Acht

Jetzt, wo das Navigationssystem seinen Reiz verloren hatte, war es auch um seinen Gleichmut geschehen, und Thomas verlangte, dass wir umdrehten und nach Hause fuhren. Doch ich ließ mich nicht breitschlagen und erinnerte ihn daran, dass er einen Termin habe, und den müssten wir einhalten.

Er schmollte.


Als Thomas zu Dr. Grigorin ins Sprechzimmer ging, setzte ich mich ins Wartezimmer, wo außer mir nur ein einziger Patient saß, eine sehr dünne Frau, Ende zwanzig, mit langem blondem Zottelhaar, das sie sich die ganze Zeit um den Zeigefinger wickelte. Ihr ganzes Interesse galt einem Punkt an der Wand, als hocke dort eine Spinne, die nur sie sehen konnte.

Ich sah auf die Uhr, rechnete mir aus, dass ich noch ein bisschen Zeit hatte, und trat hinaus auf den Flur. Ich zog mein Handy heraus, schlug online im Telefonbuch nach. Die Nummer wurde angezeigt, und ich tippte sie ein.

»Promise Falls Standard«, sagte eine weibliche Tonbandstimme. »Wenn Ihnen die Durchwahl bekannt ist, geben Sie diese bitte jetzt ein. Wenn Sie durch unser Telefonbuch geführt werden wollen, drücken Sie bitte die Zwei.«

Ich kämpfte mich durch die Prozedur, bis schließlich ein richtiges Telefon klingelte.

»Julie McGill.«

»Hi, Julie, hier ist Ray Kilbride.«

»Ah, hallo, Ray. Wie geht’s denn?«

»So einigermaßen. Hör mal, stör ich dich gerade?«

»Kein Problem, ich erwarte nur gerade einen anderen Anruf«, sagte Julie. Sie sprach sehr schnell. »Ich dachte schon, es wäre der Direktor unserer Highschool. Ich bemühe mich gerade, etwas Näheres über eine kleine Explosion im Chemiesaal zu erfahren.«

»Mensch.«

»Niemand ist zu Schaden gekommen. Hätte aber leicht passieren können. Was kann ich für dich tun?«

»Ich wollte mich vor allem bei dir bedanken, dass du zur Beerdigung gekommen bist. Das war wirklich lieb von dir.«

»Keine Ursache«, sagte sie.

»Und dann wollte ich fragen, ob du vielleicht mal Zeit für einen Kaffee hast. Ich würde dir gern ein paar Fragen stellen. Es geht um meinen Vater. Du hast schließlich den Artikel über ihn geschrieben.«

»War nur was Kurzes. Nicht viel mehr als eine Zusammenfassung. Mit Einzelheiten kann ich eigentlich nicht dienen.«

An ihrer Stimme hörte ich, dass sie es eilig hatte, weil jeden Moment der andere Anruf kommen konnte. Ich wollte schon sagen, sie solle das Ganze vergessen, und mich entschuldigen, dass ich sie aufgehalten habe, da sagte sie: »Aber trotzdem. Komm doch so um vier vorbei, dann gehen wir auf ein Bier. Wir treffen uns vor der Redaktion.«

»Ja … also ja, das wäre –«

»Muss Schluss machen.« Sie legte auf.

Gerade als die Ärztin und Thomas aus dem Sprechzimmer kamen, kehrte ich ins Wartezimmer zurück. »Machen Sie sich nicht so rar«, sagte Dr. Grigorin gerade zu Thomas. »Sie müssen mich öfter besuchen. Es ist gut, wenn wir in Verbindung bleiben.«

Thomas zeigte auf mich. »Sie werden also mit ihm reden.«

»Das werde ich.«

»Sagen Sie ihm, dass er aufhören soll, mir Vorschriften zu machen.«

»Mach ich.«

Dr. Grigorin – es stellte sich heraus, dass ihr Vorname Laura war – hatte feuerrotes Haar, das ihr auf die Schultern gefallen wäre, hätte sie es nicht zu einem Dutt hochgesteckt. Ich schätzte sie auf etwas über eins sechzig, wobei sie mindestens acht Zentimeter davon ihren Absätzen zu verdanken hatte. Sie war eine aparte Frau Anfang sechzig und trug anstelle des üblichen Arztkittels eine rote Bluse und einen geradegeschnittenen Rock, der ihr bis knapp unter das Knie reichte.

»Mr. Kilbride«, sagte sie zu mir. »Kommen Sie doch herein.«

»Ray«, sagte ich. »Sagen Sie Ray zu mir.«

Sie forderte Thomas auf, sich inzwischen ins Wartezimmer zu setzen.

»Ich soll Ihnen etwas verschreiben«, sagte sie und lächelte. Mit einer Geste lud sie mich ein, Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich nicht hinter ihren Schreibtisch, sondern auf einen Stuhl mir gegenüber und schlug die Beine übereinander. Hübsche Beine übrigens.

»Damit ich meine Veranlagung, über andere zu bestimmen, in den Griff bekomme«, ergänzte ich.

»Genau.« Ich mochte ihr Lächeln. Zwischen ihren Schneidezähnen hatte sie eine winzige Lücke. »Was denken Sie, wie geht es Ihrem Bruder?«, fragte sie.

»Schwer zu sagen. Ich bin mir sicher, dass der Tod unseres Vaters ihn nicht kaltgelassen haben kann, aber er zeigt kein Gefühl.«

»Er macht zwar völlig dicht, aber ich sehe, dass er verstört ist«, sagte Dr. Grigorin.

»Nur bei Maria ist es mit ihm durchgegangen.«

»Wer ist Maria?« Ich erklärte es ihr, und sie schüttelte belustigt den Kopf. »Es hat Ihrem Vater große Kopfschmerzen gemacht, dass Thomas so viel Zeit mit seinem Steckenpferd verbringt. Thomas hat gesagt, er mäßigt sich schon und hat sich sogar gestern Abend einen Film mit Ihnen angesehen.«

»Das stimmt aber nicht. Ich habe ihn heute nur mit Mühe und Not dazu gebracht, zu Ihnen zu kommen. Er wollte seine Arbeit nicht unterbrechen.«

»Hat er Ihnen erklärt, worin die besteht?«

»Ich wusste nicht, dass es da was zu erklären gibt«, sagte ich. »Er erkundet eben gern die Städte der Welt im Internet. Da ist er ganz wild drauf.« Ich schüttelte den Kopf und grinste. »Aber es stimmt, er hat gestern gesagt, ich dürfte erst dann erfahren, was es mit dieser Arbeit auf sich hat, wenn geklärt ist, dass ich kein Sicherheitsrisiko darstelle.«

Dr. Grigorin nickte. »Thomas hat mir erlaubt, Ihnen zu sagen, woran er arbeitet.«

Ich setzte mich etwas gerader hin. »Was soll das heißen: Woran er arbeitet?«

»Thomas glaubt, er arbeitet für die CIA, als Berater.«

»Wie bitte? Für wen? Für den amerikanischen Geheimdienst?«

»Genau.«

»Er arbeitet für die? Was macht er denn da – was glaubt er denn, was er da macht?«

»Das Ganze ist ziemlich kompliziert, und es passt auch nicht alles zusammen, ein bisschen wie bei Träumen, wo auch verschiedene Elemente aufeinanderprallen. Vor allen Dingen glaubt Thomas, dass ein verheerendes Ereignis droht, eine Art digitale elektronische Implosion oder Explosion, ich bin mir nicht sicher, was von beiden. Vielleicht ein globaler Computercrash oder möglicherweise sogar etwas, das von einer feindlichen Macht inszeniert wird – ein geniales Computervirus –, wodurch die Beschaffung von geheimdienstlichen Informationen empfindlich beeinträchtigt wird.«

»O Mann.«

»Wenn das geschieht«, fuhr sie fort, »werden als Erstes sämtliche online verfügbaren Landkarten verlorengehen. Sie werden von einer Sekunde auf die andere verschwinden. Simsalabim, weg. Das wird katastrophale Auswirkungen auf alle haben, die beim Geheimdienst auf diese Karten angewiesen sind. Denn sie haben schon lange Anweisung von höchster Stelle, Papierkosten einzusparen –« Sie muss bemerkt haben, wie meine Augenbrauen in die Höhe schossen, denn sie lächelte. »Papierkosten, wirklich. Jetzt machen die Budgetkürzungen nicht einmal mehr vor Wahnvorstellungen halt.« Sie sah ein bisschen verlegen drein, als hätte sie diesen Scherz besser sein lassen. »Worauf das Ganze jedenfalls hinausläuft, ist, dass die Regierung plötzlich ohne Landkarten aus Papier dasteht.«

Jetzt war ich nicht mehr geschockt, sondern fasziniert. Thomas’ Handeln ergab auf bizarre Weise einen Sinn.

»Und wenn das passiert«, fuhr Laura fort, »an wen, glauben Sie, wird die CIA sich wenden?«

»Lassen Sie mich raten.«

Sie nickte. »Thomas wird in der Lage sein, aus dem Gedächtnis die Pläne sämtlicher Großstädte der Welt zu zeichnen. Er hat sie alle hier drin.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Ihre Nägel waren rot lackiert.

»Aber warten Sie mal«, sagte ich. »Alte Karten wird es ja trotzdem noch geben. Auf Papier. In Bibliotheken, bei den Leuten zu Hause. Millionen von Schulatlanten, Himmelherrgottnochmal!«

»Jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit Logik«, tadelte Laura Grigorin mich. »In der Vorstellung Ihres Bruders wurden all diese Bestände bereits vor Eintreten dieses apokalyptischen Ereignisses vernichtet. Bibliotheken auf der ganzen Welt werden sie entsorgt haben und nur mehr digitales Kartenmaterial besitzen. Auch in den Privathaushalten haben die alten Landkarten ausgedient und sind zusammen mit den Zeitungen im Altpapier gelandet. Allerorten verlässt man sich auf den Computer. Das ist ja das Katastrophale daran. Es wird eine Welt ohne Landkarten sein, und der Einzige, der in der Lage sein wird, neue zu erstellen, wird Thomas sein. Und er wird nicht nur Landkarten wiedergeben, sondern auch wissen, wie jede einzelne Straße auf der Welt aussieht. Jede Ladenfront, jeder Vorgarten, jede Kreuzung.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Dann bereitet er sich also schon mal vor, falls dieses Ereignis eines Tages eintreten sollte.«

»Nicht falls«, sagte sie. »Es ist nur eine Frage der Zeit. Bis es so weit ist, prägt er sich so viele Städte ein, wie er nur kann. Deshalb verbringt er den ganzen Tag in seinem Zimmer und bereist die ganze Welt. Ich hatte mal einen Patienten – das ist schon mehrere Jahre her –, der bei einer Zeitung in Buffalo arbeitete. Jeden Abend, wenn er nach Hause ging, nahm er ein aktuelles Exemplar mit, weil er überzeugt war, dass das Verlagsgebäude irgendwann einmal abbrennen wird. Dann wäre er der Einzige, der ein komplettes Archiv dieser Zeitung besäße – zumindest für die Zeit, in der er dort gearbeitet hat.«

»Nicht zu fassen.«

»Sein ganzes Haus, jeder Flur, jedes Zimmer, jede verfügbare Oberfläche war mit Zeitungen vollgeräumt. Er musste sich durch Stapel von Zeitungen zwängen, wenn er sich im Haus bewegen wollte.«

»Klingt wie aus einer von diesen Sendungen über Messies«, meinte ich.

»Aber das Beste kommt noch«, sagte Laura. »Die Zeitung ist tatsächlich abgebrannt.«

Mir klappte die Kinnlade herunter. »Das ist ein Witz.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und den Benzinkanister, mit dem der Brand gelegt wurde, fand man im Haus des Patienten.«

Einen Augenblick blieb mir die Spucke weg, dann lachte ich und sagte: »Sie wollen doch nicht andeuten, dass Thomas ein Virus entwickeln wird, das alle Landkarten der Welt vernichtet? Damit wäre er dann wohl doch ein bisschen überfordert.«

»Ich habe Ihnen diese Geschichte nur erzählt, um Ihnen zu zeigen, dass die Zwangsvorstellung Ihres Bruders zwar ungewöhnlich, aber nicht einzigartig ist. Was differiert, sind die Details.«

»Mein Gott«, sagte ich. Mir war etwas eingefallen. »McLean.«

»Was?«

»Ist dort nicht die Zentrale der CIA? Thomas wollte sich vom Navigationssystem in meinem Auto die Route dorthin berechnen lassen, hat es sich dann aber anders überlegt. Vielleicht war ich da noch als Sicherheitsrisiko eingestuft.« Ich lachte. »Aber jetzt, wo er Ihnen erlaubt hat, mir das alles zu erzählen, bin ich wohl keines mehr.«

»Ihr Bruder vertraut Ihnen. Das ist ein Plus. Menschen mit Schizophrenie verlieren oft auch das Vertrauen in die, die ihnen am nächsten stehen. Sie haben Angst vor allen.« Sie holte Luft. »Ich wollte Ihnen gerade etwas über die Details erzählen.«

»Ich höre.«

»Thomas glaubt, dass die CIA in der Zwischenzeit, also noch vor Beginn dieser Massenvernichtung von geographischen Karten, aus anderen Gründen seine Hilfe in Anspruch nehmen könnte. Zum Beispiel könnte ein Agent in, keine Ahnung, Caracas oder so, in Gefahr geraten. Die Schurken haben ihn aufgespürt, er ist auf der Flucht und weiß nicht, wohin er soll. Die CIA ruft Thomas an und will eine Fluchtroute von ihm. Und schneller als sie das mit einem Computer schaffen würden, wäre er in der Lage, ihnen eine zu liefern.«

Ich fuhr mir mit der Hand von der Stirn über den Kopf in den Nacken. »Und es ist noch nicht mal ausgeschlossen, dass er das hinbekommen würde.«

»Thomas spricht ziemlich oft von Fluchtrouten, darüber, Menschen helfen zu können, die in der Falle sitzen, irgendwie in die Enge getrieben wurden.«

Ich schüttelte langsam den Kopf, versuchte zu denken, wie er dachte.

»Und möglicherweise würde die Regierung ihn auch in Katastrophenfällen zu Rate ziehen«, fuhr Laura Grigorin fort. »Egal, ob Naturkatastrophen oder andere. Denken Sie nur an die vielen Tornados, die wir in letzter Zeit hatten. Oder die Erdbeben in Neuseeland, in Haiti, den Tsunami in Japan. Ganze Dörfer, ja Städte, einfach weggefegt, wie vom Erdboden verschluckt. Oder, und da sei Gott vor, ein zweiter 11. September. Rettungsteams könnten Thomas anrufen und sagen, sie seien an dieser oder jener Ecke, und er könnte ihnen sagen, was dort ist, wonach sie Ausschau halten sollten.«

»Sonst noch was?«

Die Ärztin lächelte traurig. »Das wär’s im Großen und Ganzen.«

Ich legte die Hände auf die Knie. »Und was sagt uns das jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Wie ich höre, wird es nach dem Tod Ihres Vaters notwendig sein, eine andere Unterbringung für Thomas zu finden.«

Ich äußerte meine Bedenken, dass er allein im Haus wohnen bleiben könnte.

»Ihre Bedenken sind berechtigt«, bestätigte sie. »Er müsste in der Stadt wohnen, in einer Umgebung, wo man ihn im Auge behalten kann. Keine Überwachung, nur jemand, der auf ihn aufpasst. Ich könnte Ihnen da was empfehlen, das Sie sich vielleicht ansehen möchten.«

»Glauben Sie, er würde da hinziehen?«

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich glaube, wenn Sie ihn Schritt für Schritt darauf vorbereiten, würde er es tun. Er könnte seinen Computer behalten. Und auch seinem … Hobby könnte er weiter nachgehen. Aber ganz wichtig ist, dass er mehr aus dem Haus kommt. Machen Sie ein Picknick mit ihm. Gehen Sie mit ihm ins Kino. In den Supermarkt. In ein Einkaufszentrum. Je häufiger er aus seinem Zimmer rauskommt, desto weniger wird es ihm etwas ausmachen, desto leichter wird es sein, ihn an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Ich nehme nicht an, dass Sie in das Haus Ihres Vaters zurückziehen und Ihren Bruder rund um die Uhr betreuen wollen.«

»Ich will … ich möchte nicht, dass Sie denken, es ist mir egal, was aus ihm wird.«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber keineswegs. Ich bin mir nämlich gar nicht mal sicher, ob das das Beste für ihn wäre. Er muss selbständiger werden. Ihr Vater hat es gut gemeint, aber er hat zugelassen, dass Thomas völlig von ihm abhängig wurde. Er hat ihm alles abgenommen. In mancher Hinsicht hat er es Ihrem Bruder erst ermöglicht, seinen Zwang auszuleben. Zum Beispiel dadurch, dass er ihn von jeder Verantwortung entbunden hat.«

»Dad hat sich wahrscheinlich gedacht, es ist einfacher, alles selbst zu machen. Haben Sie den Eindruck, dass es Thomas schlechter geht? Nach dem Tod unseres Vaters?«

»Ich kann das so schlecht beurteilen. Ich habe ihn gefragt, ob er noch immer die Stimmen hört – die ja oft mit Schizophrenie einhergehen –, und er sagte, ja, manchmal. Er spricht mit dem früheren Präsidenten Bill Clinton, das ist sein Verbindungsmann zur CIA. Die Tabletten bewirken, dass Thomas die Stimmen als kaum mehr als ein Flüstern wahrnimmt, und ich will die Dosis nicht erhöhen. Er nimmt seine Tabletten doch täglich? Haben Sie gesehen, dass er sie nimmt? Olanzapin?«

»Ja.«

»Eine höhere Dosis würde ihn apathisch machen. Sie könnte auch Schwindel verursachen, Gewichtszunahme, Mundtrockenheit, alles Mögliche, was ihm nicht gefallen würde. Worauf es ankommt, ist, die richtige Balance zu finden. Mit Ihrer Unterstützung wird es uns auch in Zukunft gelingen, die Situation unter Kontrolle zu halten.«

»Gestern hat ihn ein läppischer Verkehrsunfall, auf den er in Boston gestoßen zu sein glaubte, in höchste Aufregung versetzt. Er wollte, dass ich was unternehme, einen unbekannten Autofahrer ausfindig mache, dem ein anderer, wahrscheinlich schon vor Monaten, beim Parken einen Scheinwerfer zerdeppert hat.«

»Sie müssen Geduld haben«, sagte Dr. Grigorin. »Man lässt sich so leicht entmutigen. Alles in allem glaube ich, dass der Zustand Ihres Bruders nicht besorgniserregend ist. Ja, er hat so seine Schwierigkeiten, und es gibt auch einige, über die er nicht mit mir reden will, aber –«

»Schwierigkeiten? Welche denn? Worüber will er nicht reden?«

»Tja, wenn er darüber reden würde, dann wüsste ich ja Bescheid«, sagte sie. »Ich weiß, da gibt es etwas in seiner Kindheit, das ihn sehr belastet, aber er schweigt sich darüber aus.«

Mir fiel die unselige Autofahrt ein, bei der Thomas sich den Kopf am Fenster blutig geschlagen hatte. Ich erzählte ihr diese Episode und fragte, ob sie davon gehört hätte.

»Ich weiß Bescheid«, sagte sie, also konnte es das nicht sein.

»Es ist wirklich ein Glück, dass Thomas so große Stücke auf Sie hält. Er hat mir mal Illustrationen von Ihnen gezeigt, die er aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte.«

»Das ist mir neu.«

»Ich glaube, er hat Sie immer um Ihr Talent beneidet, darum, dass Sie imstande sind, ein Bild, das Sie im Kopf haben, zu Papier zu bringen.«

»Nicht viel anders als er mit seinen Landkarten«, sagte ich.

»Sie haben ähnliche Begabungen, die sich jedoch auf verschiedene Art manifestieren.«

»Haben Sie auch mit meinem Vater gesprochen, wenn er Thomas herbrachte?«

»Ja.«

»Was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich weiß es nicht genau. Bei meinem Gespräch mit Harry Peyton, dem Anwalt, der sich um den Nachlass kümmert und auch mit meinem Vater befreundet war, kam mir in den Sinn, dass Dad möglicherweise depressiv war.«

»Ob er eine klinische Depression hatte, dazu kann ich nichts sagen«, meinte die Ärztin. »Er war nie mein Patient. Aber er wirkte … matt. Ich glaube, sich allein um Ihren Bruder kümmern zu müssen, war eine schwere Belastung für ihn.«

»Er hatte eine Unfallklausel in seiner Lebensversicherung«, sagte ich. »Mit der Prämie daraus und noch einigem anderen wäre Thomas eine Zeitlang versorgt.«

Dr. Grigorins grüne Augen durchbohrten mich mit ihrem Blick. »Wollen Sie irgendwas andeuten, Ray?«

Ich schüttelte nur den Kopf. »Keine Ahnung.« Ich winkte ab. »Schwamm drüber.«

»Und Sie?«, fragte sie mich. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ich?« Die Frage kam überraschend. »Ich kann nicht klagen.«

Unsere Zeit war um. Ich stand auf. »Ach ja«, sagte sie, »das hätte ich beinahe vergessen. Ich soll Ihnen etwas gegen Ihr herrisches Wesen geben.«

Sie griff in ihre Schreibtischschublade und holte einen milchigen Plastikbehälter heraus. Darin befanden sich überdimensionale Pillen in verschiedenen leuchtenden Farben.

»Was ist das?«, fragte ich, als sie sie mir in die Hand drückte.

»M&Ms.«