Zweiundsiebzig
Kommen Sie herein«, sagte ich.
Detective Duckworth und ich setzten uns ins Wohnzimmer. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie das erst verdauen müssen, was Sie in den letzten Tagen erlebt haben. Wie geht es Ihnen denn?«
»Geht schon. Es war … grauenhaft.«
»Ja, das ist wohl ein passendes Wort. Ich würde gern unser unterbrochenes Gespräch fortsetzen. Glauben Sie, Sie sind schon so weit?«
»Sicher«, sagte ich. »Mir kommt es vor, als liege das eine Ewigkeit zurück.« Ich rieb mir die Stirn. »Sie hatten mit meinem Vater gesprochen?«
»Genau.«
»Er hat sich an Sie gewandt?«
»Ja.«
»Was hat er gesagt?«
Duckworth setzte sich bequem hin und plazierte die Arme auf den Armlehnen. »Ihr Vater wollte über etwas mit mir sprechen, das Ihrem Bruder Thomas zugestoßen ist, als er noch ein Teenager war. Jahrelang hat er nicht geglaubt, dass das wirklich passiert ist, er hat Ihrem Bruder nicht geglaubt. Weil er, na ja, wie soll ich sagen …?«
»Mein Bruder ist nicht gerade das, was man einen glaubwürdigen Zeugen nennen würde.«
»Sie sagen es.«
»Weil er Stimmen hört, wo nichts zu hören ist, Verschwörungen sieht, wo nichts zu sehen.« Ich zögerte. Dann fügte ich hinzu: »Meistens jedenfalls.«
»Deshalb sträubte sich alles in Ihrem Vater, Ihren Bruder ernst zu nehmen, als der vor vielen Jahren zu ihm kam und von einem Übergriff erzählte. Ja, er weigerte sich rundweg, ihm zu glauben, weil Thomas einen Freund ihres Vaters bezichtigte. Er warf Ihrem Bruder vor, sich das alles ausgedacht zu haben, und verbot ihm, das Thema jemals wieder anzuschneiden oder mit irgendwem darüber zu reden.«
»Ein Übergriff«, wiederholte ich. »Thomas hatte gerade angefangen, mir davon zu erzählen, bevor wir entführt wurden.«
»Ein sexueller Übergriff«, sagte Duckworth. »Zumindest ein versuchter. Eine versuchte Vergewaltigung.«
Ich spürte, wie Wut in mir hochkochte. »Wer war es? Was hat Thomas meinem Vater gesagt?«
Duckworth hob eine Hand. »Dazu komme ich noch. Ihr Vater hat mit dem Mann, diesem Freund gesprochen, und der war wie vor den Kopf geschlagen, entsetzt über die Anschuldigung. Er hat sie rundweg abgestritten, und Ihr Vater hat ihm geglaubt. Weil er Thomas nicht glauben konnte. Anscheinend hatte Ihr Bruder damals allerhand phantastische Geschichten auf Lager.«
»Immer schon.«
»Aber dann geschah etwas, was Ihren Vater eines Besseren belehrte.«
»Nämlich?«
Duckworth blickte sich um, sah den neuen Fernseher, den Blue-Ray-Spieler. »Ihr Vater hatte eine Schwäche für solches Hightech-Zeug, stimmt’s?«
»Ja, das stimmt. Er hatte schon immer viel übrig für so technische Spielereien. Viele Männer in seinem Alter können mit den ganzen elektronischen Neuheiten nichts mehr anfangen, aber er fand sie toll. Mit dem Fernseher da hat er sich wahnsinnig gern Sport angesehen.«
»Ihr Vater wollte sich auch ein neues Handy kaufen«, sagte Duckworth.
Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. »Woher wissen Sie das?«
»Er hat’s mir erzählt. Damit hat das Ganze ja angefangen.«
Ich umklammerte die Armlehnen meines Sessels, als müsste ich mich für eine holprige Fahrt wappnen. »Weiter.«
»Ihr Vater wollte ein Handy, das alles Mögliche konnte. Telefonieren allein war ihm zu wenig. Ich hab auch so ein Wunderding, weiß aber nicht annähernd, was man damit alles anstellen kann. Ein Jahr habe ich gebraucht, um zu verstehen, wie man damit fotografiert. Aber genau dafür wollte Ihr Vater ein neues Handy, zum Fotografieren.«
Ich nickte. »Stimmt.«
»Er erzählte mir, er habe sich schon ein paar angesehen, aber was einem die Verkäufer so aufschwatzen wollen, dem traute er nicht so recht. Die wollen meistens nur das verkaufen, was am teuersten ist. Da erkundigt man sich lieber bei Freunden, was die so sagen. Mundpropaganda und so.«
»Klar.«
»Und einmal, als Ihr Vater mit einem seiner Freunde zusammensaß – und zwar mit genau dem, den Ihr Bruder vor Jahren beschuldigt hat –, da nahm er dessen Handy und sah es sich an. Nur so aus Interesse. Der Freund war gerade nicht im Zimmer, aber Ihr Vater hat sich nichts dabei gedacht. Dass sein Freund etwas dagegen haben könnte oder so. Er wollte sehen, wie die Kamera funktioniert, hat also diese, wie heißt das gleich wieder?, diese Kamera-App angetippt, und die ist dann auch prompt erschienen. Er hat noch einmal draufgetippt, und da wurden dann die Fotos angezeigt, die der Freund schon geschossen hatte.« Duckworth holte Atem.
»Was?«
»War nicht schön, was Ihr Vater da gesehen hat.«
Ich schluckte. »Was waren das für Fotos?«
»Von Jungs«, sagte Duckworth. »Fotos von sehr jungen Jugendlichen, aber keine netten Familienfotos, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jungen im Alter von vielleicht zehn, zwölf, dreizehn Jahren, in provozierenden Posen. Ihr Vater – er konnte sie kaum beschreiben, weil er sie so schrecklich fand.«
»Und das waren Fotos, die sein Freund gemacht hat?«
Duckworth nickte. »Anscheinend war der gerade von einer Reise zurückgekommen. Aus einem Land, wo jemand mit solchen Vorlieben genau das findet, was er sucht. Und in diesem Moment, als er diese Fotos sah, da wusste Ihr Vater plötzlich, dass Ihr Bruder damals die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte sich das nicht ausgedacht. Ein Mann, der solche Fotos macht, der konnte sich gut und gerne auch an Ihrem Bruder vergriffen haben.«
»Wer?«, fragte ich. Aber eigentlich kannte ich die Antwort schon.
Duckworth hob wieder die Hand. »Lassen Sie mich fertig erzählen. Als der Freund Ihres Vaters zurückkam, konfrontierte er ihn damit. Sagte, jetzt sei ihm klargeworden, dass Thomas damals die Wahrheit gesagt hatte.«
»Und was sagte der Mann darauf?«
»Der stritt das natürlich kategorisch ab. Wies alle Anschuldigungen weit von sich.«
»Was hat mein Vater dann getan?« Eins wusste ich bereits: Er hatte auf seinem Laptop über Kinderprostitution recherchiert.
»Ich nehme an, erst hat er eine Weile gegrübelt. Dann rief er mich an. Er sagte, es drehe ihm das Herz im Leib um, er hätte Ihren Bruder um Verzeihung gebeten, sie hätten sich fürchterlich gestritten. Er wollte wissen, ob der Mann nach so vielen Jahren noch belangt werden könne wegen dem, was er Thomas angetan hat. Ich habe ihm gesagt, das sei sehr unwahrscheinlich. Eben, weil es so lange zurückliegt. Und weil Ihr Bruder diese Probleme hat. Es würde sehr schwierig werden, eine Verurteilung zu erreichen.«
»Und die Fotos auf dem Handy?«
»Sein Freund hat die bestimmt sofort gelöscht, nachdem Ihr Vater gegangen war. Da machte er sich keine Illusionen, er wollte von mir nur wissen, ob man den Mann hier in den Staaten deswegen belangen könnte. Wegen Sex mit Minderjährigen im Ausland.«
»Thailand«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Ich glaube, wir sprechen hier von Thailand. Ich weiß, das ist nicht das einzige Land auf der Welt, wo so was gang und gäbe ist – ich bin mir sogar verdammt sicher, dass es bei uns nicht viel besser aussieht –, aber einer von Dads Freunden war vor kurzem in Thailand.«
»Ich habe Ihre Frage, wer dieser Freund ist, nicht beantwortet«, sagte Duckworth. »Ich weiß es nämlich nicht. Ihr Vater hat es mir nicht gesagt, weil er sich noch nicht entschieden hatte, was er unternehmen wollte.« Er seufzte. »Und dann hatte er diesen Unfall. Und starb.«
»Ja«, sagte ich. »Dann hatte er diesen Unfall.«