Einundzwanzig

Am nächsten Morgen war alles, als wenn nichts geschehen wäre.

Thomas kam zum Frühstück herunter wie an jedem anderen Tag. Ich hatte noch immer ein schlechtes Gewissen wegen dem, was ich nach dem Besuch der FBI-Agenten getan hatte, aber Thomas tat, was er auch sonst tat: Er blieb in seinem Zimmer und bereiste die Welt.

So vieles an ihm war mir ein Rätsel. Wie gern hätte ich gewusst, was in seinem Kopf vorging. Schon als wir noch Kinder waren, war er für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Er lebte in einer Blase, die es mir unmöglich machte, zu ihm durchzudringen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich hatte mich immer gefragt, warum er und nicht ich? Warum war er derjenige, der von dieser psychischen Störung – wie hieß das noch? – affiziert war, und nicht ich? War das gerecht? Hat Gott auf meine Eltern heruntergeschaut und gedacht: »Ich geb ihnen einen mit einem gesunden Kopf auf den Schultern, und mit dem anderen – mit dem amüsier ich mich ein bisschen.«

An Theorien darüber, warum Thomas schizophren war, gab es keinen Mangel. Als wir Kinder waren, musste elterliche – oder genauer gesagt: mütterliche – Vernachlässigung als Erklärung herhalten, was bei unserer Mutter auf äußerst geringe Resonanz stieß. Sie war nämlich eine geduldige, liebevolle Frau, die mit ihrer Fürsorge und Zuwendung die Auswirkungen einer seelischen Störung eher gemildert als verschlimmert hätte. Im Lauf der Zeit folgte eine Theorie der nächsten. Es war genetisch. Umweltbedingt. Ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn. Stress. Ein Kindheitstrauma. Konservierte Lebensmittel. Eine Kombination aller Faktoren.

Oder vielleicht etwas völlig anderes.

Der langen Rede kurzer Sinn: Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung. Ich konnte ebenso wenig erklären, warum Thomas war, wie er war, wie ich erklären konnte, warum ich war, wie ich war. Thomas war zwar in manchem ein wenig eingeschränkt, gleichzeitig aber unglaublich begabt. Seine Fähigkeit, sich an alles zu erinnern, was er einmal auf Whirl360 gesehen hat, überstieg mein Fassungsvermögen. Auf meine Frage, ob er ohne diese sogenannte Begabung glücklicher wäre, kam sofort die Retourkutsche: Wäre ich glücklicher ohne meine künstlerische Begabung? Was ich für seinen Fluch hielt, darin sah er sein Talent. Das unterschied ihn von anderen. Das erfüllte ihn mit Stolz. Seine Manie war die Quelle seiner Freude. Und wenn man es recht bedachte, galt das nicht für alle begabten Menschen?

Ich wusste es nicht.

Was ich wusste, war, dass meine Eltern alles taten, um Thomas zu helfen, und dass sie ihn bedingungslos liebten. Sie brachten ihn zu den verschiedensten Ärzten und Spezialisten. Sie sprachen mit all seinen Lehrern. Sie waren in ständiger Sorge um ihn. Ich als der ältere Bruder wurde oft mit einbezogen. Einmal – ich glaube, damals war ich fünfzehn – war Thomas stundenlang unauffindbar. Er fuhr oft mit dem Fahrrad kreuz und quer durch Promise Falls, kartographierte alles minutiös. Wenn er heimkam, war sein Notizbuch voller Straßenpläne, sogar Stoppschilder und Hydranten waren detailgetreu eingezeichnet.

An dem bewussten Tag war Thomas zum Abendessen nicht nach Hause gekommen. Das sah ihm gar nicht ähnlich.

»Geh und schau, ob du ihn findest«, sagte Mom.

Ich schwang mich auf mein eigenes Rad und fuhr in die Innenstadt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dort würde ich ihn finden. Das komplizierte Gewirr der Straßen und Gassen im Zentrum war für jemanden mit Thomas’ Interessen von größtem Unterhaltungswert. Ich fand ihn nicht.

Aber ich fand sein Fahrrad.

Es stand halb versteckt in einer Seitengasse der Saratoga Street, zwischen einem Herrenfriseur und der Promise Falls Bakery, die die besten Zitronentörtchen des Universums machte. Ich dachte, Thomas sei vielleicht hineingegangen, um sich eines zu kaufen, doch die Verkäuferin hatte ihn nicht gesehen.

Ich lief die ganze Straße ab, fragte in jedem Büro, in jedem Laden nach, ob jemand meinen Bruder gesehen hatte. Vor einem Schuhgeschäft überwand ich schließlich meine Angst aufzufallen und rief ganz laut: »Thomas!«

Als ich zu der Stelle zurückkam, an der ich sein Fahrrad gefunden hatte, war es verschwunden.

Wütend radelte ich nach Hause, wo ich zehn Minuten nach ihm ankam. An diesem Abend war Thomas besonders schlecht drauf. Während des Essens sagte er kein einziges Wort. Aber später hörte ich ihn im Keller mit unserem Vater streiten, oder, genauer gesagt, ich hörte meinen Vater mit ihm schimpfen. Ich nahm an, er bekam einen Rüffel, weil er so spät nach Hause gekommen war. Doch als ich ihn später danach fragte, sagte er, da sei nichts gewesen.

Was er an diesem Tag getrieben hatte, kam nie wieder zur Sprache.


Ich saß am Küchentisch, dachte über alles Mögliche nach und sah Thomas zu, wie er seine Frühstücksflocken aß. »Weißt du was«, sagte ich. »Statt Abendessen machen habe ich eine andere Aufgabe für dich.«

Er sah von seiner Schale auf. »Was denn?« Er klang beunruhigt.

»Das Haus. Hier muss sauber gemacht werden.«

Er ließ seinen Blick durch die Küche und das Wohnzimmer schweifen, so weit er es von hier aus sehen konnte. »Sieht doch alles ganz ordentlich aus.«

»Staubsaugen ist auch fällig. Hier wird jede Menge Dreck hereingetragen. Ich putze die Bäder, du saugst Staub.«

»Dad hat immer sauber gemacht«, sagte er. Ich sagte nichts. »Er hat’s halt immer gemacht«, fuhr Thomas fort. »Ich hab den Staubsauger noch nie benutzt.«

»Stimmst du mir zu, dass das Haus geputzt werden muss?«, fragte ich ihn.

Er zögert mit der Antwort. »Schon«, sagte er schließlich.

»Und wenn Dad nicht mehr da ist, was meinst du, wie wir dieses Problem lösen sollen? Jetzt wohnen wir beide hier, im Moment zumindest, und ich möchte, dass du dich an der Problemlösung beteiligst.«

Er überlegte. »Aber jetzt könntest du das doch machen.«

»Ich erledige schon die Einkäufe. Und bis jetzt habe immer ich mich ums Essen gekümmert. Und war beim Anwalt. Und, Thomas, ich hab auch noch einen Beruf. Ich muss entweder auf einen Sprung nach Burlington –«

Er war drauf und dran, es zu sagen, doch ich hob warnend den Zeigefinger, und er ließ es sein.

»Ich muss entweder auf einen Sprung nach Burlington, oder ich muss von hier arbeiten. Auf jeden Fall hab ich zu tun.«

»Ich auch« sagte er.

»Das stimmt. Ich dachte, wenn ich meine Arbeitszeit drangeben muss, um alles Mögliche zu erledigen, dann ist es nur gerecht, dass du das auch tust.«

Thomas sah sich nervös und ängstlich um. »Ich weiß gar nicht, wo der Staubsauger ist.«

Ich zeigte auf den Schrank neben der Hintertür. »Da drin ist er.«

»Wann wolltest du denn, dass ich das für dich tu?«, fragte er.

»Damit wir uns recht verstehen, Thomas. Du tust das nicht für mich. Hier geht’s um Hausarbeit. Die wird gemeinsam erledigt. Jeder trägt seinen Teil bei. Jeder tut das für den anderen und für sich selbst. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

»Ja. Ich glaube schon. Also, wann soll ich das tun?«

Ich hob die Hände. »Wir wär’s mit jetzt gleich? Wenn du’s hinter dich bringst, hast du den Rest des Tages frei. Mehr verlange ich heute nicht von dir.«

»Wie viele Zimmer muss ich saugen?«

»Alle.«

»Auch den Keller?«

»Na gut, der Keller muss nicht sein.«

»Und die Treppe?«

»Die schon.« Seine Schultern spürten bereits die Last der übertragenen Aufgabe und sackten herunter. »Hol den Staubsauger aus dem Schrank, ich zeig dir das Nötigste.«

Er schob seinen Stuhl zurück, schlurfte zum Schrank und zerrte das Gerät heraus, anmutig und routiniert wie ein Yak beim Schwingen eines Golfschlägers.

»Wie macht man den an?«, fragte er. »Das Kabel kommt gerade mal ein paar Zentimeter raus. Das reicht nicht bis zur Wand.«

»Steig auf den Fußschalter da – nein, den rechts daneben –, dann kannst du’s rausziehen. Zieh, bis es nicht mehr geht.« Ich stand auf. »Jetzt zeig ich dir ein paar Handgriffe.«

Ich gab ihm eine kurze Einweisung. Wie man den Staubsauger ein- und ausschaltete, wann die Elektrobürste zugeschaltet wurde und wozu die verschiedenen Aufsätze dienten. »Der ist für Teppiche«, sagte ich, »und der ist für glatte Böden.«

»Und für Fliesen?«, fragte er.

»Derselbe wie für glatte Böden. Schieb ihn einfach über den Boden. Da ist gar nichts dabei.«

Hätte mich jemand ins Cockpit des Space Shuttle gesetzt, hätte ich wahrscheinlich genauso dreingesehen wie Thomas jetzt. Auf mein Drängen drückte er auf den Schalter, und dröhnend erwachte der Staubsauger zum Leben. »Ich hab Post zu erledigen und anderen Kram«, brüllte ich. »Ich überlass dich jetzt deinem Schicksal.«

Ich war so überstürzt nach Promise Falls abgereist, dass ich mein Laptop nicht eingepackt hatte. Also benutzte ich die E-Mail-Funktion meines Handys und musste jede Nachricht, die aus mehr als ein paar Worten bestand, mühsam über die Handy-Tastatur eingeben. Außerdem waren ein paar Rechnungen zu bezahlen, was ich ebenfalls online tun konnte.

Dad hatte ein Laptop. Es war schon sein zweites. »Das hier ist leichter und schneller«, hatte er mir vor ein paar Monaten geschrieben. Er hatte angefangen, Zeitungen online zu lesen, kaufte aber trotzdem jeden Tag die Druckausgabe, angeblich wegen des örtlichen Anzeigenteils, doch eigentlich ging es ihm um das Ritual des sich ins Auto Setzens und in die Stadt Fahrens, um dort eine im Laden zu kaufen. Das war sein tägliches Morgenabenteuer. Er kaufte sich auch stets einen Kaffee, und war dennoch rechtzeitig wieder zu Hause, um Thomas sein Frühstück zu machen.

Das Laptop stand in der Küche. Ich nahm es mit hinaus auf die Veranda. Dort hatte ich auch Internetempfang, konnte aber dem Staubsaugerlärm entfliehen. Auf dem Weg hinaus, bekam ich einen Eindruck von Thomas’ Arbeitsmethode. Mit gebeugtem Rücken, als sei er tatsächlich auf der Pirsch nach dem Staub, den er zu saugen hatte, wanderte er auf und ab. Allem Anschein nach glaubte er, die Elektrobürste müsse ein paar Sekunden auf jedem Stück Teppich verharren, um ihre Arbeit zu tun. Bei diesem Tempo würde er es nicht vor Mittag bis nach oben in sein Zimmer schaffen.

Ich setzte mich in einen der Korbsessel, klappte den Computer auf und drückte auf den Schalter. Ein Pullover wäre hier draußen nicht schlecht gewesen, doch um jetzt noch mal aufzustehen, hineinzugehen und einen zu suchen, dazu war es wieder nicht kalt genug.

Ich gab das Passwort für mein E-Mail-Programm ein. Junk, ein paar Nachrichten von Jeremy Chandler, eine von einem Redakteur der Washington Post, voll des Lobes über meine letzte Illustration, die den Kongress als einen Sandkasten voller Kinder darstellte.

Von drinnen kam ein Geräusch, als hätte der Staubsauger gerade ein Eichhörnchen verschluckt. Offensichtlich hatte Thomas gerade die Teppichfransen erwischt. Er würde schon zurechtkommen.

Ich klickte die Website des Promise Fall Standard an. Ich fand zwar nicht direkt Julies E-Mail-Adresse, aber unter »Kontakt« las ich, dass man jeden Mitarbeiter erreichen konnte, indem man den Anfangsbuchstaben seines Vornamens sowie den Nachnamen und dann @pfstandard.com eintippte.

Ich schrieb:


Danke fürs Bier und dass du dir Zeit zum Reden genommen hast. Hab mich gefreut, dich wiederzusehen. Wie gesagt, wenn du mal in der Nähe bist, komm doch rein und sag Thomas hallo.

Und klickte auf »Senden«.

Seit unserem Treffen im Grundy’s hatte ich immer wieder an sie gedacht, und ich hoffte, sie würde mich beim Wort nehmen und uns besuchen. Viel Zeit hatten wir zwar nicht gehabt, aber für mich genug, um festzustellen, dass ich mich gut mit ihr unterhalten konnte. Bei ihr musste man nicht um den heißen Brei herumreden. Und im Moment hatte ich kaum Gelegenheit, überhaupt mit jemandem zu sprechen. Mit Thomas konnte ich nicht reden. Er war ohnehin nur daran interessiert, so schnell wie möglich zu seinem Whirl360 zurückzukehren. Für ihn war es wichtiger, der CIA bei der Bewältigung einer nicht existierenden globalen Katastrophe zu helfen, als mit mir gemeinsam zu überlegen, wie es mit dem Haus und mit ihm weitergehen sollte.

Seufzend öffnete ich Safari. Ich wollte mir das Wohnheim ansehen, das nach Laura Grigorins Meinung eventuell für Thomas in Frage käme. Ich gab ein paar Stichwörter ins Suchfeld von Google ein.

Schon bei den ersten Buchstaben erschien eine Liste früherer Suchbegriffe auf dem Bildschirm. Es mussten die letzten sein, die mein Vater aufgerufen hatte, bevor er starb.

Die Liste war kurz. Sie bestand aus drei Wörtern:

Smartphones

Depression

Kinderprostitution

Ich konnte den Blick nicht davon losreißen. Hatte das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen werde sich gleich öffnen und mich verschlingen.

Die Tür ging auf. »Ich glaube, der Staubsauger ist kaputt«, sagte Thomas.