche dich.«
Ich fuhr an den Straßenrand und hielt an. Eine Weile saß ich nur da, den Kopf auf das Lenkrad gestützt.
Ich hatte kein einziges Mal geweint, seit ich den Anruf von der Polizei in Promise Falls erhalten hatte. Jetzt musste ich mit aller Kraft dagegenhalten, damit sich nicht sämtliche Schleusen öffneten. Vielleicht war ich meinem Vater ähnlicher, als ich gedacht hatte. Ich fraß die Dinge in mich hinein, machte alles mit mir allein aus.
Ich hatte meinen Vater geliebt. Und ohne ihn fühlte ich mich verloren.
Ich zog mein Handy heraus. Sekunden später sagte jemand: »Standard. Julie McGill am Apparat.«
»Magst du nicht vielleicht zum Abendessen zu uns kommen?«
»Spreche ich mit George Clooney?«
»Ja.«
»Ich komme.«
Gleich beim Betreten der Küche sah ich das Thunfisch-Sandwich auf meiner Seite des Tisches. Es lag auf einem Teller, daneben eine gefaltete Serviette und eine offene Bierflasche, die sich schon ziemlich warm anfühlte.
»Du kriegst die Tür nicht zu«, sagte ich zu mir selbst. »Er hat mir tatsächlich etwas zu essen gemacht.« Natürlich hatte ich ihn darum gebeten, mir aber keine großen Hoffnungen gemacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Ich klopfte und betrat Thomas’ Zimmer.
»Danke, dass du mir ein Sandwich gemacht hast.«
»Kein Problem«, sagte er mit dem Rücken zu mir.
»Wo bist du?«
»In London.«
»Wie ist es?«
»Alt«, sagte Thomas.
»Hast du schon gegessen? Ich hoffe, du hast nicht auf mich gewartet.«
»Ich habe gegessen. Und ich habe meinen Teller, mein Glas und die Schüssel, in der ich den Thunfisch mit der Mayonnaise gemischt habe, in die Spülmaschine gestellt.«
»Danke, Kumpel. Wir haben zum Abendessen einen Gast.«
»Wen?«
»Julie.«
»Alles klar.«
Ich setzte mich auf die Kante seines Bettes, das im rechten Winkel zu seinem Schreibtisch stand. Thomas ließ seinen Bildschirm nicht aus den Augen.
»Sagen wir, du kommst gerade aus der Oper in Covent Garden. Du stehst auf der Bow Street und willst zum Trafalgar Square. Gehst du rechts, Richtung The Strand, oder links, hinauf Richtung –«
»Thomas, hör auf. Ich muss mit dir reden.«
»Sag einfach, was du glaubst. Welche Richtung?«
»Links.«
»Falsch. Rechts wärst du schneller. Du gehst bis ganz hinunter zu The Strand, dann rechts und dann immer geradeaus.« Er drehte sich um und sah mich an. »So kommst du direkt hin.«
»Kannst du mal einen Moment zuhören?«
Thomas nickte.
»Ich muss dich etwas fragen. Wegen Dad.«
»Was denn?«
»Also: An dem Tag, als Dad starb, bist du da zu ihm rausgegangen, um mit ihm zu reden, während er hinten am Hang Rasen gemäht hat?«
Thomas legte den Kopf schief. »Ich wollte zu ihm. Ich hab ihn gesucht.«
»Aber du hast nicht mit ihm gesprochen? Auch nicht, um ihm zu sagen, dass jemand angerufen hat? Irgendwas, weshalb er den Motor ausgeschaltet und das Mähwerk hochgeklappt hätte?«
»Nein. Ich war nur draußen, als ich Hunger bekam.«
»Und da lag er unter dem Traktor.«
Thomas nickte.
»Ihr beide seid ganz gut miteinander ausgekommen. Meistens zumindest, oder?«
»Manchmal war er böse auf mich«, sagte Thomas. »Aber das hast du mich doch schon alles gefragt.«
»Hast du – ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne dass es wie ein Vorwurf klingt.«
»Was denn?«, fragte Thomas unbekümmert.
»Wolltest du Dad die Treppe hinunterstoßen?«
»Hat er’s dir erzählt?«
War es besser, ihn in dem Glauben zu lassen, ich hätte es von unserem Vater erfahren, oder sollte ich zugeben, dass ich es von Len Prentice hatte?
Ich wich aus. »Stimmt es?«
Thomas nickte. »Ja. Irgendwie schon.«
»Was ist denn passiert? Wann war das?«
»Vor einem Monat vielleicht.«
»Erzähl.«
»Er wollte über etwas reden, das schon vor langer Zeit passiert ist«, sagte Thomas und blickte wieder auf die Straßen Londons auf seinem Bildschirm.
»Was war das? Etwas, das ihm zugestoßen war?«
»Nein. Mir.«
»Dir? Was ist dir denn zugestoßen?«
»Ich darf nicht darüber reden. Dad hat’s mir verboten.« Er schwieg einen Augenblick. »Damals. Er sagte, ich darf es niemandem sagen, sonst wird er ganz schrecklich böse.«
»Um Himmels willen, Thomas! Wovon redest du? Wann war denn das?«
»Als ich dreizehn war.«
»Dad hat dir etwas getan, als du dreizehn warst, und dir gesagt, dass du es niemandem sagen darfst?«
Mein Bruder zögerte. »Nicht … nein, nicht ganz.«
»Thomas, hör zu. Was auch passiert ist, es ist lange her, und Dad ist nicht mehr da. Wenn es etwas gibt, das du mir sagen willst, dann kannst du das jetzt tun.«
»Es gibt nichts, was ich dir sagen will. Präsident Clinton sagt, ich darf nicht darüber reden. Sonst stehe ich wie ein Schwächling da. Und ich bin gerade auf dem Weg zum Trafalgar Square.«
»In Ordnung, Thomas. Aber können wir noch mal auf das zurückkommen, was vor einem Monat geschehen ist. Worum ging’s da?«
»Dad wollte, dass ich über das rede, was mir passiert ist, als ich dreizehn war.«
»Habt ihr in der Zwischenzeit mal darüber gesprochen?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber auf einmal, so mir nichts, dir nichts, will Dad wieder darüber reden?« Ich wollte verstehen, wovon Thomas da eigentlich sprach. Was in aller Welt war vor zweiundzwanzig Jahren geschehen?
»Ja.«
»Warum?«
»Er hat gesagt, er hat vielleicht etwas getan, was nicht richtig war, und dass es ihm leidtut. Ich bin nach oben gegangen, und er hinter mir her, und er hat gesagt, er will mit mir darüber reden, aber ich wollte nicht. Ich hab mich jahrelang wirklich bemüht, nicht daran zu denken, und es ist mir sehr schwergefallen. Also bin ich stehen geblieben und hab mich umgedreht und gesagt, ich will nicht darüber reden und wenn er es nicht hören wollte, als ich dreizehn war, warum will er es dann jetzt hören, und ich hab die Hand ausgestreckt, damit er nicht mit mir hochkommt, und ich hab gar nicht fest geschubst, aber er ist gestolpert und ein bisschen gefallen.«
»Ein bisschen gefallen?«
Thomas nickte.
»Könntest du das bitte erklären?«
»Wir standen auf der vierten Stufe von unten, also ist er nicht tief gefallen. Er ist flach auf dem Rücken gelandet.«
»Mensch, Thomas. Und was hast du dann getan?«
»Ich hab gesagt, es tut mir leid, und ich hab ihm auf- und in seinen Sessel geholfen und ihm einen von seinen Eisbeuteln geholt. Ich war traurig, dass er hingefallen ist.«
»Ist er ins Krankenhaus gefahren? Oder zum Arzt?«
»Nein. Er hat ein paar extrastarke Schmerztabletten genommen.«
»Er muss schrecklich wütend auf dich gewesen sein.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat gesagt, es ist nicht so schlimm. Er hat gesagt, dass er mich versteht und dass ich ein Recht habe, sauer auf ihn zu sein, und dass er damit leben muss, wenn ich ihm nicht verzeihe. Und dann haben die Tabletten langsam gewirkt, und es ging ihm wieder besser, aber erst nach einer Woche hat es gar nicht mehr weh getan.«
Len muss bemerkt haben, dass mein Vater Schmerzen hatte, und ihn gefragt haben, was los sei. Vielleicht hat mein Vater es ihm erzählt, das Ganze aber heruntergespielt. Len hatte gesagt, Dad habe nach Entschuldigungen für Thomas gesucht, und das passte zu der Version, die mein Bruder mir erzählt hatte.
Aber was hatte meinem Vater leidgetan? Und warum wollte Thomas nicht darüber reden? Was konnte Dad getan haben, von dem er glaubte, Thomas würde es ihm vielleicht nicht verzeihen?
»Dr. Grigorin meint, es gibt da irgendwas, irgendeinen Vorfall, über den du nicht reden willst. Geht es darum? Das, weswegen Dad dich um Verzeihung gebeten hat?«
Thomas nickte, ohne zu überlegen.
»Du musst es mir erzählen«, beschwor ich ihn. »Ich muss es wissen.«
»Nein, musst du nicht. Es spielt keine Rolle. Er wird’s nicht wieder tun.«
»Dad? Dad wird’s nicht wieder tun?«
Thomas schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, ob das ein Nein war, oder ob er mich nur loswerden wollte. »Dad hätte mir geglaubt, wenn du zum Fenster hochgesehen hättest«, sagte er. Doch als ich ihn bat, mir das zu erklären, drehte er sich weg.
Beim Abendessen bemerkte ich, dass Julie wenig begeistert in ihren Fischstäbchen herumstocherte, dem Pinot Grigio in ihrem Marmeladeglas dafür jedoch umso eifriger zusprach.
»Tut mir leid« sagte ich. »Als ich letztens einkaufen war, habe ich hauptsächlich Sachen mitgenommen, die nicht viel Arbeit machen.«
»Nein, schmeckt toll«, sagte Julie. »Du musst mir das Rezept geben.«
Thomas sagte: »Man nimmt einfach die Packung aus der Gefriertruhe, legt die Fischstäbchen auf ein Blech und schiebt es in den Ofen. Und dann tut man einen Tropfen Sauce Tartare aus dem Glas drauf. Stimmt doch, Ray, oder?«
»Ja, Thomas«, sagte ich. »Stimmt ziemlich genau.«
»Ich könnte das auch machen«, sagte er und nickte stolz. Anders als Julie hatte er seine Fischstäbchen hinuntergeschlungen, ebenso wie die Pommes, die auch aus der Tüte kamen.
»Schmeckt wirklich gut«, sagte Julie. Sie sah mich über den Tisch hinweg an und fügte hinzu: »Du bist irgendwie so still.«
»Mir geht nur ziemlich viel im Kopf rum.«
»Dass du die Polizei anrufen musst, zum Beispiel?«, fragte Thomas.
»Was?«
»Du hast gesagt, du rufst die Polizei in New York an.«
»Bin noch nicht dazugekommen«, sagte ich. »Ich mach’s gleich morgen.«
Sollte Thomas Zweifel an der Aufrichtigkeit meiner Worte haben, ließ er sie sich jedenfalls nicht anmerken. Er stand auf, nahm seinen Teller mit, spülte ihn kurz ab und sagte, er ginge jetzt in sein Zimmer.
»Ich räum den Tisch ab«, erbot sich Julie.
»Lass alles stehen«, sagte ich. »Komm mit.« Wir nahmen unsere Marmeladegläser voll Wein mit ins Wohnzimmer und setzten uns auf die Couch.
»Du hast nicht vor, die Polizei anzurufen, oder?«, fragte Julie. Ich hatte ihr bereits von meiner Fahrt nach New York, Thomas’ Anruf beim Vermieter und meinem Versprechen die Polizei in New York anzurufen, erzählt.
Ich schüttelte den Kopf.
Julie streifte die Schuhe ab und zog die Beine hoch auf die Couch. »Ich glaube, das versteh ich.«
»Du glaubst?«
»Ja. Ich meine, es wäre schwierig zu erklären und genauso schwierig, jemanden zu finden, der sich das anhört. Ein verschwommener weißer Kopf an einem Fenster. Was soll das denn sein? Ich mag Thomas sehr, wirklich, aber nach dem, was du mir über den Besuch vom FBI erzählt hast, ist es bestimmt nicht verkehrt, vorläufig kein Aufsehen zu erregen.« Sie trank den restlichen Wein in ihrem Glas aus. »Mehr?«
Sie hüpfte von der Couch, öffnete eine weitere Flasche und brachte sie mit. Dann schenkte sie uns beiden nach.
»Heute Nachmittag, als du mich angerufen hast, da klang deine Stimme irgendwie … Du hast dich, ich weiß nicht, ein bisschen zittrig angehört.«
Ich ließ den Wein einige Sekunden im Mund kreisen, bevor ich ihn hinunterschluckte, und antwortete. »War wahrscheinlich ein Moment des Selbstmitleids. Ich hatte gerade an meinen Vater gedacht, an Thomas. Das hat mich alles irgendwie fertiggemacht. Hör mal, ich will dich jetzt nicht auch noch mit diesem ganzen Scheiß belasten.«
»Schon in Ordnung.« Ein paar Sekunden sagte keiner von uns ein Wort, dann begann Julie: »Ich weiß noch, wie du in der Schule ständig gezeichnet hast. Manchmal hab ich dich gesehen, im Flur auf dem Boden, um dich herum an die hundert Kinder, die kreischten und rumalberten und ihre Spindtüren zuschlugen. Aber du hast einfach dagesessen, an deinen Spind gelehnt, und irgendwas in dein Heft gemalt. Ich hab immer rumgeguckt, wollte wissen, was um mich herum los war, aber du hast das überhaupt nicht wahrgenommen, du warst völlig in deiner eigenen Welt versunken.«
»Ja«, sagte ich. »Wahrscheinlich.«
»Ich glaube, du und Thomas, ihr seid euch ähnlicher, als du vielleicht denkst. Er lebt in seiner eigenen Welt, aber dich kann ich mir auch vorstellen, wie du in Burlington ganz allein in deinem Studio sitzt, nur mit deiner Spritzpistole, deinem Stift oder deinem CAD-Programm, und einem Bild, das du im Kopf hast, in die Freiheit verhilfst.« Sie schenkte sich nach. »Ich glaube, mir steigt da langsam was in den Kopf.«
Auch ich spürte die Wirkung des Weins, aber nicht genug, um meine Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. »Ich muss immer dran denken, wie Dad gestorben ist. Die Zündung ausgeschaltet, das Mähwerk –«
Julie legte mir einen Finger auf die Lippen. »Pst«, sagte sie. »Was hast du zu Thomas gesagt? Lass gut sein. Lass auch du mal gut sein, zumindest eine Weile.«
Julie stellte unsere Gläser auf den Couchtisch und schmiegte sich an mich. Ich legte die Arme um sie und küsste sie. Das ging eine Weile so, dann sagte Julie: »Wir sind nicht mehr in der Highschool. Wir müssen nicht auf der Couch bleiben.«
»Auf nach oben.«
»Ich dachte eher an meine Wohnung«, sagte sie, eine deutliche Anspielung auf Thomas, dessen ständiges Klicken von oben zu hören war.
»Er kommt nicht aus seinem Zimmer. Irgendwann um Mitternacht oder noch später geht er ins Bad, putzt sich die Zähne und macht sich bettfertig. Vorher lässt er sich garantiert nicht blicken.«
Also schlichen wir uns nach oben. Ich lotste Julie in das Schlafzimmer am Ende des Flurs, zu dem breiten Bett, in dem mein Vater seit dem Tod meiner Mutter geschlafen hatte, allein – soweit ich wusste.
»Ist das nicht das Zimmer deines Vaters?«, fragte Julie.
»Da schlafe ich jetzt. Willst du lieber wieder ins Auto gehen, wie beim letzten Mal?«
Sie sah mich an. »Nein, geht schon.«
Kaum hatte ich die Tür geschlossen, da fing Julie schon an, mir das Hemd aufzuknöpfen. Ich schob meine Hände unter ihren Pulli und spürte ihre warme Haut. Mund an Mund bewegten wir uns zum Bett hin. Julie schubste mich, und ich fiel hintenüber. Sie setzte sich auf mich und machte sich an meinem Gürtel zu schaffen.
»Ich kenne da ein paar wunderbare Entspannungsübungen«, sagte sie und glitt von mir herunter, um mir die Jeans und die Boxershorts auszuziehen. Sie ließ sie auf den Boden fallen, setzte sich wieder auf mich, kreuzte ihre Arme und hatte sich mit einer einzigen flinken Bewegung das Oberteil abgestreift. Ein violetter Spitzen-BH kam zum Vorschein. Sie schüttelte ihr Haar aus.
»Violett?«, sagte ich. »Ist das derselbe –«
»Ich bitte dich. Damals war ich ein dürres kleines Schulmädchen mit gerade mal fünfzig Kilo.«
»War ja nur ’ne Frage.«
Ein Griff nach hinten, die Arme nach Frauenart so verdreht, dass man Angst haben muss, die Ellbogen springen ihnen jeden Moment aus den Gelenken, und schon hatte sie den BH aufgehakt und ihn dorthin geworfen, wo meine Jeans schon lagen.
»Komm«, sagte ich. Sie beugte sich zu mir, und ihre Brustwarzen streiften ganz leicht über meine Brust.
»Ray!«
Julie fuhr in die Höhe. »Herrgott«, stieß sie leise hervor.
Mein Herz pochte wie ein Schmiedehammer. »Scheiße«, flüsterte ich.
Ich hörte, wie Thomas’ Tür aufging. »Ray! Komm schnell her! Ray?« So hatte er noch nie nach mir gerufen.
Ich wollte schon zurückrufen, bremste mich aber noch rechtzeitig ein. Er hier im Zimmer? Was für ein Anblick! Julie oben und ich gänzlich ohne.
»Wo bist du?«, rief er. Ich hörte, wie die Tür des Gästezimmers geöffnet wurde. »Ray? Bist du in Dads Zimmer?«
Julie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Tu was«, flüsterte sie.
»Thomas! Sekunde, Thomas, ich –«
Die Tür flog auf. Mein Bruder stürzte herein. Julie warf sich zur Seite, riss zur Bedeckung ihrer Blöße die Decke mit sich, wodurch sie mich in meiner ganzen Mannespracht zur Schau stellte. Thomas nahm gar keine Notiz von ihr.
»Ray!«, schrie er. »Er ist weg!«
»Himmelherrgott, Thomas, ist dir vielleicht –«
»Er ist weg! Der Kopf ist weg.«
»Was?« Ich schwang mich aus dem Bett und griff nach meinen Shorts. »Wovon redest du?«
»Das musst du dir ansehen!« Er rannte zurück in sein Zimmer.
Ich folgte ihm, nur mit meiner Unterhose bekleidet. Julie, die sich, ohne Zeit mit dem BH zu verschwenden, eilig den Pulli wieder übergezogen hatte, kam hinter mir her.
Schon als ich das Zimmer meines Bruders betrat, sah ich, dass er auf allen drei Bildschirmen das Fenster in der Orchard Street herangezoomt hatte. Es sah jedenfalls so aus wie dieses Fenster, nur dass diesmal im Rahmen nichts zu sehen war. Das Innere war schwarz. Der Tütenkopf war weg.
»Was ist das denn?«, fragte ich.
Thomas stand mit ausgestrecktem Finger da. »Wo ist er hin? Was ist damit passiert?«
»Sie haben … das muss … die müssen ein Update gemacht haben«, stammelte ich. »Neue Aufnahmen von der Straße.«
»Nein!«, sagte er. »Alles andere ist genau wie vorher. Dieselben Leute auf der Straße. Dieselben Autos! Alles ist wie vorher, nur der Kopf ist nicht mehr da!«
Ich ließ mich auf Thomas’ Stuhl fallen und starrte auf den Bildschirm. »Kranker Scheiß«, sagte ich.
Thomas gab mir ein Blatt Papier, das auf dem Tisch gelegen hatte. Ein Ausdruck des Originalfotos. Wie der, mit dem er mich nach New York geschickt hatte. »Es ist genau gleich, siehst du?«
Ich betrachtete den Ausdruck. »Es ist wirklich dasselbe, Thomas, absolut gleich.«
Julie schlich sich vorsichtig näher, nahm mir den Zettel aus der Hand und betrachtete ihn, ohne etwas zu sagen.
»Warum, Ray?«, fragte Thomas. »Warum ist er weg? Warum ist er ausgerechnet jetzt verschwunden, nachdem du in der Stadt warst, um dir das anzusehen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mir das selbst nicht erklären. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte jemand dieses Bild bearbeitet und den Kopf verschwinden lassen. Nach meinem Besuch. Nachdem ich dort geklopft und ein paar Worte mit der Nachbarin gewechselt hatte.
Mich fröstelte. Und nicht nur, weil ich so gut wie nackt war.
Julie berührte meinen Bruder leicht am Arm. »Also, Thomas, weißt du was? Jetzt fang noch mal ganz von vorne an. Erzähl mir genau, was du gesehen hast, und was es deiner Meinung nach zu bedeuten hat.«